»Beim Ver­las­sen der Spra­che bit­te die Tür hin­ter sich schlie­ßen.«

Lek­tü­re­ein­drücke zu Bo­tho Strauß

In den letz­ten zehn Jah­ren, nach Her­kunft 2014, ei­ner ein­drucks­vol­len Be­schwö­rung und Ma­ni­fe­sta­ti­on der Kind­heit und Ado­les­zenz, ist es um Bo­tho Strauß zu­neh­mend ru­hi­ger ge­wor­den. Strauß be­trieb nach die­sem Er­folg ei­ne er­staun­li­che Selbst­frag­men­tie­rung sei­nes Werks. In gleich zwei Bü­chern stell­te er sei­ne Thea­ter­stücke, Ro­ma­ne und Es­says als Stein­bruch zur Ver­fü­gung. Zum ei­nen in der von Heinz Strunk her­aus­ge­ge­be­nen An­tho­lo­gie Der zu­rück in sein Haus ge­stopf­te Jä­ger und we­nig spä­ter bei der als »Ge­dan­ken­buch« apo­stro­phier­ten Text- und Gen­re­col­la­ge Al­lein mit al­len, her­aus­ge­ge­ben und kom­pi­liert von Se­ba­sti­an Klein­schmidt. Al­lein mit al­len ist in 17 the­ma­tisch sor­tier­ten Ka­pi­teln ge­glie­dert, die bei­spiels­wei­se »Vom Geist: Ver­ste­hen, Ge­stimmt­heit«, »Tech­nik, Me­di­en, Künst­lich­keit», »Von der Er­zie­hung« oder »Au­tor­schaft, Spra­che» über­schrie­ben sind. Hier wur­den nun ein­zel­ne Ab­sät­ze, Sze­nen, No­ta­te, Wahr­neh­mungs- und Ge­dan­ken­split­ter aus mehr als 30 Wer­ken des Au­tors er­gänzt um 87 da­mals neu­er, bis da­hin un­pu­bli­zier­ter Ein­trä­ge zu ei­nem neu­en Text­ge­bil­de zu­sam­men­ge­fügt. In bei­den Bü­chern wer­den im An­hang je­der ein­zel­ne Text­ein­trag dem ent­spre­chen­den Werk zu­ge­ord­net.

Botho Strauss: Allein mit allen

Bo­tho Strauss: Al­lein mit al­len

Im Nach­wort nennt Klein­schmidt das ent­stan­de­ne Buch ei­ne »poe­ti­sche En­zy­klo­pä­die Strauß­scher Wis­sens­kunst«, die als »Kunst des in­tui­ti­ven Ge­dan­ken­baus und der re­fle­xi­vem Un­mit­tel­bar­keit« ein­ge­ord­net wird. Tat­säch­lich er­schei­nen be­kann­te Zi­ta­te in ei­nem an­de­ren Zu­sam­men­hang ste­hend mit­un­ter treff­li­cher und schär­fer. Die Ent­ber­gung aus dem Kon­text des Ur­sprungs­tex­tes hin zu ei­ner neu­en Kon­tex­tua­li­sie­rung in ei­nen the­ma­ti­schen Be­reich er­ge­ben neue, teil­wei­se über­ra­schen­de Zu­sam­men­hän­ge.

Ein Jahr zu­vor be­reits hat­te Strauß mit Lich­ter des To­ren ei­nen hy­per­ven­ti­lie­rend-zeit­kri­ti­schen Es­say in Form von Ge­dan­ken­split­tern und Apho­ris­men ver­sucht, in dem er für den no­to­ri­schen Ein­zel­gän­ger und Di­gi­tal­ver­wei­ge­rer nicht nur ei­ne Lan­ze bricht, son­dern sich in ei­ne Form grim­mi­ger Un­ver­söhn­lich­keit der Ge­sell­schaft ge­gen­über ver­steigt, die er in ei­nem schnö­den Mit­mach­rausch sieht. Nicht we­ni­ge nah­men die­se bis­wei­len wü­ten­den Aus- und Ein­fäl­le als eli­tär wahr, at­te­stier­ten ein »prun­ken­des Den­ken« (Tho­mas Schmid) und tat­säch­lich ver­stör­te die­ses Buch mit sei­ner bis­wei­len mür­ri­schen Selbst­ge­wiss­heit.

Mi­nia­tur­pro­sa

Schon ein Jahr spä­ter, im ähn­lich no­tat­haft auf­ge­bau­ten Buch Der Fort­füh­rer, be­gann die Form des »im­mer ha­d­ri­ger und un­leid­li­cher« wer­den­den Un­zeit­ge­nos­sen, der »sein Leb­tag im Aus­weg­lo­sen un­ter­wegs« ist (Strauß-Zi­ta­te), zu Gun­sten ei­ner mehr spie­le­risch, aber zu­gleich gna­den­los prä­zi­sen, auf Schau­en, Ent­decken und Hor­chen da­her­kom­men­den Mi­nia­tur­pro­sa zu kon­zen­trie­ren. Strauß wur­de zum Ver­dich­ter, sei­nen Vor­bil­der Paul Va­lé­ry und, vor al­lem, dem ko­lum­bia­ni­schen Phi­lo­so­phen Ni­colás Gó­mez Dá­vila mit des­sen Scho­li­en-Kon­vo­lut, ähn­lich.

Botho Strauß: Saul

Bo­tho Strauß: Saul

2019 er­schie­nen na­he­zu zeit­gleich im Han­ser- und im Ro­wohlt-Ver­lag neue Bü­cher von Strauß. Noch ein­mal kehr­te er auf die Thea­ter­büh­ne zu­rück. Im Kö­nigs­dra­ma Saul wer­den die tra­gi­schen Am­bi­va­len­zen des bi­bli­schen Kö­nigs wi­der Wil­len in glas­kla­ren, dra­ma­tisch poin­tier­ten Dia­lo­gen pla­stisch er­zählt und kön­nen als Al­le­go­rie auf zeit­ge­nös­si­sche po­li­ti­sche Macht­struk­tu­ren wei­ter­ge­dacht wer­den. Die­ses Stück soll­te ei­gent­lich in je­dem Stadt­thea­ter auf­ge­führt wer­den.

In der Pro­sa zu oft um­sonst ge­lä­chelt prak­ti­zier­te Strauß ei­ne skiz­zie­ren­de Form des Er­zäh­lens. Den Rah­men bil­det ein fik­ti­ver al­ter Dich­ter, der im Mo­no­log mit ei­nem »jun­gen Freund« tritt. Die­se zu­meist knap­pen Sze­nen wer­den kur­siv ge­druckt. Den Kern bil­den dann die mehr als ein­hun­dert Ge­schich­ten, Mi­nia­tu­ren und Se­zie­run­gen mensch­li­chen Ver­hal­tens, Ent­deckun­gen von Zu­fäl­lig­kei­ten, die bis­wei­len le­bens­be­stim­mend wer­den, ins­be­son­de­re von Paa­ren, de­nen häu­fig ein Drit­ter, ei­ne Drit­te, bei­gestellt ist. Das führt zu ko­mi­schen, bis­wei­len bi­zar­ren Bil­dern. Et­wa ein al­tern­der Di­ri­gent, Ex-Mann ei­ner Sän­ge­rin, der im Frack im Zu­schau­er­raum ih­re Kon­zer­te be­sucht und nach der Vor­stel­lung, beim Zu­sam­men­sein, vom jet­zi­gen Lieb­ha­ber, eben­falls ein Di­ri­gent, er­klärt be­kommt, dass die Stim­me sei­ner Ge­lieb­ten auf dem Ab­stieg ist.

Botho Strauss: zu oft umsonst gelächelt

Bo­tho Strauss: zu oft um­sonst ge­lä­chelt

Un­er­reicht in der deut­schen Li­te­ra­tur ist Strauß, wenn er sei­nen Hang, skur­ri­les zu über­trei­ben oder my­tho­lo­gi­sche Re­fe­ren­zen für sei­ne Be­ob­ach­tun­gen un­ter­stüt­zend ein­zu­bau­en, zü­gelt, und statt­des­sen in we­ni­gen Sät­zen Le­bens­läu­fe skiz­ziert und er­zählt, wie ei­ne Si­tua­ti­on, ei­ne Ge­ste, ein Lä­cheln, ein Nicht-Lä­cheln, ei­ne Um­ar­mung (Strauß ist ein Um­ar­mungs-Fe­ti­schist) – kurz: Au­gen­blicke be­grenz­ter Dau­er ein gan­zes Le­ben be­stim­men oder, manch­mal, auch be­en­den wer­den, denn auch der un­aus­weich­li­che Tod dient dem Er­zäh­ler als An­ker für Re­mi­nis­zen­zen. Da wird von Le­bens­lü­gen er­zählt, die er­rich­tet oder zer­stört wer­den, et­wa wenn von »Le­bens­mü­den, die der Tod per­fi­de hin­hält« die Re­de ist oder ein Paar im »An­blick auf das ge­beug­te Paar, das sie ei­nes Ta­ges am En­de ih­rer We­ge sein wer­den« ih­re Zu­kunft auf­flackern sieht.

Rei­gen von Pe­ri­pe­ti­en

Es ist ein Rei­gen von Pe­ri­pe­ti­en; na­he­zu per­fek­te, klei­ne Dra­mo­let­te, die man sich oh­ne gro­ßen In­sze­nie­rungs­auf­wand gut auf ei­ner Büh­ne vor­stel­len kann. Le­bens­part­ner wer­den von Strauß ger­ne zu emo­tio­na­len Zu­fluch­ten (v)erklärt. Et­wa wenn von dem Mann er­zählt wird, der die Lie­be zu sei­ner Frau im All­tag un­ter­drückt und statt­des­sen im Ta­ge­buch nie­der­schreibt, da­mit sie nach sei­nem Tod da­von le­sen kann und dann das un­fass­ba­re ge­schieht: Die Frau ver­un­glückt und wird nie von die­ser Lie­be er­fah­ren. Oder das Le­ben ei­ner Se­kre­tä­rin auf knapp ei­ner Sei­te, ein Le­ben das nur »drei Wo­chen Aus­ge­las­sen­heit« und Ex­tra­va­ganz er­lebt hat. Ein Män­ner­chor ge­rät in ei­nen »ge­häs­si­gen Streit» und nun »psy­cho­lo­gi­sie­ren sie, daß es sei­ne Art hat.« Die Lie­be ei­nes Man­nes er­lahmt in dem Au­gen­blick, in dem die Frau nach­gibt. Die läng­ste zu­sam­men­hän­gen­de Ge­schich­te im Buch (es sind zehn Sei­ten) spielt in ei­nem Raum, in dem »an die elf Men­schen« über ei­nen so­eben an­ge­schau­ten Film rä­so­nie­ren, ihn prei­sen, als hät­te es vor­her nichts Eben­bür­ti­ges in der Film­ge­schich­te ge­ge­ben. Sie sind stän­dig auf der Su­che nach der rich­ti­gen Vo­ka­bel zu die­sem Film, »der al­les sagt, al­les ent­hält, wo­von wir auf der Grund­la­ge der un­zäh­li­gen Fil­me, die wir in un­se­rem Le­ben sa­hen, im­mer ge­träumt, im­mer ge­re­det ha­ben«, ir­gend­wie ge­recht zu wer­den. Als dann je­mand das Wort, den Zu­stand, die Cha­rak­te­ri­sie­rung fin­det und aus­spricht, fällt die Ge­mein­schaft so­fort zan­kend aus­ein­an­der. Man emp­fin­det es als »be­sitz­ergrei­fend», der so an­ge­neh­me Schwe­be­zu­stand des Un­ge­wis­sen ist durch Prä­zi­si­on zer­stört wor­den, es ist kein Ge­plau­der mehr mög­lich und der Ah­nungs­lo­se wird zum Pa­ria. Ein­mal ist die Re­de von ei­nem Mann, der »je­de Nu­an­ce« ei­ner Frau »er­mit­tel­te«. Auch Strauß ist (wie schon in sei­nen frü­hen Thea­ter­stücken) mit­un­ter ein sprü­hen­der Er­mitt­ler, ein De­duk­tio­nist, und nie­mand kann Blicke, und Ver­hal­tens­wei­sen der­art le­sen und poin­tie­ren. Und dann las­sen ei­nem die­se Sze­nen nicht mehr los, weil man ir­gend­wie auch et­was von sich sel­ber dar­in fin­det.

Botho Strauß: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern

Bo­tho Strauß: Die
Ex­pe­di­ti­on zu den Wäch­tern und Spreng­mei­stern

Im 2020 er­schie­ne­nen Band Die Ex­pe­di­ti­on zu den Wäch­tern und Spreng­mei­stern wur­den Es­says, Por­traits und zeit­ge­schicht­li­che Auf­sät­ze aus mehr als drei Jahr­zehn­ten ver­sam­melt. Schel­misch ver­wen­det er »Kri­ti­sche Pro­sa« als Un­ter­ti­tel. Die Tex­te sind in Ober­be­grif­fen wie »Li­te­ra­tur», »Thea­ter«, »Bil­der» und »Zeit­ge­sche­hen« sor­tiert; die Rei­hen­fol­ge ist auch in­ner­halb der je­wei­li­gen Ab­schnit­te nicht chro­no­lo­gisch. Li­te­ra­risch geht un­ter an­de­rem um Ru­dolf Bor­chardt, Os­wald Speng­ler, Kon­rad Weiss und Mar­tin Heid­eg­ger (hier fin­det Strauß zu sei­nem Ver­druss »nir­gend­wo et­was Hüb­sches»). Drei da­von wird er, wie man in ei­nem recht ak­tu­el­len Auf­satz le­sen kann, zum »Sie­ben­ge­stirn der gei­sti­gen Rech­ten« kü­ren. Am Ran­de in­ter­es­sant sei­ne Wand­lung in Be­zug auf Speng­ler, die aber nicht aus­ge­führt wird. Mit Ge­winn liest man die lu­zi­den und Preis­re­den zum Büch­ner- und Les­sing­preis (1989 bzw. 2001). Am En­de gibt es auf knapp 30 Sei­ten ei­ni­ge neue, ak­tu­el­le »Spreng­sel« – aber­mals No­ta­te, Apho­ris­men, Mi­nia­tu­ren, die ihn als wei­ter­hin kri­ti­schen Zeit­be­ob­ach­ter zei­gen, et­wa wenn es ge­gen »Ge­sin­nungs-Mi­no­ri­tä­ten« geht, oder, sehr häu­fig, wi­der die »De­spe­ra­dos der Di­gi­tal­ge­sell­schaft«, die als »Apo­lo­ge­ten der Ba­na­li­tät« ab­ge­kan­zelt wer­den. Bei­ßend die Cha­rak­te­ri­sie­rung der »bei­nah gren­zen­los linke[n] Mit­te, die schär­fer als frü­her je­den aus­gren­zen möch­te, der nicht ein­stimmt.« Tref­fend, dass »To­le­ranz und Di­ver­si­tät« ver­ord­net wür­den »wie vor­mals die pa­trio­ti­sche Ge­sin­nung«.

Vom Thea­ter zur »Kas­per­bu­de«

Fast schon kul­tur­ge­schicht­li­chen Wert ha­ben die für sei­ne Ver­hält­nis­se fast eu­pho­ri­schen, aber trotz­dem fein-zi­se­lier­ten, aus­führ­li­chen Por­traits von Pe­ter Stein, Die­ter Sturm und Luc Bon­dy. Sie wir­ken wie Ru­fe aus ei­ner ver­gan­ge­nen Zeit, ei­ne schwel­gen­de Fei­er des Thea­ters, je­nes »auf flüch­ti­ge Zeit­ge­nos­sen­schaft aus­ge­rich­te­ten« Me­di­ums, dass er be­reits 1986 in Ge­fahr sah, zu ei­ner »fri­vo­len Amü­sier­an­stalt« oder ei­ner »eman­zi­pa­to­ri­scher Kas­per­bu­de« zu wer­den. »Wenn schon Thea­ter«, so das em­pha­ti­sche Be­kennt­nis im Text über Luc Bon­dy 2002, »dann wol­len wir et­was se­hen, das wir im tief­sten nicht be­grei­fen kön­nen.« Aus­ge­spro­chen ge­lun­gen die kur­zen Ein­las­sun­gen über Ing­mar Berg­man und die Schau­spie­ler Bru­no Ganz und Ot­to San­der. Jut­ta Lam­pe ist ein län­ge­rer Text ge­wid­met, der die ver­schwun­de­nen Mo­men­te auf der Büh­ne in Spra­che rück­zu­ver­wan­deln ver­sucht. Im kür­ze­sten Ab­schnitt des Bu­ches be­schäf­tigt sich Strauß un­ter an­de­rem mit Ger­hard Rich­ters Über­ma­lun­gen von Fo­to­gra­fien und dem nor­we­gi­schen Ma­ler Odd Ner­d­rum. Apho­ri­stisch zeigt er sich in sei­nen Ma­tis­se-Re­fle­xio­nen.

In der Ru­brik »Zeit­ge­sche­hen« fin­det sich auch An­schwel­len­der Bocks­ge­sang je­ner Text, der Strauß seit 1993 für vie­le zu ei­nem Prot­ago­ni­sten der Neu­en Rech­ten und da­mit zum Ver­fem­ten mach­te. Dass er sich sel­ber-selbst­be­wusst als »rechts« be­zeich­ne­te, ver­stärk­te die bis heu­te vor­herr­schen­de, fast im­mer nur re­flex­haft prak­ti­zier­te Ab­leh­nung. Da­bei kön­nen ei­ni­ge Dia­gno­sen längst als pro­phe­tisch ein­ge­ord­net wer­den. Et­wa wenn er von un­se­rer Selbst­ge­fäl­lig­keit schreibt, mit der man vor den »na­tio­na­li­sti­schen Strö­mun­gen der neu­ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten« war­ne. »Daß je­mand in Ta­dschi­ki­stan es als po­li­ti­schen Auf­trag be­greift, sei­ne Spra­che zu er­hal­ten wie wir un­se­re Ge­wäs­ser, das ver­ste­hen wir nicht mehr«, so Strauß da­mals. Ein Satz, für den er hart an­ge­grif­fen wur­de. Wo­bei sich die An­grei­fer von da­mals die Au­gen rei­ben müss­ten, denn sie sind es heu­te, die die (be­rech­tig­ten) Wün­sche zur kul­tu­rel­len Ei­gen­stän­dig­keit der Ukrai­ne em­pha­tisch ver­fech­ten. Strauß hat­te sich da­mals nur das fal­sche Land aus­ge­sucht.

Zu­ge­ge­ben, an­de­res wirkt selt­sam fremd, nicht zu­letzt, weil der Kon­text flüch­tig ist. Schwie­rig ist – und das gilt auch für ei­ni­ge an­de­re Tex­te aus die­sem Band: Strauß sieht sei­ne Auf­sät­ze für die noch­ma­li­ge Ver­öf­fent­li­chung nicht nur durch, son­dern ver­än­dert und er­gänzt sie, lässt an­de­res weg, und das teil­wei­se ka­pi­tel­wei­se, so dass ei­ne fun­dier­te Aus­ein­an­der­set­zung er­schwert wird. Im Nach­weis­teil fin­den sich bei­spiels­wei­se zum Bocks­ge­sang-Text ins­ge­samt sechs ver­schie­de­ne Ver­öf­fent­li­chungs­da­ten in un­ter­schied­lich­sten Me­di­en; al­le, wie es heißt, »leicht über­ar­bei­tet«, aber es sind eben nicht nur gram­ma­ti­ka­li­sche Über­ar­bei­tun­gen (Strauß be­nutzt im üb­ri­gen durch­gän­gig al­te Recht­schrei­bung).

Der Re­ak­tio­när

Strauß’ Ab­leh­nung des »mit sich selbst zu­frie­de­nen« Zy­ni­kers, dem er vor­her­sagt, dass »ir­gend­wann die ur­alte Ge­bär­de des Fle­hens« her­aus­bre­chen wird, mün­det in die Selbst­cha­rak­te­ri­sie­rung als »Sen­si­bi­list« und Re­ak­tio­när, als je­mand, »der re­agiert – wäh­rend an­de­re noch stumm und will­fäh­rig blei­ben«. Der Re­ak­tio­när ist im Ge­gen­satz zum Kon­ser­va­ti­ven, der »eher ein Krä­mer des an­geb­lich Be­währ­ten« ist, ein »Phan­tast« und »Er­fin­der« und »eben nicht der Auf­hal­ter oder un­ver­bes­ser­li­che Rück­schritt­ler, zu dem ihn die po­li­ti­sche De­nun­zia­ti­on macht – er schrei­tet im Ge­gen­teil vor­an, wenn es dar­um geht, et­was Ver­ges­se­nes wie­der in die Er­in­ne­rung zu brin­gen. Er den­ke zwar «be­grün­det pes­si­mi­stisch», «aber nicht et­wa, weil die Zei­ten so schlecht ge­wor­den sind, son­dern weil zu al­len Zei­ten des Men­schen Lauf auf Er­den bit­ter ist.«

Hier ist die Ver­bin­dung zu Gó­mez Dá­vila sehr deut­lich, denn auch er sym­pa­thi­sier­te mit dem Re­ak­tio­när, der «das pa­ra­do­xe We­sen der Hand­lun­gen, der Men­schen, der Welt« »zu se­hen weiß«. Den­noch ist für ihn der Re­ak­tio­när am En­de macht­los. Es ist ihm, so Gó­mez Dá­vila, »nur noch mög­lich, apo­dik­ti­sche Ur­tei­le zu ver­kün­den, die dem Le­ser schwer im Ma­gen lie­gen.« Hier­aus folgt, dass er heu­te »bloß ein Pas­sa­gier« sei, »der mit Wür­de Schiff­bruch er­lei­det«.

Es las­sen sich in Strauß’ Es­says durch­aus kul­tur­pes­si­mi­sti­sche In­gre­di­en­zi­en fin­den, et­wa der Seuf­zer, dass man »morgen…ohnehin al­les le­sens­wer­te nur noch in An­ti­qua­ria­ten und Bi­blio­the­ken« fin­den wird. Oder die Fei­er die »gol­de­nen Vor­ver­gan­gen­heit« (ge­gen den »ewi­gen Fort­schritts­se­gen«) in ei­ner Pe­ter-Stein-In­sze­nie­rung, Und der En­thu­si­as­mus für die Büh­nen­kunst ist bei ihm schon 2010 mit dem Be­fund, dass das Thea­ter »zum Re­ser­vat für un­an­tast­ba­re Dumm­heit und Bil­dungs­fer­ne« mu­tiert sei, an sein En­de ge­kom­men. Dann wie­der­um fin­den sich kämp­fe­ri­sche At­ti­tü­den, et­wa im Ap­pell, »neue un­zu­gäng­li­che Gär­ten [zu] bau­en.«

My­stisch-ly­ri­scher See­len­ge­sang

Botho Strauß: Nicht mehr. Mehr nicht

Bo­tho Strauß: Nicht mehr. Mehr nicht

2021 ver­such­te Strauß mit dem sprach­spie­le­risch an Goe­thes letz­te Wor­te an­spie­len­den Ti­tel Nicht mehr. Mehr nicht, mä­an­dernd-kol­la­gier­te Sze­ne­rien aber­mals in ei­nen Ro­man ein­zu­man­teln. Es sind, wie es im Un­ter­ti­tel heißt, »Chif­fren für sie«, für Ger­trud Vorm­weg, die sich auch Di­do oder Elis­sa nennt, ei­ne von ih­rem Lieb­ha­ber Li­o­nar­do, ei­nem Flücht­ling, ver­las­se­ne Frau, ei­ne »Ent­täusch­te, die sich lie­ber in die Rui­nen ih­res drei­ßig­sten Jah­res ver­kriecht als sich ih­rer Kraft und Rei­fe zu er­freu­en« und sie hebt nun an – mal als Ich, mal ko­kett als »sie« – zu ei­nem gro­ßem, my­stisch-ly­ri­schen See­len­ge­sang. Sie ver­steht sich nicht nur als Wie­der­keh­re­rin der Er­baue­rin von Kar­tha­go und wech­selt pha­sen­wei­se in ei­ne Art weib­li­cher Odys­seus, die mit ih­rem Flücht­ling auf ei­nem Schiff nach Hau­se kommt, son­dern auch noch Ly­ri­ke­rin und, vor al­lem, Lie­ben­de. Es gibt An­lei­hen an an­de­re an­ti­ki­sche Hel­den, die in die Ge­gen­wart pro­ji­ziert wer­den. Am ori­gi­nell­sten ist die Be­mer­kung zu Fa­ma, die als »der er­ste Nach­rich­ten­sa­tel­lit« be­schrie­ben wird.

Vie­le von Strauß’ The­men fin­den sich wie­der. Wie das Schei­tern von Kom­mu­ni­ka­ti­on (das Wort wird durch­gän­gig kur­siv ge­druckt, als sei es ei­ne ab­sur­de Be­haup­tung, die nur zi­tiert wird). Oder der Ver­gang der Spra­che, dem Strauß wuch­tig-trot­zig ge­gen die »Mail­held-Maul­hel­den« ent­ge­gen­setzt: »Nur Spra­che, die glüht, kann ge­schmie­det wer­den.« Schrei­ben ist, wie es fast ne­ben­bei heißt, ei­ne »dem Le­ben bei­läu­fi­ge Be­we­gung«, ei­ne Übung in »zar­ten Zwi­schen­tö­nen«, dem »Durch­schein der Din­ge, den Über­gän­gen, dem Dunst, dem Schim­mer« ver­pflich­tet, »den ver­wisch­ten Kon­tu­ren ei­ne neue Chan­ce« ge­bend. Aber ir­gend­wann fin­det sich die größ­te Furcht des Schrei­ben­den, gut ver­steckt, wenn sie be­dau­ert wer­den, die »das Her­an­na­hen ih­rer Ver­dunk­lung spü­ren und ihr Ta­lent ver­lie­ren.« Da­zu passt die Auf­for­de­rung, ge­rich­tet an je­ne, die mit Wor­ten agie­ren »wie an­de­re mit Mün­zen klim­pern in der Ho­sen­ta­sche: Beim Ver­las­sen der Spra­che bit­te die Tür hin­ter sich schlie­ßen.« Man müss­te sich aus die­sem Satz ein Tür­schild ba­steln.

Aber bis­wei­len blitzt eben doch Re­si­gna­ti­on auf. Oder ist es Rea­lis­mus? »Es ist nicht die Zeit für gro­ße Ent­wür­fe; es ist die Zeit für das Ver­wer­fen gro­ßer Ent­wür­fe«, schreibt er den selbst­er­nann­ten Vi­sio­nä­ren und Pro­gres­si­ven ins Stamm­buch, ähn­lich Hand­ke, der einst sei­ne No­va in Über die Dör­fer für die klei­nen Din­ge und de­ren Wid­mung de­kla­mie­ren ließ.

Me­lan­cho­li­scher Pier­rot und Die­ner

Botho Strauß: Das Schattengetuschel

Bo­tho Strauß:
Das Schat­ten­ge­tu­schel

Und nun, zwei Jah­re spä­ter, zum Acht­zig­sten, ein Le­bens­bi­lanz­buch? Das Schat­ten­ge­tu­schel ist der Ti­tel und der Le­ser er­in­nert sich an ei­ne Pas­sa­ge zu Be­ginn von zu oft um­sonst ge­lä­chelt, fünf Jah­re zu­vor, als der Ich-er­zäh­len­de Dich­ter sei­nem jun­gen Freund auf »Not und Er­schrecken an­ge­sichts der Zeug­schwä­che der Wor­te« auf­merk­sam mach­te. »Daß sie«, die Wor­te, »nichts mehr her­vor­ru­fen, kei­ne Far­be, kei­ne Stim­mung, kei­ne Ver­stän­di­gung; daß sie kei­nen Licht­hof, kei­ne Re­so­nanz mehr ha­ben. […]. Daß Wor­te ins­ge­samt ein lee­res, ver­geb­li­ches Schat­ten­ge­tu­schel sind.«

Al­so ein Trotz­buch, ein Wi­der­stands­akt ge­gen den ei­ge­nen Arg­wohn? Oder ein Ein­rich­ten im »Schat­ten­ge­tu­schel« der Li­te­ra­tur? In drei Ab­schnit­te ist die­ses Buch un­ter­teilt, im­mer spär­li­cher wer­den die Sze­nen aus­ge­stat­tet bis am En­de, im drit­ten Teil, der »Sät­ze­ma­cher« do­mi­niert, der (be­kann­te) Apho­ri­sti­ker, oft ge­nug oh­ne Poin­te (wie sich das ge­hört).

»Der Vor­hang geht auf. Man sieht Men­schen beim Le­ben er­wischt«, heißt es ein­mal und er­in­nert sich an Die Zeit und das Zim­mer, in­sze­niert von Luc Bon­dy (mit ei­ner hin­rei­ßen­den Libgart Schwarz). Es kommt ei­nem vor, als gä­be es ei­ne ir­gend­wie ge­ar­te­te Fort­set­zung oder viel­leicht Er­gän­zung, mit an­de­ren Prot­ago­ni­sten, in ei­ner an­de­ren Zeit, in ei­nem an­de­ren Zim­mer in ei­ner an­de­ren Um­ge­bung, in der »die ge­hei­men zwi­schen­per­sön­li­chen Fluk­tua­tio­nen« aus­ge­stellt wer­den. Da­bei gibt ne­ben den bei Strauß üb­li­chen Skur­ri­li­tä­ten bis­wei­len lo­riot­haft-hei­te­re Sze­nen, wie et­wa je­ne von ei­nem Fa­mi­li­en­ur­laub im Hoch­ge­bir­ge (und der Su­che nach dem ge­eig­ne­ten Ho­tel­zim­mer). Oder es geht um das Er­be ei­ner Frau be­stehend aus »an die hun­dert Acryl-Por­träts ih­rer Scham«. In ei­ner an­de­ren Ge­schich­te gibt es ei­nen Thea­ter­sta­ti­sten, der kurz vor der Pre­mie­re auf der Su­che nach ei­nem für ihn ge­eig­ne­ten Ko­stüm ist.

Strauß ist und bleibt auch im neu­en Werk ein Ko­mö­di­ant. Frei­lich we­ni­ger Har­le­kin als me­lan­cho­li­scher Pier­rot. Da­zu passt, dass sich der Dich­ter häu­fig ins Wort fällt und sei­nen Fä­hig­kei­ten bis­wei­len zu miss­trau­en scheint: »Wenn er es schon nicht mehr ver­steht, so sucht er es durch lücken­lo­se Be­schrei­bung zu ban­nen.« Ein­mal wird über ei­nen fik­ti­ven Au­tor Mans­holt be­rich­tet, für den es »kei­ne er­zähl­ten Ge­schich­ten« gab, »kei­ne Hand­lungs­ver­läu­fe — nur und al­lein Sphä­re, Hül­le und ›Sil­la­ge‹ (das Nach­we­hen ei­nes Dufts) wa­ren für ihn von In­ter­es­se.«

Der Dich­ter iden­ti­fi­ziert sich mit Firs, dem Die­ner aus Tschechows Kirsch­gar­ten, sieht sich als des­sen Die­ner, als Nach­er­zäh­ler und fin­det ei­ne Me­ta­pher auf die Ge­gen­wart: »Die neue Herr­schaft läßt auch Er­len, Lär­chen, Bu­chen ab­hol­zen, nicht nur den Kirsch­gar­ten, und wir blei­ben noch ei­ne Wei­le frie­rend ein­ge­sperrt im letz­ten In­nen­raum.« Ver­blüf­fend ei­ne zei­wei­se auf­flam­men­de Nä­he zu Sa­mu­el Beckett, den man mit Strauß bis­her kaum in Ver­bin­dung brach­te. Da wird »al­le Er­in­ne­rung ge­löscht« und »in kni­stern­den Ne­bel ge­taucht«. Ro­ma­ne sind »nur noch Stoff und Mit­ge­teil­tes, al­so Brenn­holz für den In­nen­raum«. Man wird in ein Ge­schäft ge­führt, »das wohl nie ein Kun­de be­trat« und ein »Fon­tä­nist«, »Er­fin­der ei­ner trans­por­ta­blen An­la­ge für »neu­ar­ti­ge« Was­ser­spie­le«, bleibt no­to­risch er­folg­los: »Es war wie­der nichts. Kein Auf­trag, nicht mal ein Ver­trö­sten auf ein näch­stes Mal…«

Gleich­zei­tig flammt im­mer wie­der ein Ide­al auf, wenn et­wa die »Schön­heit un­se­rer lei­sen, ra­di­ka­len, ver­schwo­re­nen Ver­stän­di­gung« be­schwo­ren wird, als Mög­lich­keit ei­ner Freund­schaft, ei­nes Zu­sam­men­seins, um dann, im Al­ter, in hei­te­rem Ver­za­gen zu kon­sta­tie­ren: »Ir­gend­wann be­trach­tet man sei­ne Ta­ge nicht mehr nach Ver­läu­fen und Ent­wick­lun­gen, son­dern nach den Ein­schlag­kra­tern, die die Me­teo­ri­ten der Ab­schie­de hin­ter­las­sen ha­ben.«

Klar­text

Über die von Strauß im­mer wie­der auf­ge­führ­te Ver­gäng­lich­keit des Thea­ter­au­gen­blicks fin­det sich ei­ne schö­ne Sze­ne, in der je­mand ver­sucht, Zeu­gen zu fin­den, die ih­re Ein­drücke »von Bernd Schie­rers so klu­ger und bild­präch­ti­ger Auf­füh­rung von Fer­di­nand Rai­munds ›Der Al­pen­kö­nig und der Men­schen­feind‹« von 1973 noch ein­mal auf­le­ben las­sen. Nicht nur in die­ser Kurz­er­zäh­lung läuft der Prot­ago­nist, wie es ein­mal heißt, »durch ein La­ger­haus voll halb­ver­schüt­te­ter Le­bens­räu­me, in de­nen sich eben noch et­was reg­te.«

Aber dann wie­der ein trot­zi­ges Auf­raf­fen. »Die Re­li­giö­sen ver­ste­hen sich aufs Deu­ten. Die Un­gläu­bi­gen brau­chen Klar­text.« Klar, was ge­meint ist. »Die Un­kennt­nis vom Tod beim Tier ent­spricht un­se­rer vom Sinn des Le­bens. Erst im letz­ten Er­schrecken er­fährt das Tier vom nie ge­ahn­ten Tod.« Und wir, die vom Tod wis­sen?

»Statt Nietz­sches Ham­mer, der Göt­zen zer­trüm­mer­te, braucht es heu­te ein La­ser­skal­pell, um die Tu­mo­re der Ge­sin­nung aus der Hirn­rin­de zu ent­fer­nen«, de­kla­miert ei­ne Fi­gur ei­ner Sze­ne wi­der die Ideo­lo­gi­sie­run­gen. Aber das sind nur Stroh­feu­er, denn »die­sen stil­len und mit­leid­lo­sen Mann be­schlei­chen auf ein­mal die furcht­bar­sten Ver­lu­ste: ›Mir, mir ent­zie­hen sich die gro­ßen Wer­ke‹, klag­te er…«

Und so treibt der Le­ser zwi­schen Be- und Ver­wun­de­rung, zwi­schen Auf­ruhr und Re­si­gna­ti­on, schließ­lich kommt man zum »Sät­ze­ma­cher«, der den »Tod des Apho­ris­mus« for­dert und we­nig spä­ter apho­ri­stisch über den Tod des Va­ters sin­niert, der ihn »nur ver­las­sen« ha­be, um ihn »nie zu ver­las­sen.« Nur ein­mal wird Strauß das, was man deut­lich nennt, was die Feuil­le­to­ni­sten ein­neh­men wird, weil es so ein­fach ist. Es geht um den Krieg in der Ukrai­ne und das deut­sche Ver­ständ­nis vom Sol­da­ten und er fragt, ob man in den »Ta­gen, da ukrai­ni­sche Sol­da­ten ei­nen ver­zwei­fel­ten Ab­wehr­kampf ge­gen die rus­si­sche Ag­gres­si­on lei­sten, dar­an er­in­nern [darf], daß bei uns im Jah­re 1994 der Bun­des­ge­richts­hof fest­leg­te, der Tu­chol­sky-Spruch ›Sol­da­ten sind Mör­der‹ sei ei­ne er­laub­te Mei­nungs­äu­ße­rung, je­doch kei­ne straf­ba­re Be­lei­di­gung?«

Am Schluss sitzt der »ver­wirr­te al­te Dra­ma­ti­ker« im Par­kett des Thea­ters, be­vor er, der Un­be­fug­te, »sanft, aber nach­drück­lich hin­aus­ge­be­ten« wird. Auch, nein: be­son­ders deut­lich in Das Schat­ten­ge­tu­schel ge­lingt es Bo­tho Strauß, die Wirk­lich­keit zu zer­le­gen, aber auch zu ver­zau­bern und au­gen­blicks­wei­se zu über­win­den. Da­nach wird je­des An­schau­en von Men­schen in ih­rem Le­ben zu ei­nem Er­eig­nis und plötz­lich be­greift man, durch wel­che Schu­le man bei der Lek­tü­re der Bü­cher von Bo­tho Strauß ge­gan­gen ist. Und doch: Man wird ihm nie bei­kom­men, die­sem letz­ten gro­ßen, deut­schen Dich­ter.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Mitt­ler­wei­le bin ich alt ge­nug, es gut zu fin­den (oder ist das schon in ei­ner dia­lek­ti­schen Span­nung mit ’sich ab­fin­den’?), dass man mit man­chen Schrei­bern nie fer­tig wird. Die Schwie­rig­keit bei Leu­ten wie Bo­tho Strauß ist, dass man bei des­sen »Selbst­frag­men­tie­rung« leicht ein biss­chen die ei­ge­nen er­ober­ten Haupt­li­ni­en ver­lie­ren kann. Viel­leicht von da­her der Ein­druck, ich fan­ge im­mer wie­der von Neu­em an?

    (Es gab üb­ri­gens min­de­stens schon mal eins sol­cher Kom­pen­di­en, Vol­ker Ha­ges ‘Ge­dan­ken­fluch­ten’ bei Suhr­kamp – das In­halts­ver­zeich­nis ver­weist schon auf die Vor­be­halt­lich­keit von so et­was wie ei­ner the­ma­ti­schen Sor­tie­rung. ‘Bo­tho Strauß ist nicht zu fas­sen’.)

    Aber gibt es noch Neu­es? Ich ha­be mich da­zu ent­schlos­sen, mei­ne Er­mü­dung am Neu­en (Ak­tua­li­tä­ten, Be­trieb, Buch­preis etc.) le­gi­tim zu fin­den. Da­zu passt ein Satz von Lu­is Bun­u­el, der mich seit Län­ge­rem um­treibt: »Al­les, was nicht Tra­di­ti­on ist, ist Pla­gi­at«. (Ob der Satz stimmt, weiß ich nicht, aber er er­laub­te ei­nem doch zu al­lem Mög­li­chen ei­ne gleich Er­leich­te­rung ver­schaf­fen­de Hal­tung.)

    Ich hat­te mir vor Wo­chen Lud­wig Hohl noch mal raus­ge­nom­men, ‘Von den her­ein­bre­chen­den Rän­dern’.
    »We­he dem Schrift­stel­ler, der nach Ge­halt strebt. Nich­te Tie­fe, Rein­heit sei dein Ziel!« (Nach­no­ti­zen 212)
    Und in der neu­en Voll­text ist ein er­hel­len­der Auf­satz von Phil­ipp Thei­sohn (‘Den­ken nach Bo­tho Strauß’), der mich ein biss­chen auf­ge­stört hat und der noch mal ei­ne ei­ge­ne Ver-rückung in Be­zug auf BS zu er­lau­ben scheint.

    »Über­all schiebt sich Text vor das Le­ben. / Der Text als ‘Schau­spiel’, die Le­ser als ‘Chor’. / Hei­li­ge Al­teri­tät ... Wie­der­an­schluss an die lan­ge Zeit, die un­be­weg­te. / Schrei­ben be­deu­tet, im War­te­zu­stand aus­zu­har­ren.«

    Und so wei­ter. Ich hör da ziem­lich viel Mau­rice Blan­chot, dem Rau­ner der End­lich­keit.

    Ob­wohl ich spon­tan ein­ver­stan­den bin mit Ih­rem Fa­zit vom letz­ten gro­ßen, deut­schen Dich­ter, den­ke ich zu­gleich, man muss sich Gei­ster wie BS als ge­schei­ter­te vor­stel­len: Er weiß, dass er der letz­te ist. Auch die gro­ßen Ein­zel­gän­ger­ge­sten ge­hen letzt­lich ins Lee­re, auch der Ein­ge­weih­te kann sich über nichts si­cher sein, und je­der ‘Sät­ze­ma­cher’ trifft beim Ver­las­sen der Spra­che auf neue Mau­ern. Da­für ist die ‘un­halt­ba­re Po­si­ti­on’ viel­leicht die die­ser Zeit an­ge­mes­sen­ste. Die letzt­mög­li­che?

  2. Ich war­te noch auf Thei­sohns Buch; es soll in die­sen Ta­gen er­schei­nen. Ich ge­ste­he, dass ich mit sei­nem Auf­satz im Voll­text we­nig an­fan­gen kann.

    Si­cher ist Strauß ein Au­tor, mit dem man schlecht »fer­tig« wird. Der einst ge­fei­er­te Thea­ter­au­tor hat ja längst »sei­ne« Re­gis­seu­re und »sei­ne« Schau­spie­ler ver­lo­ren. Das neue­ste Stück Saul – es ist von 2019 – wur­de mei­nes Wis­sens bis­her noch nie auf­ge­führt. Nix für die Kas­per­bu­de. Nicht ein­mal die­ses groß­ar­ti­ge Stück Die Zeit und die Zim­mer dürf­te heut­zu­ta­ge kon­ge­ni­al zu in­sze­nie­ren sein. Es fehlt schlicht das Per­so­nal. Auf vie­len Ebe­nen.

    Und ja, die Kul­tur­kri­tik von Strauß, die im­mer wie­der her­aus­schim­mert, ist et­was, das man mal ganz nett fin­det, in der Häu­fung dann aber eher lä­stig wird. Ich bin ja ge­neigt zu glau­ben, dass sich Strauß ei­nen Spaß mit uns macht. Da­her schät­ze ich vor al­lem sei­ne sze­ni­sche Pro­sa über Men­schen, de­ren Il­lu­sio­nen und Schei­tern, die De­duk­tio­nen, die er aus bei­spiels­wei­se Ge­sten ent­wickelt und er­tap­pe mich da­bei bis­wei­len sel­ber, so­fern ich mich noch un­ter Men­schen be­we­ge.

    Ob er ge­schei­tert ist? Das wür­de be­deu­ten, dass da ei­ne Am­bi­ti­on jen­seits des je­wei­li­gen Wer­kes war. Wel­che soll das ge­we­sen sein? »Der Kul­tur­pes­si­mist«, so schreibt Strauß im Bocks­ge­sang, »hält Zer­stö­rung für un­ver­meid­lich. Der Rech­te hofft hin­ge­gen auf ei­nen tief­grei­fen­den, un­ter den Ge­fah­ren ge­bo­re­nen Wech­sel der Men­ta­li­tät...« Wä­re das al­so der Aus­weis des Schei­terns? Dass eben die Be­har­rungs­kräf­te (mit ih­ren lin­ken Idea­len) re­üs­siert ha­ben? In ei­nem Post­skrip­tum ein Jahr nach der Ver­öf­fent­li­chung des Bocks­ge­sangs schreibt er: »Es droht von der Lin­ken kei­ner­lei gei­sti­ge An­re­gung mehr; sie wird sich al­len­falls be­tei­li­gen an der Or­ga­ni­sa­ti­on des ge­sell­schaft­li­chen Zer­falls in Form der po­li­ti­schen Kor­rekt­heit.« Das fin­de ich ei­ne ziem­lich ge­lun­ge­ne Pro­gno­se. Nur: Was fängt man da­mit an?

    Noch ge­lingt es mir nicht ganz, mich von der Ta­ges­ak­tua­li­tät des Be­triebs zu ver­ab­schie­den. Aber es wird. Lang­sam.

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