Wel­ten und Zei­ten XV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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So­wohl als Le­ser wie auch als Schrei­ber glau­be ich bei be­stimm­ten Tex­ten et­was wie Dring­lich­keit zu spü­ren. Selt­sa­mer­wei­se oft bei äl­te­ren Tex­ten, und beim Schrei­ben so­zu­sa­gen: im­mer sel­te­ner. In der ge­gen­wär­ti­gen Li­te­ra­tur fin­de ich sol­che Dring­lich­keit kaum. Auch und ge­ra­de dann, wenn sich Au­toren um mög­lichst ak­tu­el­le The­men be­mü­hen, ent­steht der Ein­druck von Dring­lich­keit nicht, statt des­sen ein an­de­rer, näm­lich daß sie ein selbst auf­er­leg­tes Pro­gramm er­fül­len, ei­ne Pflicht er­le­di­gen. Vie­le wol­len die Be­dro­hung der Um­welt in den Tex­ten »un­ter­brin­gen«. In den Er­zäh­lun­gen wird es im­mer hei­ßer, dort und da bre­chen Brän­de aus, aber die Sät­ze bren­nen nicht un­ter den Nä­geln.

War­um? Li­te­ra­tur – soll ich sa­gen: ech­te Li­te­ra­tur? – ist in­ak­tu­ell, manch­mal so­gar an­ti­ak­tu­ell. Je­ne Dring­lich­keit, die ich mei­ne, ist zum Bei­spiel bei An­nie Er­naux zu spü­ren, die sich, je­den­falls in ih­ren li­te­ra­ri­schen Tex­ten (was sie über Pa­lä­sti­na denkt, hat da­mit we­nig zu tun), nicht um ak­tu­el­le The­men küm­mert. Ernst­haf­tig­keit ist ein ver­wand­ter Be­griff, ei­ne ähn­li­che Hal­tung. Ernst­haft kann hei­ßen: durch den Schlei­er der Spra­che zur Wirk­lich­keit durch­drin­gen wol­len. Dring­lich­keit und Durch­drin­gen. Weil Spra­che, weil un­se­re Er­zäh­lun­gen, un­se­re My­then, die all­ge­mei­nen wie die pri­va­ten, das Ge­sche­he­ne eher ver­decken als ent­hül­len. Au­toren wie Er­naux geht es um das Ent­hül­len: die Spra­che so weit wie mög­lich zu­rück­schrau­ben, in­ter­pre­ta­ti­ons­los schrei­ben, was war. Wahr­schein­lich kann es da im­mer nur An­nä­he­rung zei­gen. Bei Er­naux be­steht das Er­zäh­len im Mit­schrei­ben die­ser An­nä­he­rung.

Ernst­haf­tig­keit ist aber nicht al­les, sie hat ei­nen eh­ren­wer­ten Op­po­nen­ten: die Ver­spielt­heit. »Ver­spielt­heit« klingt ab­wer­tend, ist aber nicht so ge­meint. Spie­le­ri­sche Er­zähl­li­te­ra­tur, und nicht nur sprach­spie­le­ri­sche, son­dern mit Er­zähl­ele­men­ten und Bil­dern spie­len­de, trägt ih­re rai­son d’être in sich, sie ist Selbst­zweck, man muß sie nicht recht­fer­ti­gen. Kunst ist ih­rer Ge­ne­se nach ei­ne Form des Spiels, oh­ne das mensch­li­che Ent­wick­lung nicht mög­lich ist. Wer Künst­ler wird oder bleibt, ist bloß mehr Kind ge­blie­ben als an­de­re Er­wach­se­ne. Die­ses spie­le­ri­sche Mo­ment ent­hal­ten auch zahl­lo­se ernst­haf­te Er­zäh­lun­gen, et­wa die von Pe­ter Ste­phan Jungk, wo­bei ich an den au­to­bio­gra­phisch-sur­rea­len Ro­man Die Rei­se über den Hud­son eben­so den­ke wie an das li­te­ra­risch-eth­no­gra­phi­sche Kunst­werk Markt­ge­flü­ster. In der öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur gibt es ei­ne be­son­ders stark aus­ge­präg­te Nei­gung zum spie­le­ri­schen und ver­spiel­ten Schrei­ben: Ne­stroy, Herz­ma­nov­sky-Or­lan­do, die Wie­ner Grup­pe, Ernst Jandl, Franz­obel, He­le­na Ad­ler – um hier nur an­zu­deu­ten, was und wen ich im Blick ha­be. Auch Frie­de­ri­ke May­röcker. Sur­rea­lis­mus bringt die Ord­nun­gen und Ebe­nen durch­ein­an­der und baut neue Ord­nun­gen auf, die wir nicht im­mer so­fort nach­voll­zie­hen kön­nen oder wol­len. Dann las­sen wir uns vom Cha­os strei­cheln. Das nen­ne ich »Spiel«. »Cha­os­mos«, der von De­leu­ze ge­präg­te, je­doch von Ja­mes Joy­ce ge­klau­te Be­griff ge­fällt mir im­mer noch, ob­wohl der Phi­lo­soph mitt­ler­wei­le recht in­ak­tu­ell ge­wor­den ist. Zeit, ihn wie­der zu le­sen. Cha­os­mos: die Welt im Zu­stand ih­rer Ent­ste­hung.

Die so­zio­lo­gi­sie­ren­de Li­te­ra­tur in Frank­reich, nach dem theo­rie­la­sti­gen, ab­strak­ti­ons­süch­ti­gen Ex­tre­mis­mus von Nou­veau Ro­man, Struk­tu­ra­lis­mus und Post­struk­tu­ra­lis­mus (selbst Ro­land Bar­thes hat da über­all mit­ge­macht, ob­wohl er als sen­si­bler Fein- und Frei­geist gar nicht die be­sten Vor­aus­set­zun­gen da­zu hat­te). Und dann die Ge­gen­be­we­gung, im Theo­rie­be­reich Pierre Bour­dieu, der wie­der kon­kre­te Er­zäh­lun­gen aus dem All­tag vor­leg­te, Er­fah­rungs­tat­sa­chen fest­hielt und sei­ne Theo­rien dar­auf stütz­te. Auch Li­te­ra­tur und Film, zum Bei­spiel Ex­ten­si­on du do­maine de la lut­te1, der er­ste Ro­man von Hou­el­le­becq, der da­mals, An­fang der neun­zi­ger Jah­re, eif­rig den po­si­ti­vi­sti­schen So­zio­lo­gen Au­gu­ste Comte las. Un­mit­tel­ba­rer Ein­fluß des So­zio­lo­gen Pierre Bour­dieu bei An­nie Er­naux, Di­dier Eri­bon und Édouard Lou­is. Die Fil­me des bel­gi­schen Brü­der­paars Darden­ne. Un­längst der durch­aus ans Herz rüh­ren­de Do­ku­men­tar­film Les pi­res der noch jun­gen Fil­me­ma­che­rin­nen Li­se Ako­ka und Ro­ma­ne Gué­ret. Be­we­gun­gen und Ge­gen­be­we­gun­gen – schön, daß man über­haupt noch wel­che aus­ma­chen kann. Das fau­le Cha­os des markt­läu­fi­gen »Anything goes« ist doch nur ein De­pres­si­ons­aus­lö­ser, da sind mir klar um­ris­se­ne Mo­de­vor­ga­ben noch lie­ber.

Be­stimm­te Au­toren ha­ben sich nur in Kurz­for­men aus­ge­drückt. Weil sie nicht an­ders konn­ten? Oder aus be­wuß­ter Wahl auf­grund ei­ner Über­zeu­gung? Bor­ges zum Bei­spiel. Er hat das er­füllt, was sein Va­ter Guil­ler­mo Lu­is Bor­ges, Ver­fas­ser ei­nes er­folg­lo­sen Ro­mans, nie wirk­lich schaff­te: Schrift­stel­ler zu wer­den. Aber den er­sehn­ten er­folg­rei­chen Ro­man hat er auch nicht ge­schrie­ben. Von sei­nen be­kann­ten Wer­ken über­tref­fen nur we­ni­ge den Um­fang von zehn Sei­ten, wäh­rend Leu­te wie Var­gas Llosa oder Lo­bo An­tu­nes oder, in un­se­rer Spra­che, Tho­mas Mann, es sel­ten un­ter hun­dert Sei­ten ta­ten.

In Ja­pan gal­ten ei­ne Zeit­lang, An­fang des 20. Jahr­hun­derts, nur kur­ze Er­zäh­lun­gen als äs­the­tisch wert­voll, und manch ein ja­pa­ni­scher Le­ser ab­seits der Pop­li­te­ra­tur denkt noch heu­te so. Man schätz­te Dich­te und Klar­heit, zog An­deu­tun­gen de­tail­ge­nau­en Schil­de­run­gen vor (wie in der alt­ja­pa­ni­schen Bild­kunst). Der all­seits be­lieb­te, aber ein we­nig ge­schwät­zi­ge Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist durch sei­nen Wer­de­gang und li­te­ra­ri­sche Wahl­ver­wandt­schaf­ten ein US-ame­ri­ka­ni­scher Au­tor. Ja­pa­ni­sche Äs­the­tik fin­det man da­ge­gen bei Na­oya Shi­ga, Ka­fu Na­gai, Ry­o­no­suke Aku­tag­awa. Nicht bei Ju­ni­chi­ro Ta­ni­zaki, dem ja­pa­ni­schen Tho­mas Mann – da kann sein schma­ler Es­say Lob des Schat­tens im deut­schen Sprach­raum noch so sehr ge­hypt wer­den.

Bei mir selbst, wenn ich wie­der mal, ne­ben so vie­len Kunst- und Gei­stes­grö­ßen, von mir re­den darf, schau­kelt über die Jah­re hin­weg je­nes Hin und Her zwi­schen Er­zähl­zy­klus und Ro­man, Er­zähl­zy­klus und Ro­man. Die Er­zäh­lung ver­langt Kon­zen­tra­ti­on, bei mir auch: Ab­se­hen von mir selbst, der Ro­man Aus­dau­er, Kom­ple­xi­täts­to­le­ranz, Ver­trau­en in die Drift, Sich-trei­ben-las­sen, und bei mir auch: Zu­wen­dung zu mir selbst, Ich-Per­spek­ti­ve. So hat­te das auch Ju­lio Cor­ta­zar ge­macht, an­fangs si­cher nicht be­wußt, denn sol­che Din­ge sind an­ge­bo­ren, das heißt, durch bio­lo­gi­sche Rhyth­men mit­be­dingt (na­tür­lich spie­len auch an­de­re Fak­to­ren ei­ne Rol­le, zum Bei­spiel An­fra­gen ei­nes Ver­le­gers). Ri­car­do Pi­glia spricht im Hin­blick auf Cor­ta­zar lie­ber von ei­nem »con­ti­nuo nar­ra­tivo«, in dem mal die­se, mal je­ne Form nach oben kommt. Al­te Fra­ge, ob die Gen­res noch Ge­set­ze und Gren­zen ha­ben.

Bei Na­oya Shi­ga die­se Ein­fach­heit – muß man erst­mal er­rei­chen. Er­ar­bei­ten? Er­naux er­reicht sie im­mer wie­der mal, im durch­drin­gen­den, in­si­stie­ren­den Stil, und Mo­dia­no auf sei­ne Art, in­dem er an­deu­tet und um­kreist, was ver­lo­ren ist oder nicht ge­sagt wer­den kann. In Chri­sti­ne Ves­co­lis Ro­man Mut­ter­nichts fin­de ich die sel­be Vor­gangs­wei­se: Die Nicht-Aus­sa­ge schlägt um, wird am En­de zur Aus­sa­ge, wird wi­der Er­war­ten po­si­tiv. Was im Ver­lauf sol­chen Er­zäh­lens ent­steht, ist ei­ne Art von sprach­li­cher Rein­heit, die Bil­der und Ge­dan­ken durch­schei­nend macht.

Noch ei­ne Ähn­lich­keit, die Bor­ges und Aku­tag­awa ver­bin­det: ih­re Vor­lie­be für hi­sto­ri­sche und my­thi­sche Stof­fe. Alt­chi­ne­si­sche und alt­ja­pa­ni­sche Ge­schich­ten bei A., ara­bi­sche und eu­ro­päi­sche Ge­schich­ten bei B., oft »nur« nach­er­zählt, aber mit ei­nem Sur­plus, ei­nem ent­schei­den­den Dreh. Kon­den­siert. Das­sel­be hat­te schon Laf­ca­dio Hearn ali­as Ya­ku­mo Koi­zu­mi, der un­mit­tel­ba­re li­te­ra­ri­sche Vor­läu­fer Aku­tag­a­was, mit volks­tüm­li­chen ja­pa­ni­schen Schau­er­ge­schich­ten ge­macht. Nach­er­zäh­len ist in be­stimm­ten Fäl­len ei­ne hö­he­re Kunst als schwa­dro­nie­ren­des Er­fin­den. Ist eh ge­nug Stoff da, selbst im be­schei­den­sten Le­ben, man muß nicht er­fin­den.

Elan vi­tal, ha­be ich ge­sagt, bio­lo­gi­scher Rhyth­mus. Ähn­lich wie beim Wech­sel von Sy­stole und Dia­sto­le. Die­se Ana­lo­gie stammt vom wei­sen Goe­the, der in der Far­ben­leh­re schrieb: »Das Ge­ein­te zu ent­zwei­en, das Ent­zwei­te zu ei­ni­gen, ist das Le­ben der Na­tur; dies ist die ewi­ge Sy­stole und Dia­sto­le, die ewi­ge Syn­k­ri­sis und Dia­k­ri­sis, das Ein- und Aus­at­men der Welt, in der wir le­ben, we­ben und sind.« Aus­deh­nen und Zu­sam­men­zie­hen, wie der Herz­mus­kel, wenn er ord­nungs­ge­mäß funk­tio­niert. Zu­sätz­lich ei­ne Men­ge Ex­tra­sy­stolen. Stimmt die Ana­lo­gie? Müs­sen Ana­lo­gien »stim­men«? Nein, Ver­glei­che müs­sen hin­ken (wie Me­phi­sto). Der Teu­fel sitzt im Ver­gleich.

Al­so las­sen wir Goe­thes For­mel, die ist uns zu grob. Im Sy­stem des hier in Re­de ste­hen­den Hin und Her ist der Ro­man zer­streu­end, zen­tri­fu­gal und luf­tig – die Er­zäh­lung kon­den­sie­rend, fo­kus­sie­rend, se­lek­tiv und zen­tri­pe­tal. Ver­bes­ser­te For­mel: Zen­tri­fu­gal­kraft vs. Zen­tri­pe­tal­kraft. Ro­ma­ne sind ih­rer Na­tur nach trä­ge, Er­zäh­lun­gen flink und ge­schmei­dig. Au­toren wie wir las­sen bei­de Kräf­te spie­len, mal die­se, mal je­ne, oder gleich­zei­tig im Ge­gen­spiel.

Ha­be ich En­zens­ber­ger schon ein­mal zi­tiert? Nein? Jetzt aber: »Um Proust von vor­ne bis hin­ten zu le­sen, muß man ei­gent­lich mit Tu­ber­ku­lo­se im Sa­na­to­ri­um lie­gen. Ver­mut­lich bin ich kein Lang­strecken­läu­fer…« Ja, Re­cher­che und Kon­sor­ten, das sind Kran­ken­haus­lek­tü­ren. Ich mit Becken­ver­let­zung, noch nicht lan­ge her, kaum be­we­gungs­fä­hig: Pé­ter Ná­das, Auf­leuch­ten­de Au­gen­blicke. Be­reue ich nicht. Be­reue ich Proust? Sei­ner­zeit ge­le­sen auf dem Bau­ern­hof im Ge­bir­ge, wo es schwa­ches, manch­mal flackern­des elek­tri­sches Licht gab, aber kein Fern­se­hen, kein Ra­dio, kei­ne Zei­tung, nur Dau­er­re­gen und im sel­te­nen Schön­wet­ter die volks­tüm­li­che Dumpf­heit, die Tho­mas Bern­hard, der dort in der Nä­he im Sa­na­to­ri­um lag, in sei­nen er­sten Bü­chern be­schrieb. Da lernt man, wie die Sät­ze schwei­fen ge­hen. Der Proust­sche Stil läßt sich über je­den Stoff le­gen. Aber man soll ja nichts nach­ah­men.

Baut Trans­ver­sa­li­tät – die trans­ver­sa­le Pra­xis – an ei­ner all­ge­mein­sa­men Spra­che? Oder hat sie an ei­ner sol­chen teil? Oder bei­des? Das, was En­zens­ber­ger, lan­ge ist’s her, mit sei­nem Mu­se­um der mo­der­nen Poe­sie ver­sucht hat. Au­ßer­dem: daß Dich­ter Dich­ter über­set­zen, auch wenn sie die Lan­des­spra­che, in der die­se Ge­dich­te ge­schrie­ben sind, we­nig oder gar nicht ver­ste­hen. Trans­ver­sa­le Be­zie­hun­gen zwi­schen Dich­tern, die durch die Ge­we­be der Um­gangs­spra­chen, die­se be­nut­zend, drin­gen. Wenn schon nicht, sa­gen wir, Deutsch, so ver­steht der me­xi­ka­ni­sche Dich­ter doch die Hein­rich Hei­ne­sche Dich­ter­spra­che.

Statt Lin­gua fran­ca möch­te ich das, was auf sol­che Art im­mer aufs neue ent­steht, al­ler­dings doch lie­ber Co­co­li­che nen­nen: ein Flick­werk. Es muß nicht al­les zu­sam­men­pas­sen, es müs­sen sich nicht al­le ver­ste­hen (re­spek­tie­ren schon). Ein sol­ches Co­co­li­che könn­te man für den Ro­man ver­wen­den. Wie wei­land Ja­mes Joy­ce. Fin­ne­gans Wa­ke: zen­tri­fu­gal UND zen­tri­pe­tal. Ul­ti­ma Thu­le.

Die trans­ver­sa­le Äs­the­tik ist die Me­tho­den­leh­re zur Ana­lo­gia en­tis, die ich vor fünf­zehn Jah­ren in mei­nen Stück­werk ge­blie­be­nen Poe­tik-Vor­le­sun­gen aus­zu­ar­bei­ten ver­sucht ha­be. Ewi­ge Bau­stel­le, wie der ba­be­li­sche Turm. Ba­be­li­ka, so könn­te man auch die­se Frag­men­te hier nen­nen.

Wim Wen­ders un­ter­schei­det im In­ter­view mit Mat­ze zwi­schen pri­vat und per­sön­lich. Das Pri­va­te kön­ne nicht Ge­gen­stand der Kunst wer­den, es ge­he um das Per­sön­li­che.

Dann müß­ten An­nie Er­naux oder auch Mar­git Schrei­ner für die Kunst aus­fal­len. Und auch Ol­gas Ge­spräch über die Trau­er. Aber letz­te­res ist eben per­sön­lich, nicht pri­vat. Oder? Kann das Pri­va­te per­sön­lich wer­den? Wie geht das? Und wo ge­nau liegt der Un­ter­schied? Viel­leicht soll­te man hier doch wie­der das Ge­gen­satz­paar von Ex­hi­bi­tio­nis­mus und Scham zur An­wen­dung brin­gen.

Li­te­ra­tur sei per se scham­los, sag­te Schrei­ner un­längst. Aber was heißt schon »per se«? Dem­ge­gen­über ha­ben wir die scham­vol­le Li­te­ra­tur ei­nes Hand­ke oder Kaf­ka (au­ßer in des­sen Ta­ge­bü­chern), die Fil­me von Wen­ders. Und ich sa­ge: Was in der Li­te­ra­tur statt­fin­det, ist per se ein Wech­sel­spiel zwi­schen Scham und Ex­hi­bi­tio­nis­mus, mal mit dem Ak­zent hier, mal mit dem Ak­zent dort. Weil Hand­ke so scham­haft ist (und dar­aus ei­nen Kult und ei­ne Me­tho­de macht), lehnt er das Schrei­ben über Pri­va­tes ab. Und wirft die­se Art zu schrei­ben Pe­ter Ste­phan Jungk (über den pri­va­ten Bu­kow­ski) und mir (über den pri­va­ten Hand­ke) vor.

Ist das Ta­ge­buch wirk­lich das Gen­re des Pri­va­ten? Kaf­ka schrieb sei­ne Ta­ge­bü­cher nicht, um sie zu ver­öf­fent­li­chen. So vie­le Bü­cher blei­ben letzt­lich auf der Stu­fe des Ta­ge­buchs.

Aber es gibt ja kei­ne Hier­ar­chie. Nur Ab­tei­le wie in ei­nem al­ten, schnau­ben­den Zug.

Mo­ritz Bas­ler, Apo­lo­get der Pop-Li­te­ra­tur, schrieb einst, in ge­fühlt vor­mo­der­nen Zei­ten, Pop-Li­te­ra­tur sei scham­los per de­fi­ni­tio­nem. War das nicht eher ei­ne Bank­rott­erklä­rung als ei­ne De­fi­ni­ti­on?

Die mei­sten Au­toren ver­su­chen, von der Wirk­lich­keit weg­zu­kom­men, sie zu über­hö­hen, zu über­trei­ben, sie als Tram­po­lin zu be­nut­zen, um in an­de­re Di­men­sio­nen zu sprin­gen – al­so der so­ge­nann­ten Wirk­lich­keit zu ent­ge­hen, sie zum Kip­pen zu brin­gen usw. Sie su­chen auf die ei­ne oder an­de­re Wei­se Zu­flucht bei der Phan­ta­sie. Er­naux ver­hält sich als Schrei­ben­de ge­nau um­ge­kehrt, ihr geht es er­klär­ter­ma­ßen nicht um den Auf­bau, son­dern um die Zer­stö­rung be­stimm­ter Fik­tio­nen. Man könn­te auch sa­gen: Es geht ihr dar­um, die Lü­gen bei­sei­te­zu­räu­men, die sich im Lauf der Jah­re an­ge­häuft ha­ben, um zur Wirk­lich­keit durch­zu­drin­gen.

Auf der Ge­gen­sei­te: Var­gas Llosa, Die Wahr­heit der Lü­gen. Sol­che Ro­ma­ne, die schwa­dro­nie­ren­den, schwel­len an. Die durch­drin­gen­den Bü­cher ver­schlan­ken, ih­re Spra­che ma­gert ab.

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© Leo­pold Fe­der­mair


  1. auf deutsch: Ausweitung der Kampfzone - Übersetzung von Leopold Federmair – G.K. 

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  1. Wenn beim Le­sen, der Atem aus dem Bauch ins Hirn steigt!
    Dan­ke.
    »Aber es gibt ja kei­ne Hier­ar­chie. Nur Ab­tei­le wie in ei­nem al­ten, schnau­ben­den Zug.«

  2. Tat­säch­lich ist »Dring­lich­keit« in der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur fast nur noch Be­haup­tung ge­wor­den. Sie wird im Not­fall mit Ta­ges­ak­tua­li­tät be­grün­det und ger­ne da­mit ver­wech­selt. Und das die Ge­gen­wartsa­po­lo­ge­ten ih­rem Un­ter­su­chungs­ge­gen­stand af­fir­ma­tiv ge­gen­über ste­hen, ver­wun­dert nicht. Sie ste­hen rasch zu­sam­men, wenn man ih­nen und ih­ren Lieb­lin­gen Ge­macht­heit re­spek­ti­ve In­sze­nie­rung un­ter­stellt. Das konn­te man erst neu­lich se­hen. Leu­te wie Bas­ler sind Me­ta-Zir­ku­la­ti­ons­agen­ten. Sie kön­nen gar nicht an­ders.

  3. Aber meint es hier nicht ei­ne an­de­re Art Dring­lich­keit, näm­lich die aus dem ge­nui­nen, zu sich ... durch­drin­gen­den Schrei­ben?

    Da­bei ist sie zwar eben­falls ei­ne her­ge­stell­te – wie denn auch nicht. Aber Poe­sie, Dich­te, Ra­sanz, Lu­zi­di­tät ... von mir aus wo­mög­lich auch ei­ne wirk­li­che Durch­drin­gung ei­nes The­mas, das dar­in sei­ne ei­ge­ne Hö­he er­reicht ... Mit an­ge­sag­ten The­men oder ei­ner Ak­tua­li­tä­ten­be­haup­tung hat das, glau­be ich, fast nichts zu tun, im Ge­gen­teil, es ge­hört ganz in die longue du­rée.

    (Und ist es nicht so­gar ei­ne Sa­che von so­zu­sa­gen ge­gen­sei­ti­ger Dring­lich­keit – oder so­gar die Ent­schei­dung über Hö­he und Durch­drin­gungs­kraft des Tex­tes über­haupt durch den Le­ser? Gibt es dann je ei­ne dring­li­che­re Ak­tua­li­tät als die­se?)

    (Ich ha­be manch­mal noch den Ti­tel des Buchs von Win­kels & Hö­risch im Ohr, »Das schnel­le Al­ternm der neue­sten Li­te­ra­tur«, von 1985: Ei­gent­lich hät­te man da mit den Ak­tua­li­tä­ten schon auf­hö­ren kön­nen – die Li­te­ra­tur, die von sich aus lang­sam ist, ist, eben au­ßer in Fäl­len ih­rer ei­ge­nen Dring­lich­keit, eh für im­mer hin­ter­her.)

  4. Ja, das mein­te ich. Was heut­zu­ta­ge als »Dring­lich­keit« be­zeich­net wird, ist fast im­mer ei­ne wie auch im­mer ge­ar­te­te Re­ak­ti­on auf Ta­ges­ak­tua­li­tä­ten, auf Main­stream. Wie das aus­geht, konn­te man ex­em­pla­risch an der DDR-Li­te­ra­tur ab 1990ff be­ob­ach­ten. Was ist da­von wirk­lich ge­blie­ben? Was hat­te »Dring­lich­keit« über das re­gime­kri­ti­sche (oder ‑af­fir­ma­ti­ve) hin­aus? Si­cher, das Schrei­ben dien­te Au­toren als ei­ne Art Ven­til. Aber dann ist es eher ei­ne li­te­ra­risch an­ge­hauch­te So­zi­al­ar­beit.

    Ein an­de­res Bei­spiel: All die »Co­ro­na-Ta­ge­bü­cher«. Nichts da­von hat­te Dring­lich­keit. Es war in den mei­sten Fäl­len nur Re­ak­ti­on, von mir aus Furcht vor et­was Un­be­kann­tem, aber sel­ten mehr.

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