Wenn jemand wie der 92jährige Jürgen Becker einen neuen Gedichtband mit dem Titel Nachspielzeit vorlegt, werde ich neugierig. Man schlägt die »Gedichte und Sätze« auf und ist binnen weniger Minuten ein- und abgetaucht in diesen von jeden Ordnungen ungestörten Strom aus Schauen, Suchen, Erinnern, ein Kaleidoskop aus Assoziationen, Flashbacks und Déjà-vus von der Kindheit mit ihren einschneidenden Kriegserlebnissen bis hinein in die Gegenwart.
»Mit jedem Tag wächst eine Entfernung, kommt etwas näher,
ganz gleich, um was es geht beim Erinnern, beim Erwarten.
Zwischen Kindheit und Sterbebett so viele Jahrzehnte, daß
es dunkler wäre am Himmel, knipste man für jeden Augenblick,
der vergeht, einen Stern aus –«
Bisweilen entladen sich die Erinnerungen eruptiv:
»der Schulweg die Kampfbahn Kaserne Kastanien
sing mit hau ab fick dich ins Knie
Büchsenfleisch Rübenkraut Muckefuck Sondermischung
Gasschleuse Jungvolkheim Schilderhäuschen Laube
Briefmarken sammeln Heilkräuter Altmaterial
Kohlenklau Feind hört mit Kopf hoch Johannes«
Um dann wieder im Jetzt anzukommen:
»seit Tagen und Tagen undicht der Wasserhahn
hört plötzlich oh Wunder zu tropfen auf
stattdessen flackert die Leuchtstoffröhre
hat Arte zu einem Kanal gewechselt den
ich nicht finden kann«
Der Alltag will gemeistert werden; es ist beschwerlich, aber da sind eben auch die kleinen Erfolge
»ein bißchen mehr Salz dann sind die Bratkartoffeln perfekt«
Immer die Gabe, ja: die Selbstverpflichtung zum genauen Schauen
»Daß man sie nicht übersieht, die Einzelheiten,
auf die es ankommt.«
Wie etwa:
»Glocken lärmen nicht. Sie geben der Luft eine Stimme.«
Oder:
»Seit Tagen ist das Futterhäuschen leer, aber noch immer kommen die Vögel.«
Aber es gibt sie auch, diese
»Wahrnehmungen, die erfunden sind.«
Nachspielzeit ist zudem ein Trauerbuch um die verstorbene Frau, die Malerin und Illustratorin Rango Bohne, eine poetisch kondensierte Trauer, die mehr als ein halbes Jahrhundert Zusammenleben bündeln.
»Hier sind die zwei Hälften des Apfels.
Die eine liegt auf deinem Platz, die andere, wo ich sitze.
Ich warte und esse dann beide.
Oder:
»Und das Bild an der Wand sagt täglich, keine Wiederkehr mehr.«
Es gibt sie, jene »Sätze, die in sich haben einen ganzen Roman« und man könnte es als Motto für dieses Buch verwenden.
Er liest Traueranzeigen, aus denen hervorgeht, dass
»[…] je älter
man wird, desto häufiger bekommt man zu lesen, daß
die Vonunsgegangenen jünger als man selber sind.«
Genügsame Einsamkeit, die durch Telefonanrufe fast immer gestört wird. Reisen nur noch selten, unlustig zum Smalltalk, diesem »Hin und Her von Bisbald, Mansiehtsich, Vielleicht und Niewieder«.
Lieber »Später erzählen, was früher war.«
Besser noch, so der Leser, jetzt erzählen, denn
»Ruhe ist nicht
angesagt; unentschieden, wie es weitergeht, und auch die Nachspielzeit
hört einmal auf –«
So endet dieses Buch, aus dem man immer weiter zitieren möchte, das sich einen Alltag vornimmt, ohne in Alltagsbanalität zu versinken, das Erinnerungen evoziert, ohne zu verklären, das berührt und ergreift, ohne den Leser mit falscher Sentimentalität oder Selbstmitleid zu ködern.
Wahrlich, das Werk eines Dichters.