Wel­ten und Zei­ten XIV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Zwei Bü­cher über die Trau­er. Nicht ir­gend­ei­ne Trau­er, son­dern die Trau­er nach dem Tod ei­nes ge­lieb­ten Men­schen. Das ei­ne ist ein Ro­man, das an­de­re läßt sich gen­re­mä­ßig kaum zu­ord­nen, läuft aber chro­no­lo­gisch, da­bei mehr­schich­tig, wie ein Ta­ge­buch ab. Bei­de Bü­cher wur­den un­ge­fähr zur glei­chen Zeit ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht; der Ro­man stammt von Sa­bi­ne Gru­ber, das Trau­er­ta­ge­buch, fast ei­ne Art An­ti-Ro­man, von Ol­ga Mar­ty­n­o­va. Hier ein klei­ner Ent­wick­lungs­ro­man, der er­zählt, wie je­mand durch die Pha­sen der Trau­er geht und die Trau­er letzt­lich über­win­det. Dort die Ge­schich­te ei­ner Ver­wei­ge­rung, in­so­fern die Be­trof­fe­ne in ih­rer Trau­er als in ei­nem Zu­stand zwi­schen Tod und Le­ben ver­harrt und die­sen im Grun­de gar nicht ver­las­sen will.

Die bei­den Bü­cher sind al­so trotz des ge­mein­sa­men The­mas gar nicht ver­gleich­bar. Viel­leicht kann man so­wie­so kei­ne Bü­cher ver­glei­chen, aber ne­ben­ein­an­der­stel­len kann man sie wohl: mit­ein­an­der be­kannt­ma­chen. Nicht Er­kennt­nis, nicht Be­kennt­nis, son­dern Be­kannt­nis.

Ol­ga M. hat mich ein­mal nach dem shis­ho­setsu ge­fragt, ja­pa­nisch für »Ich-Ro­man»1. Ob ich so et­was schrei­ben wür­de? Ich ha­be im­mer noch kei­ne Lust, dar­auf zu ant­wor­ten, aber die Fra­ge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich ver­su­che, mich schrei­bend von mei­nem Ich zu lö­sen, doch es ge­lingt nie­mals. Es kann nicht ge­lin­gen, das weiß ich, und ver­su­che es trotz­dem, im­mer wie­der: Si­sy­phus auf dem Pla­teau. An­ders ge­sagt: ein über sich selbst re­flek­tie­ren­der Si­sy­phus. Da ist kein Berg, kein im­mer schnel­ler wer­den­der Stein oder Schnee­ball, nur ei­ne end­lo­se Ebe­ne, wei­te­ster Ho­ri­zont, mit stram­men Grä­sern und Sin­nes­täu­schun­gen, aben­teu­er­lich wie die Pam­pa. Aben­teu­er der Phan­ta­sie, des Ritts über den Bo­den­see.

Ich woll­te nicht von mir er­zäh­len, we­nig­stens jetzt nicht. Sträu­ben wir uns ge­gen den Ich-Ro­man. Das Er­leb­te, das ei­nem na­he­geht, und tief­geht, kann man durch Fik­tio­na­li­sie­rung nur lä­cher­lich ma­chen, aber nicht ver­ste­hen, schon gar nicht über­win­den. Man muß ihm in die Au­gen se­hen, wie es ist. Des­halb hat der Ro­man aus­ge­dient, ein­schließ­lich der so­ge­nann­ten Au­to­fik­ti­on. Der Ro­man bleibt nicht auf der Hö­he der rea­len Er­fah­run­gen und Ge­füh­le, er kann die­se nur ab­schwä­chen, und wenn es um den Tod geht, wür­de ich so­gar das Wort wa­gen: ent­wei­hen.

Den­sel­ben Feh­ler wer­de ich – schon wie­der ich – in ei­nem ge­plan­ten, nein: ge­dach­ten, nein: er­ahn­ten oder ge­fühl­ten Ro­man mit dem einst­wei­li­gen Ti­tel »Der stei­ner­ne Gast« ma­chen, falls mir Zeit bleibt, ihn zu schrei­ben: Das Er­leb­te, le vé­cu, drängt mich da­zu (bil­de ich mir ein), und da­zwi­schen, zwi­schen dem Er­leb­ten und der Zeit, al­so dem Tod, wer­de ich mög­li­cher­wei­se auf­ge­rie­ben oder durch äu­ße­re Um­stän­de ver­nich­tet. Sei’s drum, Ro­man­schrei­ben ist Sich-lä­cher­lich-ma­chen. Oder bes­ser: das Ge­leb­te Er­träg­lich-ma­chen.

Ol­ga da­ge­gen bleibt in Ge­spräch über die Trau­er auf der Hö­he des re­al Ge­sche­he­nen, Ge­fühl­ten. Sie hält sich auf die­ser schie­fen Ebe­ne, dem Berg des Si­sy­phus und der Eu­ry­di­ke. Sie er­fin­det nichts hin­zu, mil­dert nichts ab, macht nichts er­träg­lich. Ihr Ge­spräch über die Trau­er ist mehr als ein Ro­man. »Mehr« in­so­fern, als sie in die Trau­er ein­dringt wie – im Hai­ku von Matsuo Bas­ho – der Ton der Zi­ka­de in den Stein. Es ist ein Boh­ren und Sir­ren, auch Stil­le ge­nannt. Ein­drin­gen in die Trau­er, viel­leicht so­gar: um dort ge­bor­gen zu sein. (Nicht: um durch sie hin­durch­zu­ge­hen.) Oh­ne Ver­bin­dung zu den Le­ben­den. Ein­dring­lich. Durch­dring­lich.

shi­zu­ka­sa ya
iwa ni shi­mi­iru
se­mi­no koe

Noch ein­mal an­ders ge­sagt: Fik­tio­na­li­sie­ren ist ein Akt des Pro­fa­nie­rens, des Ent­hei­li­gens. Ein Akt des Ex­or­zis­mus, der Aus­trei­bung des Er­leb­ten. Am En­de al­so doch: Trau­er­ar­beit, die auf ein Er­geb­nis ab­zielt. Der Ich-The­ra­peut, der sich so viel Mü­he ge­ge­ben hat, will ein Er­geb­nis se­hen. Frü­her oder spä­ter. Li­te­ra­tur als The­ra­pie? Aber han­delt es sich denn um ei­ne Krank­heit? Sind wir nicht al­le­samt Trau­ern­de? Ol­ga M. wür­de nicht so re­den. Der Ro­man als Tum­mel­platz der Ge­schwät­zig­keit.

Da bin ich wie­der. Als Le­ser bei­der Bü­cher fra­ge ich, auf mich selbst zu­rück­ge­sto­ßen, mich: Wie hast du ei­gent­lich dei­ne To­ten be­trau­ert? (Kann man das, soll man das: be­trau­ern? Brau­chen die To­ten das? In der ja­pa­ni­schen My­tho­lo­gie, wo sich Shin­to- und Bud­dhis­mus mi­schen, brau­chen die To­ten sehr wohl den Bei­stand der Le­ben­den.) Nun ja, ant­wor­tet das Ich aus ei­ni­ger Ent­fer­nung von mir, nun ja, ich ha­be auf die­ser Kar­te noch nicht viel auf­zu­wei­sen. Der letz­te Tod, der mir na­he­ging, liegt vier­zig Jah­re zu­rück, und selbst da zweif­le ich, ob er mir wirk­lich na­he ging. In ge­wis­ser Wei­se lebt man frei­er, wenn die an­de­ren nicht mehr da sind. L’enfer, c’est les aut­res: das sagt sich leicht, am En­de ist es auch nur ei­ne bil­li­ge Pro­vo­ka­ti­on. Die Höl­le, das sind die an­de­ren: Ja, aber es gibt Ab­hil­fe. Und ei­nen gro­ßen Hel­fer.

Mei­ne Mut­ter starb früh, im sel­ben Al­ter wie Oleg Jur­jew, noch nicht sech­zig. Die mei­sten Men­schen ster­ben früh, die Wei­ter­le­ben­den sa­gen: zu früh. (An­de­re ster­ben zu spät oder kür­zen den Weg ab.) Bei Men­schen, mit de­nen ich be­freun­det war, die ich moch­te, mit de­nen mich ir­gend et­was ver­band, war oder ist mein Emp­fin­den nach ih­rem Tod Schick­sals­er­ge­ben­heit, wenn nicht Gleich­gül­tig­keit: Ih­re Zeit war ge­kom­men. So denkt und spricht der Tod im Je­der­mann, so denkt und spricht der Tod im­mer: Jetzt bist du dran, es ist an der Zeit, komm mit. Al­so spre­che ich hier wie der Tod? In sei­nem Na­men? Aber wir sol­len doch auf der Sei­te der des Le­bens ste­hen. Um auf der Sai­te des Le­bens den Tod zu spie­len. Ver­nich­ten­de Dia­lek­tik! Sai­te um Sei­te. Ka­lau­er?

Ei­ni­ge Freun­de, auch Schrift­stel­ler, muß­ten sich früh ver­ab­schie­den. Selt­sam, sie feh­len mir nicht. Als sei es ih­re Rol­le, nicht da zu sein in meinem/unserem Le­ben. Der Tod mei­nes Va­ters – nicht zu früh, nicht zu spät – hat mich nicht ge­trof­fen, ob­wohl ich ihn, den Va­ter, seit­her mit freund­li­che­ren Au­gen se­he. De mor­tuis ni­hil ni­si be­ne, der al­te Spruch. Nein, auch der gilt nicht, aber ei­ne mil­dern­de Wir­kung hat der Tod doch. Und wenn sich der Wald noch mehr, noch viel mehr lich­tet und du in ei­ner end­lo­sen Lich­tung stehst, um dich nichts als blen­den­des Licht wie in ei­ner Wü­ste? Das will ich jetzt nicht vor­weg­neh­men. Ei­nen Freund, Schrift­stel­ler auch er, er­schüt­ter­te der Tod sei­ner Schwe­ster auch des­halb, weil nun nie­mand mehr da war, der sei­ne Kind­heit mit­er­lebt hat­te. Mir, mit mei­nen sie­ben jün­ge­ren Ge­schwi­stern, wird das nicht ge­sche­hen.

Ein schö­nes Bei­spiel für die pen­deln­de Le­bens­form, für das Hin und Her zwi­schen zwei Or­ten und At­mo­sphä­ren, die mit­ein­an­der kon­fron­tiert wer­den: Past Li­ves, der Film von Ce­li­ne Song. Seo­ul und New York Ci­ty. In mei­nem Le­ben, shis­ho­setsu, sind das – frü­her – Bue­nos Ai­res und Osa­ka, jetzt Wien und Hi­ro­shi­ma. Sehr pro­duk­tiv als Schar­nier für Ro­ma­ne, sol­che Ge­gen­über­stel­lun­gen. In­ter­kon­ti­nen­ta­les Pen­deln als Form der trans­ver­sa­len Äs­the­tik. Das er­gibt kei­ne Rei­se­be­rich­te im her­kömm­li­chen Sinn, son­dern die­se un­greif­ba­ren, wei­ten, epi­schen, wo­gen­den – ich bor­ge mir mal ein Wort: Text­fel­der. Text­fel­der mit Fi­gu­ren. Fi­gu­ren mit Um­ris­sen, ab­ge­grenzt von­ein­an­der. Die sich be­geg­nen, oder auch nicht. Die sich in­ein­an­der spie­geln. La­can mein­te ja, Kom­mu­ni­ka­ti­on sei nichts als Spie­ge­lung. Hab ich ihn rich­tig ver­stan­den?

Auch das Sky­pe-Hin-und-Her, das ich mitt­ler­wei­le selbst be­trei­be. Je­des Hin und Her, je­des Te­le-pho­nie­ren er­for­dert ei­ne Öff­nung. Die Öff­nung zum an­de­ren, egal wo, egal wie. Fern­ge­sprä­che. Oh­ne Te­le­phon kei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on. Das ist kein Ka­lau­er.

In ei­nem so­ge­nann­ten In­ter­view, ei­ner Vi­deo-te­le-pho­nie, fragt Chri­sti­an Schacher­rei­ter Karl-Mar­kus Gauß: »Es gibt so vie­le klu­ge Bü­cher von dir, Es­says, Jour­na­le, Rei­se­li­te­ra­tur. Hat es dich nie ge­reizt, ei­nen Ro­man oder Ly­rik zu schrei­ben?«

Ant­wort: »Ly­rik nicht, aber ich glau­be, dass ich in mei­nen Bü­chern, auch wenn sie nicht als fik­tio­na­le Li­te­ra­tur gel­ten, stark vom Er­zäh­len Ge­brauch ma­che. Es ist nicht al­les, was ich ge­schrie­ben ha­be, zu hun­dert Pro­zent ver­bürgt. Ich ge­he zwar von Fak­ten aus, ar­bei­te aber manch­mal be­wusst mit Fik­tio­nen, da­mit die Fak­ten bes­ser er­kenn­bar wer­den.«

Fik­ti­on im Dienst der Tat­sa­chen. Auch um­ge­kehrt (aber das ist ein al­ter Hut). Sie­he da­zu mei­ne al­te The­se, daß wir oh­ne Fik­ti­on über­haupt nicht er­zäh­len könn­ten. Man muß nicht gleich lü­gen – aber wo ist die Gren­ze? – wie je­ner Au­tor, der neu­lich auf ei­ner Par­ty er­zähl­te, er ha­be Keuch­hu­sten, und so­gleich zu hu­sten be­gann, um ei­ner Um­ar­mung zu ent­ge­hen, die ihm nicht be­hag­te. Ein Mann, der in ei­nem fort lügt und sich ei­nen Spaß dar­aus macht. Er un­ter­schei­det nicht zwi­schen Kunst und Le­ben.

Ganz an­ders An­nie Er­naux, bei ihr geht es nur um die Wahr­heit und nichts als die Wahr­heit. Oder doch eher um Tat­sa­chen – aber oh­ne Tat­sa­chen kei­ne Wahr­heit. Wie war es wirk­lich, im Som­mer 1958? Was kann die Er­in­ne­rung zu­ta­ge för­dern? Al­lein der Weg zu den Tat­sa­chen ist span­nend; in die­sem Weg liegt die Span­nung des Er­zäh­lens. Das er­gibt ei­ne Pro­sa ganz oh­ne Me­ta­phern, über­haupt nicht fun­kelnd. Ähn­lich Tho­mas Mann, in ei­nem ganz an­de­ren Re­gi­ster, der hat auch fast kei­ne Me­ta­phern ver­wen­det. Und doch ha­ben ih­re Bü­cher er­zäh­le­ri­sche, so­gar poe­ti­sche Kraft. Eben durch die Ge­nau­ig­keit und In­ten­si­tät des Er­in­nerns. Aber ganz an­ders als Proust, der in Er­in­ne­run­gen schwelg­te und sich um Über­ein­stim­mung mit dem Fak­ti­schen we­nig küm­mer­te. In Er­in­ne­rung ei­nes Mäd­chens zi­tiert Er­naux ein Ge­dicht, das sie als Mäd­chen ge­schrie­ben hat­te, und sieht dar­in ei­ne »Kas­ka­de von Me­ta­phern«. Ich fin­de dort kei­ne ein­zi­ge Me­ta­pher. Je­de Un­schär­fe gilt ihr als me­ta­pho­ri­scher Stil, und den mei­det sie, er­wach­sen ge­wor­den, wie die Pest. (Viel­leicht soll­te man auf deutsch bes­ser sa­gen: blu­mig, ein blu­mi­ger Stil. Fleu­ri, auf fran­zö­sisch.)

Aber, wen­de ich ein, das Le­ben be­steht nicht nur aus Tat­sa­chen. Das Ent­schei­den­de, wenn ich schrei­be und et­was wie­der-ho­len will, ist doch ei­ne be­stimm­te At­mo­sphä­re, ein Le­bens­ge­fühl, und da­für gibt es kei­ne Be­wei­se. Man kann das nur wie­der­ho­len, in­dem man es neu macht. In Er­naux‘ Er­zäh­lun­gen sind kei­ne At­mo­sphä­ren, weil sie Un­schär­fe nicht zu­las­sen. Das hat mich als Le­ser frei­lich nicht ge­stört.

Das Ge­sche­hen in der Ge­gen­wart, das man nicht all­sei­tig re­flek­tie­ren kann, wenn man mit­ten­drin ist, hät­te al­so den Sta­tus von Wirk­lich­keit, das spä­te­re Er­in­nern dar­an den Sta­tus von Un­wirk­lich­keit (auch im Sin­ne von Vir­tua­li­tät). Und das Schrei­ben? Al­so nicht die un­will­kür­li­che Er­in­ne­rung, mé­moi­re in­vo­lon­tai­re, son­dern die ab­sicht­li­che, ar­bei­ten­de, schür­fen­de Er­in­ne­rung? Die Er­in­ne­rung als Ar­beit des Schrei­bens? Sie hat dann doch das Ziel, we­nig­stens an die ver­gan­ge­ne Wirk­lich­keit zu rüh­ren, und geht in­so­fern über »blo­ßes« Er­in­nern hin­aus. Er­naux: »Wenn ich dem Jahr 1958 auf den Grund ge­hen will, muss ich die Zer­stö­rung al­ler In­ter­pre­ta­tio­nen ak­zep­tie­ren, die sich im Lau­fe der Jah­re an­ge­sam­melt ha­ben.« Dem­nach er­hel­len In­ter­pre­ta­tio­nen nicht die Rea­li­tät, son­dern ver­schüt­ten sie. Die Ar­beit des Schrei­bens wä­re ein Ab­tra­gen von In­ter­pre­ta­tio­nen, von Wer­tun­gen und son­sti­gen Ge­dan­ken über das Vor­ge­fal­le­ne, so lan­ge und so hart­näckig, bis die Ar­bei­ten­de end­lich zum Roh­stoff vor­ge­drun­gen ist.

Er­naux stellt hier die »ro­man­haf­te Il­lu­si­on« ih­rem ei­ge­nen, qua­si in­ve­sti­ga­ti­ven Schrei­ben ge­gen­über. Rac­con­to-in­chie­sta nann­te das der Kri­mi-Au­tor Leo­nar­do Scia­scia, dem die on­to­lo­gi­sche Schwie­rig­keit, je­mals zu den rei­nen Fak­ten vor­zu­drin­gen, be­wußt war. Fik­tio­nen emp­fin­det die Au­torin als un­ge­nü­gend. Aber kön­nen wir oh­ne sie le­ben?

Kein Wun­der, daß sich Er­naux über den Ge­brauch von Fo­tos beim Schrei­ben Ge­dan­ken ge­macht hat (L’u­sa­ge de la pho­to, 2005) und für ih­re Buch­co­ver oft Fa­mi­li­en­pho­to­gra­phien ver­wen­det. Aber auch hier­zu wie­der die Fra­ge: Kann die Pho­to­gra­phie denn zur ro­hen Wirk­lich­keit vor­drin­gen? Kann sie sie fest­hal­ten? Ist sie wirk­lich die bes­se­re Rea­lis­mus-Ma­schi­ne?

Wie geht Er­naux ei­gent­lich vor, was ist ih­re Me­tho­de? In Das Er­eig­nis, je­ner Er­zäh­lung, die sich um ei­ne il­le­ga­le Ab­trei­bung dreht, spricht sie von »aus­rei­chen­den Be­wei­sen, um die Tat­sa­chen zu si­chern« – ei­ne fast kri­mi­na­li­sti­sche oder wis­sen­schaft­li­che Hal­tung. An­de­rer­seits be­tont sie, daß sie in je­des ein­zel­ne Bild »hin­ab­stei­gen« möch­te – das wä­re dann aber mehr als blo­ße Be­schrei­bung.

Gibt es der­zeit, Mit­te der zwan­zi­ger Jah­re des 21. Jahr­hun­derts, ei­ne Kon­junk­tur von Mut­ter-Bü­chern? Ich glau­be nicht, denn je­der Au­tor hat ei­ne Mut­ter und ei­nen (manch­mal ab­we­sen­den oder un­be­kann­ten) Va­ter, und vie­le ver­spü­ren frü­her oder spä­ter das Be­dürf­nis, über sie oder ihn zu schrei­ben. Mut­ter­nichts von Chri­sti­ne Ves­co­li, Bild­nis mei­ner Mut­ter von Wolf­gang Her­mann, zwei sehr un­ter­schied­li­che Bü­cher, letz­te­res in sehr schlich­ter Spra­che, die do­ku­men­ta­ri­sche Ab­sicht un­ver­kenn­bar, er­ste­res vol­ler star­ker, sich ten­den­zi­ell ver­selb­stän­di­gen­der Me­ta­phern, die gleich­sam das Nichts ei­ner sprach­lo­sen Exi­stenz um­krän­zen. Für mich ist Hand­kes Wunsch­lo­ses Un­glück (1972) im­mer noch ei­ne Art Pro­to­typ heu­ti­ger Mut­ter-Er­zäh­lun­gen, au­ßer­or­dent­lich prä­zi­se und wohl­kom­po­niert, ob­wohl das Buch in kur­zer Zeit und, stel­le ich mir vor, wie in Trance ge­schrie­ben wur­de. Knapp ge­faßt die Vor­ge­schich­te der Fa­mi­lie, so­zio­lo­gisch prä­zi­se und gleich­zei­tig ein­fühl­sam. Ei­ne Men­ge von Sze­nen und De­tails ein­ge­bracht (wie in ei­ne Scheu­ne) oh­ne Sor­ge dar­um, ob sie nun der ro­hen, d. h. ver­gan­ge­nen Wirk­lich­keit ent­spre­chen oder nicht, doch beim Le­sen hat man das Ge­fühl: Stimmt, ge­nau­so war es. Man kann es sich vor­stel­len, es ist glaub­wür­dig. Nicht rea­li­stisch, son­dern vor­stell­bar und glaub­wür­dig. Will­kür­li­ches oder un­will­kür­li­ches, me­tho­di­sches oder spon­ta­nes Er­in­nern – egal. Wahr­schein­lich das al­les ver­mischt.

Da­mals, An­fang der sieb­zi­ger Jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts, er­gab sich im Rah­men der so­ge­nann­ten Neu­en In­ner­lich­keit tat­säch­lich et­was wie ei­ne Kon­junk­tur von li­te­ra­ri­schen Mut­ter- und Va­ter­su­chen, zu de­nen Ka­rin Strucks Buch Die Mut­ter (1975) zähl­te. Der er­grimm­te Hand­ke kan­zel­te es im »Spie­gel« als an­kla­gend und sche­ma­tisch ab – ob zu­recht oder zu un­recht will ich hier gar nicht dis­ku­tie­ren, je­den­falls scheint die Kar­rie­re der Au­torin nach die­ser Re­zen­si­on ans En­de ge­langt zu sein. Der Sub­jek­ti­vis­mus je­ner li­te­ra­ri­schen Strö­mung steht im schrei­en­den Kon­trast so­wohl zum Er­naux­schen An­ti-Ro­man als auch zur ge­schmei­di­gen Wahr­neh­mungs­pro­sa des frü­hen Hand­ke, der in Wunsch­lo­ses Un­glück Bruch­stücke ei­nes Frau­en­le­bens so col­la­giert, daß sie trotz al­ler Frag­men­ta­rik ein Gan­zes er­ge­ben.

...Fort­set­zung folgt...

© Leo­pold Fe­der­mair


  1. Musterbeispiel ist für mich Eine persönliche Erfahrung von Kenzaburō Ōe, der in diesem Roman von den Tagen um die Geburt seines, wie sich herausstellt, schwer behinderten Sohnes erzählt. 

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