Lektüreeindrücke zu Botho Strauß
In den letzten zehn Jahren, nach Herkunft 2014, einer eindrucksvollen Beschwörung und Manifestation der Kindheit und Adoleszenz, ist es um Botho Strauß zunehmend ruhiger geworden. Strauß betrieb nach diesem Erfolg eine erstaunliche Selbstfragmentierung seines Werks. In gleich zwei Büchern stellte er seine Theaterstücke, Romane und Essays als Steinbruch zur Verfügung. Zum einen in der von Heinz Strunk herausgegebenen Anthologie Der zurück in sein Haus gestopfte Jäger und wenig später bei der als »Gedankenbuch« apostrophierten Text- und Genrecollage Allein mit allen, herausgegeben und kompiliert von Sebastian Kleinschmidt. Allein mit allen ist in 17 thematisch sortierten Kapiteln gegliedert, die beispielsweise »Vom Geist: Verstehen, Gestimmtheit«, »Technik, Medien, Künstlichkeit», »Von der Erziehung« oder »Autorschaft, Sprache» überschrieben sind. Hier wurden nun einzelne Absätze, Szenen, Notate, Wahrnehmungs- und Gedankensplitter aus mehr als 30 Werken des Autors ergänzt um 87 damals neuer, bis dahin unpublizierter Einträge zu einem neuen Textgebilde zusammengefügt. In beiden Büchern werden im Anhang jeder einzelne Texteintrag dem entsprechenden Werk zugeordnet.
Im Nachwort nennt Kleinschmidt das entstandene Buch eine »poetische Enzyklopädie Straußscher Wissenskunst«, die als »Kunst des intuitiven Gedankenbaus und der reflexivem Unmittelbarkeit« eingeordnet wird. Tatsächlich erscheinen bekannte Zitate in einem anderen Zusammenhang stehend mitunter trefflicher und schärfer. Die Entbergung aus dem Kontext des Ursprungstextes hin zu einer neuen Kontextualisierung in einen thematischen Bereich ergeben neue, teilweise überraschende Zusammenhänge.
Ein Jahr zuvor bereits hatte Strauß mit Lichter des Toren einen hyperventilierend-zeitkritischen Essay in Form von Gedankensplittern und Aphorismen versucht, in dem er für den notorischen Einzelgänger und Digitalverweigerer nicht nur eine Lanze bricht, sondern sich in eine Form grimmiger Unversöhnlichkeit der Gesellschaft gegenüber versteigt, die er in einem schnöden Mitmachrausch sieht. Nicht wenige nahmen diese bisweilen wütenden Aus- und Einfälle als elitär wahr, attestierten ein »prunkendes Denken« (Thomas Schmid) und tatsächlich verstörte dieses Buch mit seiner bisweilen mürrischen Selbstgewissheit.
Miniaturprosa
Schon ein Jahr später, im ähnlich notathaft aufgebauten Buch Der Fortführer, begann die Form des »immer hadriger und unleidlicher« werdenden Unzeitgenossen, der »sein Lebtag im Ausweglosen unterwegs« ist (Strauß-Zitate), zu Gunsten einer mehr spielerisch, aber zugleich gnadenlos präzisen, auf Schauen, Entdecken und Horchen daherkommenden Miniaturprosa zu konzentrieren. Strauß wurde zum Verdichter, seinen Vorbilder Paul Valéry und, vor allem, dem kolumbianischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila mit dessen Scholien-Konvolut, ähnlich.
2019 erschienen nahezu zeitgleich im Hanser- und im Rowohlt-Verlag neue Bücher von Strauß. Noch einmal kehrte er auf die Theaterbühne zurück. Im Königsdrama Saul werden die tragischen Ambivalenzen des biblischen Königs wider Willen in glasklaren, dramatisch pointierten Dialogen plastisch erzählt und können als Allegorie auf zeitgenössische politische Machtstrukturen weitergedacht werden. Dieses Stück sollte eigentlich in jedem Stadttheater aufgeführt werden.
In der Prosa zu oft umsonst gelächelt praktizierte Strauß eine skizzierende Form des Erzählens. Den Rahmen bildet ein fiktiver alter Dichter, der im Monolog mit einem »jungen Freund« tritt. Diese zumeist knappen Szenen werden kursiv gedruckt. Den Kern bilden dann die mehr als einhundert Geschichten, Miniaturen und Sezierungen menschlichen Verhaltens, Entdeckungen von Zufälligkeiten, die bisweilen lebensbestimmend werden, insbesondere von Paaren, denen häufig ein Dritter, eine Dritte, beigestellt ist. Das führt zu komischen, bisweilen bizarren Bildern. Etwa ein alternder Dirigent, Ex-Mann einer Sängerin, der im Frack im Zuschauerraum ihre Konzerte besucht und nach der Vorstellung, beim Zusammensein, vom jetzigen Liebhaber, ebenfalls ein Dirigent, erklärt bekommt, dass die Stimme seiner Geliebten auf dem Abstieg ist.
Unerreicht in der deutschen Literatur ist Strauß, wenn er seinen Hang, skurriles zu übertreiben oder mythologische Referenzen für seine Beobachtungen unterstützend einzubauen, zügelt, und stattdessen in wenigen Sätzen Lebensläufe skizziert und erzählt, wie eine Situation, eine Geste, ein Lächeln, ein Nicht-Lächeln, eine Umarmung (Strauß ist ein Umarmungs-Fetischist) – kurz: Augenblicke begrenzter Dauer ein ganzes Leben bestimmen oder, manchmal, auch beenden werden, denn auch der unausweichliche Tod dient dem Erzähler als Anker für Reminiszenzen. Da wird von Lebenslügen erzählt, die errichtet oder zerstört werden, etwa wenn von »Lebensmüden, die der Tod perfide hinhält« die Rede ist oder ein Paar im »Anblick auf das gebeugte Paar, das sie eines Tages am Ende ihrer Wege sein werden« ihre Zukunft aufflackern sieht.
Reigen von Peripetien
Es ist ein Reigen von Peripetien; nahezu perfekte, kleine Dramolette, die man sich ohne großen Inszenierungsaufwand gut auf einer Bühne vorstellen kann. Lebenspartner werden von Strauß gerne zu emotionalen Zufluchten (v)erklärt. Etwa wenn von dem Mann erzählt wird, der die Liebe zu seiner Frau im Alltag unterdrückt und stattdessen im Tagebuch niederschreibt, damit sie nach seinem Tod davon lesen kann und dann das unfassbare geschieht: Die Frau verunglückt und wird nie von dieser Liebe erfahren. Oder das Leben einer Sekretärin auf knapp einer Seite, ein Leben das nur »drei Wochen Ausgelassenheit« und Extravaganz erlebt hat. Ein Männerchor gerät in einen »gehässigen Streit» und nun »psychologisieren sie, daß es seine Art hat.« Die Liebe eines Mannes erlahmt in dem Augenblick, in dem die Frau nachgibt. Die längste zusammenhängende Geschichte im Buch (es sind zehn Seiten) spielt in einem Raum, in dem »an die elf Menschen« über einen soeben angeschauten Film räsonieren, ihn preisen, als hätte es vorher nichts Ebenbürtiges in der Filmgeschichte gegeben. Sie sind ständig auf der Suche nach der richtigen Vokabel zu diesem Film, »der alles sagt, alles enthält, wovon wir auf der Grundlage der unzähligen Filme, die wir in unserem Leben sahen, immer geträumt, immer geredet haben«, irgendwie gerecht zu werden. Als dann jemand das Wort, den Zustand, die Charakterisierung findet und ausspricht, fällt die Gemeinschaft sofort zankend auseinander. Man empfindet es als »besitzergreifend», der so angenehme Schwebezustand des Ungewissen ist durch Präzision zerstört worden, es ist kein Geplauder mehr möglich und der Ahnungslose wird zum Paria. Einmal ist die Rede von einem Mann, der »jede Nuance« einer Frau »ermittelte«. Auch Strauß ist (wie schon in seinen frühen Theaterstücken) mitunter ein sprühender Ermittler, ein Deduktionist, und niemand kann Blicke, und Verhaltensweisen derart lesen und pointieren. Und dann lassen einem diese Szenen nicht mehr los, weil man irgendwie auch etwas von sich selber darin findet.
Im 2020 erschienenen Band Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern wurden Essays, Portraits und zeitgeschichtliche Aufsätze aus mehr als drei Jahrzehnten versammelt. Schelmisch verwendet er »Kritische Prosa« als Untertitel. Die Texte sind in Oberbegriffen wie »Literatur», »Theater«, »Bilder» und »Zeitgeschehen« sortiert; die Reihenfolge ist auch innerhalb der jeweiligen Abschnitte nicht chronologisch. Literarisch geht unter anderem um Rudolf Borchardt, Oswald Spengler, Konrad Weiss und Martin Heidegger (hier findet Strauß zu seinem Verdruss »nirgendwo etwas Hübsches»). Drei davon wird er, wie man in einem recht aktuellen Aufsatz lesen kann, zum »Siebengestirn der geistigen Rechten« küren. Am Rande interessant seine Wandlung in Bezug auf Spengler, die aber nicht ausgeführt wird. Mit Gewinn liest man die luziden und Preisreden zum Büchner- und Lessingpreis (1989 bzw. 2001). Am Ende gibt es auf knapp 30 Seiten einige neue, aktuelle »Sprengsel« – abermals Notate, Aphorismen, Miniaturen, die ihn als weiterhin kritischen Zeitbeobachter zeigen, etwa wenn es gegen »Gesinnungs-Minoritäten« geht, oder, sehr häufig, wider die »Desperados der Digitalgesellschaft«, die als »Apologeten der Banalität« abgekanzelt werden. Beißend die Charakterisierung der »beinah grenzenlos linke[n] Mitte, die schärfer als früher jeden ausgrenzen möchte, der nicht einstimmt.« Treffend, dass »Toleranz und Diversität« verordnet würden »wie vormals die patriotische Gesinnung«.
Vom Theater zur »Kasperbude«
Fast schon kulturgeschichtlichen Wert haben die für seine Verhältnisse fast euphorischen, aber trotzdem fein-ziselierten, ausführlichen Portraits von Peter Stein, Dieter Sturm und Luc Bondy. Sie wirken wie Rufe aus einer vergangenen Zeit, eine schwelgende Feier des Theaters, jenes »auf flüchtige Zeitgenossenschaft ausgerichteten« Mediums, dass er bereits 1986 in Gefahr sah, zu einer »frivolen Amüsieranstalt« oder einer »emanzipatorischer Kasperbude« zu werden. »Wenn schon Theater«, so das emphatische Bekenntnis im Text über Luc Bondy 2002, »dann wollen wir etwas sehen, das wir im tiefsten nicht begreifen können.« Ausgesprochen gelungen die kurzen Einlassungen über Ingmar Bergman und die Schauspieler Bruno Ganz und Otto Sander. Jutta Lampe ist ein längerer Text gewidmet, der die verschwundenen Momente auf der Bühne in Sprache rückzuverwandeln versucht. Im kürzesten Abschnitt des Buches beschäftigt sich Strauß unter anderem mit Gerhard Richters Übermalungen von Fotografien und dem norwegischen Maler Odd Nerdrum. Aphoristisch zeigt er sich in seinen Matisse-Reflexionen.
In der Rubrik »Zeitgeschehen« findet sich auch Anschwellender Bocksgesang jener Text, der Strauß seit 1993 für viele zu einem Protagonisten der Neuen Rechten und damit zum Verfemten machte. Dass er sich selber-selbstbewusst als »rechts« bezeichnete, verstärkte die bis heute vorherrschende, fast immer nur reflexhaft praktizierte Ablehnung. Dabei können einige Diagnosen längst als prophetisch eingeordnet werden. Etwa wenn er von unserer Selbstgefälligkeit schreibt, mit der man vor den »nationalistischen Strömungen der neuosteuropäischen Staaten« warne. »Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr«, so Strauß damals. Ein Satz, für den er hart angegriffen wurde. Wobei sich die Angreifer von damals die Augen reiben müssten, denn sie sind es heute, die die (berechtigten) Wünsche zur kulturellen Eigenständigkeit der Ukraine emphatisch verfechten. Strauß hatte sich damals nur das falsche Land ausgesucht.
Zugegeben, anderes wirkt seltsam fremd, nicht zuletzt, weil der Kontext flüchtig ist. Schwierig ist – und das gilt auch für einige andere Texte aus diesem Band: Strauß sieht seine Aufsätze für die nochmalige Veröffentlichung nicht nur durch, sondern verändert und ergänzt sie, lässt anderes weg, und das teilweise kapitelweise, so dass eine fundierte Auseinandersetzung erschwert wird. Im Nachweisteil finden sich beispielsweise zum Bocksgesang-Text insgesamt sechs verschiedene Veröffentlichungsdaten in unterschiedlichsten Medien; alle, wie es heißt, »leicht überarbeitet«, aber es sind eben nicht nur grammatikalische Überarbeitungen (Strauß benutzt im übrigen durchgängig alte Rechtschreibung).
Der Reaktionär
Strauß’ Ablehnung des »mit sich selbst zufriedenen« Zynikers, dem er vorhersagt, dass »irgendwann die uralte Gebärde des Flehens« herausbrechen wird, mündet in die Selbstcharakterisierung als »Sensibilist« und Reaktionär, als jemand, »der reagiert – während andere noch stumm und willfährig bleiben«. Der Reaktionär ist im Gegensatz zum Konservativen, der »eher ein Krämer des angeblich Bewährten« ist, ein »Phantast« und »Erfinder« und »eben nicht der Aufhalter oder unverbesserliche Rückschrittler, zu dem ihn die politische Denunziation macht – er schreitet im Gegenteil voran, wenn es darum geht, etwas Vergessenes wieder in die Erinnerung zu bringen. Er denke zwar «begründet pessimistisch», «aber nicht etwa, weil die Zeiten so schlecht geworden sind, sondern weil zu allen Zeiten des Menschen Lauf auf Erden bitter ist.«
Hier ist die Verbindung zu Gómez Dávila sehr deutlich, denn auch er sympathisierte mit dem Reaktionär, der «das paradoxe Wesen der Handlungen, der Menschen, der Welt« »zu sehen weiß«. Dennoch ist für ihn der Reaktionär am Ende machtlos. Es ist ihm, so Gómez Dávila, »nur noch möglich, apodiktische Urteile zu verkünden, die dem Leser schwer im Magen liegen.« Hieraus folgt, dass er heute »bloß ein Passagier« sei, »der mit Würde Schiffbruch erleidet«.
Es lassen sich in Strauß’ Essays durchaus kulturpessimistische Ingredienzien finden, etwa der Seufzer, dass man »morgen…ohnehin alles lesenswerte nur noch in Antiquariaten und Bibliotheken« finden wird. Oder die Feier die »goldenen Vorvergangenheit« (gegen den »ewigen Fortschrittssegen«) in einer Peter-Stein-Inszenierung, Und der Enthusiasmus für die Bühnenkunst ist bei ihm schon 2010 mit dem Befund, dass das Theater »zum Reservat für unantastbare Dummheit und Bildungsferne« mutiert sei, an sein Ende gekommen. Dann wiederum finden sich kämpferische Attitüden, etwa im Appell, »neue unzugängliche Gärten [zu] bauen.«
Mystisch-lyrischer Seelengesang
2021 versuchte Strauß mit dem sprachspielerisch an Goethes letzte Worte anspielenden Titel Nicht mehr. Mehr nicht, mäandernd-kollagierte Szenerien abermals in einen Roman einzumanteln. Es sind, wie es im Untertitel heißt, »Chiffren für sie«, für Gertrud Vormweg, die sich auch Dido oder Elissa nennt, eine von ihrem Liebhaber Lionardo, einem Flüchtling, verlassene Frau, eine »Enttäuschte, die sich lieber in die Ruinen ihres dreißigsten Jahres verkriecht als sich ihrer Kraft und Reife zu erfreuen« und sie hebt nun an – mal als Ich, mal kokett als »sie« – zu einem großem, mystisch-lyrischen Seelengesang. Sie versteht sich nicht nur als Wiederkehrerin der Erbauerin von Karthago und wechselt phasenweise in eine Art weiblicher Odysseus, die mit ihrem Flüchtling auf einem Schiff nach Hause kommt, sondern auch noch Lyrikerin und, vor allem, Liebende. Es gibt Anleihen an andere antikische Helden, die in die Gegenwart projiziert werden. Am originellsten ist die Bemerkung zu Fama, die als »der erste Nachrichtensatellit« beschrieben wird.
Viele von Strauß’ Themen finden sich wieder. Wie das Scheitern von Kommunikation (das Wort wird durchgängig kursiv gedruckt, als sei es eine absurde Behauptung, die nur zitiert wird). Oder der Vergang der Sprache, dem Strauß wuchtig-trotzig gegen die »Mailheld-Maulhelden« entgegensetzt: »Nur Sprache, die glüht, kann geschmiedet werden.« Schreiben ist, wie es fast nebenbei heißt, eine »dem Leben beiläufige Bewegung«, eine Übung in »zarten Zwischentönen«, dem »Durchschein der Dinge, den Übergängen, dem Dunst, dem Schimmer« verpflichtet, »den verwischten Konturen eine neue Chance« gebend. Aber irgendwann findet sich die größte Furcht des Schreibenden, gut versteckt, wenn sie bedauert werden, die »das Herannahen ihrer Verdunklung spüren und ihr Talent verlieren.« Dazu passt die Aufforderung, gerichtet an jene, die mit Worten agieren »wie andere mit Münzen klimpern in der Hosentasche: Beim Verlassen der Sprache bitte die Tür hinter sich schließen.« Man müsste sich aus diesem Satz ein Türschild basteln.
Aber bisweilen blitzt eben doch Resignation auf. Oder ist es Realismus? »Es ist nicht die Zeit für große Entwürfe; es ist die Zeit für das Verwerfen großer Entwürfe«, schreibt er den selbsternannten Visionären und Progressiven ins Stammbuch, ähnlich Handke, der einst seine Nova in Über die Dörfer für die kleinen Dinge und deren Widmung deklamieren ließ.
Melancholischer Pierrot und Diener
Und nun, zwei Jahre später, zum Achtzigsten, ein Lebensbilanzbuch? Das Schattengetuschel ist der Titel und der Leser erinnert sich an eine Passage zu Beginn von zu oft umsonst gelächelt, fünf Jahre zuvor, als der Ich-erzählende Dichter seinem jungen Freund auf »Not und Erschrecken angesichts der Zeugschwäche der Worte« aufmerksam machte. »Daß sie«, die Worte, »nichts mehr hervorrufen, keine Farbe, keine Stimmung, keine Verständigung; daß sie keinen Lichthof, keine Resonanz mehr haben. […]. Daß Worte insgesamt ein leeres, vergebliches Schattengetuschel sind.«
Also ein Trotzbuch, ein Widerstandsakt gegen den eigenen Argwohn? Oder ein Einrichten im »Schattengetuschel« der Literatur? In drei Abschnitte ist dieses Buch unterteilt, immer spärlicher werden die Szenen ausgestattet bis am Ende, im dritten Teil, der »Sätzemacher« dominiert, der (bekannte) Aphoristiker, oft genug ohne Pointe (wie sich das gehört).
»Der Vorhang geht auf. Man sieht Menschen beim Leben erwischt«, heißt es einmal und erinnert sich an Die Zeit und das Zimmer, inszeniert von Luc Bondy (mit einer hinreißenden Libgart Schwarz). Es kommt einem vor, als gäbe es eine irgendwie geartete Fortsetzung oder vielleicht Ergänzung, mit anderen Protagonisten, in einer anderen Zeit, in einem anderen Zimmer in einer anderen Umgebung, in der »die geheimen zwischenpersönlichen Fluktuationen« ausgestellt werden. Dabei gibt neben den bei Strauß üblichen Skurrilitäten bisweilen loriothaft-heitere Szenen, wie etwa jene von einem Familienurlaub im Hochgebirge (und der Suche nach dem geeigneten Hotelzimmer). Oder es geht um das Erbe einer Frau bestehend aus »an die hundert Acryl-Porträts ihrer Scham«. In einer anderen Geschichte gibt es einen Theaterstatisten, der kurz vor der Premiere auf der Suche nach einem für ihn geeigneten Kostüm ist.
Strauß ist und bleibt auch im neuen Werk ein Komödiant. Freilich weniger Harlekin als melancholischer Pierrot. Dazu passt, dass sich der Dichter häufig ins Wort fällt und seinen Fähigkeiten bisweilen zu misstrauen scheint: »Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.« Einmal wird über einen fiktiven Autor Mansholt berichtet, für den es »keine erzählten Geschichten« gab, »keine Handlungsverläufe — nur und allein Sphäre, Hülle und ›Sillage‹ (das Nachwehen eines Dufts) waren für ihn von Interesse.«
Der Dichter identifiziert sich mit Firs, dem Diener aus Tschechows Kirschgarten, sieht sich als dessen Diener, als Nacherzähler und findet eine Metapher auf die Gegenwart: »Die neue Herrschaft läßt auch Erlen, Lärchen, Buchen abholzen, nicht nur den Kirschgarten, und wir bleiben noch eine Weile frierend eingesperrt im letzten Innenraum.« Verblüffend eine zeiweise aufflammende Nähe zu Samuel Beckett, den man mit Strauß bisher kaum in Verbindung brachte. Da wird »alle Erinnerung gelöscht« und »in knisternden Nebel getaucht«. Romane sind »nur noch Stoff und Mitgeteiltes, also Brennholz für den Innenraum«. Man wird in ein Geschäft geführt, »das wohl nie ein Kunde betrat« und ein »Fontänist«, »Erfinder einer transportablen Anlage für »neuartige« Wasserspiele«, bleibt notorisch erfolglos: »Es war wieder nichts. Kein Auftrag, nicht mal ein Vertrösten auf ein nächstes Mal…«
Gleichzeitig flammt immer wieder ein Ideal auf, wenn etwa die »Schönheit unserer leisen, radikalen, verschworenen Verständigung« beschworen wird, als Möglichkeit einer Freundschaft, eines Zusammenseins, um dann, im Alter, in heiterem Verzagen zu konstatieren: »Irgendwann betrachtet man seine Tage nicht mehr nach Verläufen und Entwicklungen, sondern nach den Einschlagkratern, die die Meteoriten der Abschiede hinterlassen haben.«
Klartext
Über die von Strauß immer wieder aufgeführte Vergänglichkeit des Theateraugenblicks findet sich eine schöne Szene, in der jemand versucht, Zeugen zu finden, die ihre Eindrücke »von Bernd Schierers so kluger und bildprächtiger Aufführung von Ferdinand Raimunds ›Der Alpenkönig und der Menschenfeind‹« von 1973 noch einmal aufleben lassen. Nicht nur in dieser Kurzerzählung läuft der Protagonist, wie es einmal heißt, »durch ein Lagerhaus voll halbverschütteter Lebensräume, in denen sich eben noch etwas regte.«
Aber dann wieder ein trotziges Aufraffen. »Die Religiösen verstehen sich aufs Deuten. Die Ungläubigen brauchen Klartext.« Klar, was gemeint ist. »Die Unkenntnis vom Tod beim Tier entspricht unserer vom Sinn des Lebens. Erst im letzten Erschrecken erfährt das Tier vom nie geahnten Tod.« Und wir, die vom Tod wissen?
»Statt Nietzsches Hammer, der Götzen zertrümmerte, braucht es heute ein Laserskalpell, um die Tumore der Gesinnung aus der Hirnrinde zu entfernen«, deklamiert eine Figur einer Szene wider die Ideologisierungen. Aber das sind nur Strohfeuer, denn »diesen stillen und mitleidlosen Mann beschleichen auf einmal die furchtbarsten Verluste: ›Mir, mir entziehen sich die großen Werke‹, klagte er…«
Und so treibt der Leser zwischen Be- und Verwunderung, zwischen Aufruhr und Resignation, schließlich kommt man zum »Sätzemacher«, der den »Tod des Aphorismus« fordert und wenig später aphoristisch über den Tod des Vaters sinniert, der ihn »nur verlassen« habe, um ihn »nie zu verlassen.« Nur einmal wird Strauß das, was man deutlich nennt, was die Feuilletonisten einnehmen wird, weil es so einfach ist. Es geht um den Krieg in der Ukraine und das deutsche Verständnis vom Soldaten und er fragt, ob man in den »Tagen, da ukrainische Soldaten einen verzweifelten Abwehrkampf gegen die russische Aggression leisten, daran erinnern [darf], daß bei uns im Jahre 1994 der Bundesgerichtshof festlegte, der Tucholsky-Spruch ›Soldaten sind Mörder‹ sei eine erlaubte Meinungsäußerung, jedoch keine strafbare Beleidigung?«
Am Schluss sitzt der »verwirrte alte Dramatiker« im Parkett des Theaters, bevor er, der Unbefugte, »sanft, aber nachdrücklich hinausgebeten« wird. Auch, nein: besonders deutlich in Das Schattengetuschel gelingt es Botho Strauß, die Wirklichkeit zu zerlegen, aber auch zu verzaubern und augenblicksweise zu überwinden. Danach wird jedes Anschauen von Menschen in ihrem Leben zu einem Ereignis und plötzlich begreift man, durch welche Schule man bei der Lektüre der Bücher von Botho Strauß gegangen ist. Und doch: Man wird ihm nie beikommen, diesem letzten großen, deutschen Dichter.
Mittlerweile bin ich alt genug, es gut zu finden (oder ist das schon in einer dialektischen Spannung mit ’sich abfinden’?), dass man mit manchen Schreibern nie fertig wird. Die Schwierigkeit bei Leuten wie Botho Strauß ist, dass man bei dessen »Selbstfragmentierung« leicht ein bisschen die eigenen eroberten Hauptlinien verlieren kann. Vielleicht von daher der Eindruck, ich fange immer wieder von Neuem an?
(Es gab übrigens mindestens schon mal eins solcher Kompendien, Volker Hages ‘Gedankenfluchten’ bei Suhrkamp – das Inhaltsverzeichnis verweist schon auf die Vorbehaltlichkeit von so etwas wie einer thematischen Sortierung. ‘Botho Strauß ist nicht zu fassen’.)
Aber gibt es noch Neues? Ich habe mich dazu entschlossen, meine Ermüdung am Neuen (Aktualitäten, Betrieb, Buchpreis etc.) legitim zu finden. Dazu passt ein Satz von Luis Bunuel, der mich seit Längerem umtreibt: »Alles, was nicht Tradition ist, ist Plagiat«. (Ob der Satz stimmt, weiß ich nicht, aber er erlaubte einem doch zu allem Möglichen eine gleich Erleichterung verschaffende Haltung.)
Ich hatte mir vor Wochen Ludwig Hohl noch mal rausgenommen, ‘Von den hereinbrechenden Rändern’.
»Wehe dem Schriftsteller, der nach Gehalt strebt. Nichte Tiefe, Reinheit sei dein Ziel!« (Nachnotizen 212)
Und in der neuen Volltext ist ein erhellender Aufsatz von Philipp Theisohn (‘Denken nach Botho Strauß’), der mich ein bisschen aufgestört hat und der noch mal eine eigene Ver-rückung in Bezug auf BS zu erlauben scheint.
»Überall schiebt sich Text vor das Leben. / Der Text als ‘Schauspiel’, die Leser als ‘Chor’. / Heilige Alterität ... Wiederanschluss an die lange Zeit, die unbewegte. / Schreiben bedeutet, im Wartezustand auszuharren.«
Und so weiter. Ich hör da ziemlich viel Maurice Blanchot, dem Rauner der Endlichkeit.
Obwohl ich spontan einverstanden bin mit Ihrem Fazit vom letzten großen, deutschen Dichter, denke ich zugleich, man muss sich Geister wie BS als gescheiterte vorstellen: Er weiß, dass er der letzte ist. Auch die großen Einzelgängergesten gehen letztlich ins Leere, auch der Eingeweihte kann sich über nichts sicher sein, und jeder ‘Sätzemacher’ trifft beim Verlassen der Sprache auf neue Mauern. Dafür ist die ‘unhaltbare Position’ vielleicht die dieser Zeit angemessenste. Die letztmögliche?
Ich warte noch auf Theisohns Buch; es soll in diesen Tagen erscheinen. Ich gestehe, dass ich mit seinem Aufsatz im Volltext wenig anfangen kann.
Sicher ist Strauß ein Autor, mit dem man schlecht »fertig« wird. Der einst gefeierte Theaterautor hat ja längst »seine« Regisseure und »seine« Schauspieler verloren. Das neueste Stück Saul – es ist von 2019 – wurde meines Wissens bisher noch nie aufgeführt. Nix für die Kasperbude. Nicht einmal dieses großartige Stück Die Zeit und die Zimmer dürfte heutzutage kongenial zu inszenieren sein. Es fehlt schlicht das Personal. Auf vielen Ebenen.
Und ja, die Kulturkritik von Strauß, die immer wieder herausschimmert, ist etwas, das man mal ganz nett findet, in der Häufung dann aber eher lästig wird. Ich bin ja geneigt zu glauben, dass sich Strauß einen Spaß mit uns macht. Daher schätze ich vor allem seine szenische Prosa über Menschen, deren Illusionen und Scheitern, die Deduktionen, die er aus beispielsweise Gesten entwickelt und ertappe mich dabei bisweilen selber, sofern ich mich noch unter Menschen bewege.
Ob er gescheitert ist? Das würde bedeuten, dass da eine Ambition jenseits des jeweiligen Werkes war. Welche soll das gewesen sein? »Der Kulturpessimist«, so schreibt Strauß im Bocksgesang, »hält Zerstörung für unvermeidlich. Der Rechte hofft hingegen auf einen tiefgreifenden, unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalität...« Wäre das also der Ausweis des Scheiterns? Dass eben die Beharrungskräfte (mit ihren linken Idealen) reüssiert haben? In einem Postskriptum ein Jahr nach der Veröffentlichung des Bocksgesangs schreibt er: »Es droht von der Linken keinerlei geistige Anregung mehr; sie wird sich allenfalls beteiligen an der Organisation des gesellschaftlichen Zerfalls in Form der politischen Korrektheit.« Das finde ich eine ziemlich gelungene Prognose. Nur: Was fängt man damit an?
Noch gelingt es mir nicht ganz, mich von der Tagesaktualität des Betriebs zu verabschieden. Aber es wird. Langsam.
[wegen Belanglosigkeit gelöscht – s. hier / G. K.]