Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Sowohl als Leser wie auch als Schreiber glaube ich bei bestimmten Texten etwas wie Dringlichkeit zu spüren. Seltsamerweise oft bei älteren Texten, und beim Schreiben sozusagen: immer seltener. In der gegenwärtigen Literatur finde ich solche Dringlichkeit kaum. Auch und gerade dann, wenn sich Autoren um möglichst aktuelle Themen bemühen, entsteht der Eindruck von Dringlichkeit nicht, statt dessen ein anderer, nämlich daß sie ein selbst auferlegtes Programm erfüllen, eine Pflicht erledigen. Viele wollen die Bedrohung der Umwelt in den Texten »unterbringen«. In den Erzählungen wird es immer heißer, dort und da brechen Brände aus, aber die Sätze brennen nicht unter den Nägeln.
Warum? Literatur – soll ich sagen: echte Literatur? – ist inaktuell, manchmal sogar antiaktuell. Jene Dringlichkeit, die ich meine, ist zum Beispiel bei Annie Ernaux zu spüren, die sich, jedenfalls in ihren literarischen Texten (was sie über Palästina denkt, hat damit wenig zu tun), nicht um aktuelle Themen kümmert. Ernsthaftigkeit ist ein verwandter Begriff, eine ähnliche Haltung. Ernsthaft kann heißen: durch den Schleier der Sprache zur Wirklichkeit durchdringen wollen. Dringlichkeit und Durchdringen. Weil Sprache, weil unsere Erzählungen, unsere Mythen, die allgemeinen wie die privaten, das Geschehene eher verdecken als enthüllen. Autoren wie Ernaux geht es um das Enthüllen: die Sprache so weit wie möglich zurückschrauben, interpretationslos schreiben, was war. Wahrscheinlich kann es da immer nur Annäherung zeigen. Bei Ernaux besteht das Erzählen im Mitschreiben dieser Annäherung.
Ernsthaftigkeit ist aber nicht alles, sie hat einen ehrenwerten Opponenten: die Verspieltheit. »Verspieltheit« klingt abwertend, ist aber nicht so gemeint. Spielerische Erzählliteratur, und nicht nur sprachspielerische, sondern mit Erzählelementen und Bildern spielende, trägt ihre raison d’être in sich, sie ist Selbstzweck, man muß sie nicht rechtfertigen. Kunst ist ihrer Genese nach eine Form des Spiels, ohne das menschliche Entwicklung nicht möglich ist. Wer Künstler wird oder bleibt, ist bloß mehr Kind geblieben als andere Erwachsene. Dieses spielerische Moment enthalten auch zahllose ernsthafte Erzählungen, etwa die von Peter Stephan Jungk, wobei ich an den autobiographisch-surrealen Roman Die Reise über den Hudson ebenso denke wie an das literarisch-ethnographische Kunstwerk Marktgeflüster. In der österreichischen Literatur gibt es eine besonders stark ausgeprägte Neigung zum spielerischen und verspielten Schreiben: Nestroy, Herzmanovsky-Orlando, die Wiener Gruppe, Ernst Jandl, Franzobel, Helena Adler – um hier nur anzudeuten, was und wen ich im Blick habe. Auch Friederike Mayröcker. Surrealismus bringt die Ordnungen und Ebenen durcheinander und baut neue Ordnungen auf, die wir nicht immer sofort nachvollziehen können oder wollen. Dann lassen wir uns vom Chaos streicheln. Das nenne ich »Spiel«. »Chaosmos«, der von Deleuze geprägte, jedoch von James Joyce geklaute Begriff gefällt mir immer noch, obwohl der Philosoph mittlerweile recht inaktuell geworden ist. Zeit, ihn wieder zu lesen. Chaosmos: die Welt im Zustand ihrer Entstehung.
Die soziologisierende Literatur in Frankreich, nach dem theorielastigen, abstraktionssüchtigen Extremismus von Nouveau Roman, Strukturalismus und Poststrukturalismus (selbst Roland Barthes hat da überall mitgemacht, obwohl er als sensibler Fein- und Freigeist gar nicht die besten Voraussetzungen dazu hatte). Und dann die Gegenbewegung, im Theoriebereich Pierre Bourdieu, der wieder konkrete Erzählungen aus dem Alltag vorlegte, Erfahrungstatsachen festhielt und seine Theorien darauf stützte. Auch Literatur und Film, zum Beispiel Extension du domaine de la lutte1, der erste Roman von Houellebecq, der damals, Anfang der neunziger Jahre, eifrig den positivistischen Soziologen Auguste Comte las. Unmittelbarer Einfluß des Soziologen Pierre Bourdieu bei Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis. Die Filme des belgischen Brüderpaars Dardenne. Unlängst der durchaus ans Herz rührende Dokumentarfilm Les pires der noch jungen Filmemacherinnen Lise Akoka und Romane Guéret. Bewegungen und Gegenbewegungen – schön, daß man überhaupt noch welche ausmachen kann. Das faule Chaos des marktläufigen »Anything goes« ist doch nur ein Depressionsauslöser, da sind mir klar umrissene Modevorgaben noch lieber.
Bestimmte Autoren haben sich nur in Kurzformen ausgedrückt. Weil sie nicht anders konnten? Oder aus bewußter Wahl aufgrund einer Überzeugung? Borges zum Beispiel. Er hat das erfüllt, was sein Vater Guillermo Luis Borges, Verfasser eines erfolglosen Romans, nie wirklich schaffte: Schriftsteller zu werden. Aber den ersehnten erfolgreichen Roman hat er auch nicht geschrieben. Von seinen bekannten Werken übertreffen nur wenige den Umfang von zehn Seiten, während Leute wie Vargas Llosa oder Lobo Antunes oder, in unserer Sprache, Thomas Mann, es selten unter hundert Seiten taten.
In Japan galten eine Zeitlang, Anfang des 20. Jahrhunderts, nur kurze Erzählungen als ästhetisch wertvoll, und manch ein japanischer Leser abseits der Popliteratur denkt noch heute so. Man schätzte Dichte und Klarheit, zog Andeutungen detailgenauen Schilderungen vor (wie in der altjapanischen Bildkunst). Der allseits beliebte, aber ein wenig geschwätzige Haruki Murakami ist durch seinen Werdegang und literarische Wahlverwandtschaften ein US-amerikanischer Autor. Japanische Ästhetik findet man dagegen bei Naoya Shiga, Kafu Nagai, Ryonosuke Akutagawa. Nicht bei Junichiro Tanizaki, dem japanischen Thomas Mann – da kann sein schmaler Essay Lob des Schattens im deutschen Sprachraum noch so sehr gehypt werden.
Bei mir selbst, wenn ich wieder mal, neben so vielen Kunst- und Geistesgrößen, von mir reden darf, schaukelt über die Jahre hinweg jenes Hin und Her zwischen Erzählzyklus und Roman, Erzählzyklus und Roman. Die Erzählung verlangt Konzentration, bei mir auch: Absehen von mir selbst, der Roman Ausdauer, Komplexitätstoleranz, Vertrauen in die Drift, Sich-treiben-lassen, und bei mir auch: Zuwendung zu mir selbst, Ich-Perspektive. So hatte das auch Julio Cortazar gemacht, anfangs sicher nicht bewußt, denn solche Dinge sind angeboren, das heißt, durch biologische Rhythmen mitbedingt (natürlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle, zum Beispiel Anfragen eines Verlegers). Ricardo Piglia spricht im Hinblick auf Cortazar lieber von einem »continuo narrativo«, in dem mal diese, mal jene Form nach oben kommt. Alte Frage, ob die Genres noch Gesetze und Grenzen haben.
Bei Naoya Shiga diese Einfachheit – muß man erstmal erreichen. Erarbeiten? Ernaux erreicht sie immer wieder mal, im durchdringenden, insistierenden Stil, und Modiano auf seine Art, indem er andeutet und umkreist, was verloren ist oder nicht gesagt werden kann. In Christine Vescolis Roman Mutternichts finde ich die selbe Vorgangsweise: Die Nicht-Aussage schlägt um, wird am Ende zur Aussage, wird wider Erwarten positiv. Was im Verlauf solchen Erzählens entsteht, ist eine Art von sprachlicher Reinheit, die Bilder und Gedanken durchscheinend macht.
Noch eine Ähnlichkeit, die Borges und Akutagawa verbindet: ihre Vorliebe für historische und mythische Stoffe. Altchinesische und altjapanische Geschichten bei A., arabische und europäische Geschichten bei B., oft »nur« nacherzählt, aber mit einem Surplus, einem entscheidenden Dreh. Kondensiert. Dasselbe hatte schon Lafcadio Hearn alias Yakumo Koizumi, der unmittelbare literarische Vorläufer Akutagawas, mit volkstümlichen japanischen Schauergeschichten gemacht. Nacherzählen ist in bestimmten Fällen eine höhere Kunst als schwadronierendes Erfinden. Ist eh genug Stoff da, selbst im bescheidensten Leben, man muß nicht erfinden.
Elan vital, habe ich gesagt, biologischer Rhythmus. Ähnlich wie beim Wechsel von Systole und Diastole. Diese Analogie stammt vom weisen Goethe, der in der Farbenlehre schrieb: »Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.« Ausdehnen und Zusammenziehen, wie der Herzmuskel, wenn er ordnungsgemäß funktioniert. Zusätzlich eine Menge Extrasystolen. Stimmt die Analogie? Müssen Analogien »stimmen«? Nein, Vergleiche müssen hinken (wie Mephisto). Der Teufel sitzt im Vergleich.
Also lassen wir Goethes Formel, die ist uns zu grob. Im System des hier in Rede stehenden Hin und Her ist der Roman zerstreuend, zentrifugal und luftig – die Erzählung kondensierend, fokussierend, selektiv und zentripetal. Verbesserte Formel: Zentrifugalkraft vs. Zentripetalkraft. Romane sind ihrer Natur nach träge, Erzählungen flink und geschmeidig. Autoren wie wir lassen beide Kräfte spielen, mal diese, mal jene, oder gleichzeitig im Gegenspiel.
Habe ich Enzensberger schon einmal zitiert? Nein? Jetzt aber: »Um Proust von vorne bis hinten zu lesen, muß man eigentlich mit Tuberkulose im Sanatorium liegen. Vermutlich bin ich kein Langstreckenläufer…« Ja, Recherche und Konsorten, das sind Krankenhauslektüren. Ich mit Beckenverletzung, noch nicht lange her, kaum bewegungsfähig: Péter Nádas, Aufleuchtende Augenblicke. Bereue ich nicht. Bereue ich Proust? Seinerzeit gelesen auf dem Bauernhof im Gebirge, wo es schwaches, manchmal flackerndes elektrisches Licht gab, aber kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitung, nur Dauerregen und im seltenen Schönwetter die volkstümliche Dumpfheit, die Thomas Bernhard, der dort in der Nähe im Sanatorium lag, in seinen ersten Büchern beschrieb. Da lernt man, wie die Sätze schweifen gehen. Der Proustsche Stil läßt sich über jeden Stoff legen. Aber man soll ja nichts nachahmen.
Baut Transversalität – die transversale Praxis – an einer allgemeinsamen Sprache? Oder hat sie an einer solchen teil? Oder beides? Das, was Enzensberger, lange ist’s her, mit seinem Museum der modernen Poesie versucht hat. Außerdem: daß Dichter Dichter übersetzen, auch wenn sie die Landessprache, in der diese Gedichte geschrieben sind, wenig oder gar nicht verstehen. Transversale Beziehungen zwischen Dichtern, die durch die Gewebe der Umgangssprachen, diese benutzend, dringen. Wenn schon nicht, sagen wir, Deutsch, so versteht der mexikanische Dichter doch die Heinrich Heinesche Dichtersprache.
Statt Lingua franca möchte ich das, was auf solche Art immer aufs neue entsteht, allerdings doch lieber Cocoliche nennen: ein Flickwerk. Es muß nicht alles zusammenpassen, es müssen sich nicht alle verstehen (respektieren schon). Ein solches Cocoliche könnte man für den Roman verwenden. Wie weiland James Joyce. Finnegans Wake: zentrifugal UND zentripetal. Ultima Thule.
Die transversale Ästhetik ist die Methodenlehre zur Analogia entis, die ich vor fünfzehn Jahren in meinen Stückwerk gebliebenen Poetik-Vorlesungen auszuarbeiten versucht habe. Ewige Baustelle, wie der babelische Turm. Babelika, so könnte man auch diese Fragmente hier nennen.
Wim Wenders unterscheidet im Interview mit Matze zwischen privat und persönlich. Das Private könne nicht Gegenstand der Kunst werden, es gehe um das Persönliche.
Dann müßten Annie Ernaux oder auch Margit Schreiner für die Kunst ausfallen. Und auch Olgas Gespräch über die Trauer. Aber letzteres ist eben persönlich, nicht privat. Oder? Kann das Private persönlich werden? Wie geht das? Und wo genau liegt der Unterschied? Vielleicht sollte man hier doch wieder das Gegensatzpaar von Exhibitionismus und Scham zur Anwendung bringen.
Literatur sei per se schamlos, sagte Schreiner unlängst. Aber was heißt schon »per se«? Demgegenüber haben wir die schamvolle Literatur eines Handke oder Kafka (außer in dessen Tagebüchern), die Filme von Wenders. Und ich sage: Was in der Literatur stattfindet, ist per se ein Wechselspiel zwischen Scham und Exhibitionismus, mal mit dem Akzent hier, mal mit dem Akzent dort. Weil Handke so schamhaft ist (und daraus einen Kult und eine Methode macht), lehnt er das Schreiben über Privates ab. Und wirft diese Art zu schreiben Peter Stephan Jungk (über den privaten Bukowski) und mir (über den privaten Handke) vor.
Ist das Tagebuch wirklich das Genre des Privaten? Kafka schrieb seine Tagebücher nicht, um sie zu veröffentlichen. So viele Bücher bleiben letztlich auf der Stufe des Tagebuchs.
Aber es gibt ja keine Hierarchie. Nur Abteile wie in einem alten, schnaubenden Zug.
Moritz Basler, Apologet der Pop-Literatur, schrieb einst, in gefühlt vormodernen Zeiten, Pop-Literatur sei schamlos per definitionem. War das nicht eher eine Bankrotterklärung als eine Definition?
Die meisten Autoren versuchen, von der Wirklichkeit wegzukommen, sie zu überhöhen, zu übertreiben, sie als Trampolin zu benutzen, um in andere Dimensionen zu springen – also der sogenannten Wirklichkeit zu entgehen, sie zum Kippen zu bringen usw. Sie suchen auf die eine oder andere Weise Zuflucht bei der Phantasie. Ernaux verhält sich als Schreibende genau umgekehrt, ihr geht es erklärtermaßen nicht um den Aufbau, sondern um die Zerstörung bestimmter Fiktionen. Man könnte auch sagen: Es geht ihr darum, die Lügen beiseitezuräumen, die sich im Lauf der Jahre angehäuft haben, um zur Wirklichkeit durchzudringen.
Auf der Gegenseite: Vargas Llosa, Die Wahrheit der Lügen. Solche Romane, die schwadronierenden, schwellen an. Die durchdringenden Bücher verschlanken, ihre Sprache magert ab.
© Leopold Federmair
auf deutsch: Ausweitung der Kampfzone - Übersetzung von Leopold Federmair – G.K. ↩
Wenn beim Lesen, der Atem aus dem Bauch ins Hirn steigt!
Danke.
»Aber es gibt ja keine Hierarchie. Nur Abteile wie in einem alten, schnaubenden Zug.«
Tatsächlich ist »Dringlichkeit« in der zeitgenössischen Literatur fast nur noch Behauptung geworden. Sie wird im Notfall mit Tagesaktualität begründet und gerne damit verwechselt. Und das die Gegenwartsapologeten ihrem Untersuchungsgegenstand affirmativ gegenüber stehen, verwundert nicht. Sie stehen rasch zusammen, wenn man ihnen und ihren Lieblingen Gemachtheit respektive Inszenierung unterstellt. Das konnte man erst neulich sehen. Leute wie Basler sind Meta-Zirkulationsagenten. Sie können gar nicht anders.
Aber meint es hier nicht eine andere Art Dringlichkeit, nämlich die aus dem genuinen, zu sich ... durchdringenden Schreiben?
Dabei ist sie zwar ebenfalls eine hergestellte – wie denn auch nicht. Aber Poesie, Dichte, Rasanz, Luzidität ... von mir aus womöglich auch eine wirkliche Durchdringung eines Themas, das darin seine eigene Höhe erreicht ... Mit angesagten Themen oder einer Aktualitätenbehauptung hat das, glaube ich, fast nichts zu tun, im Gegenteil, es gehört ganz in die longue durée.
(Und ist es nicht sogar eine Sache von sozusagen gegenseitiger Dringlichkeit – oder sogar die Entscheidung über Höhe und Durchdringungskraft des Textes überhaupt durch den Leser? Gibt es dann je eine dringlichere Aktualität als diese?)
(Ich habe manchmal noch den Titel des Buchs von Winkels & Hörisch im Ohr, »Das schnelle Alternm der neuesten Literatur«, von 1985: Eigentlich hätte man da mit den Aktualitäten schon aufhören können – die Literatur, die von sich aus langsam ist, ist, eben außer in Fällen ihrer eigenen Dringlichkeit, eh für immer hinterher.)
Ja, das meinte ich. Was heutzutage als »Dringlichkeit« bezeichnet wird, ist fast immer eine wie auch immer geartete Reaktion auf Tagesaktualitäten, auf Mainstream. Wie das ausgeht, konnte man exemplarisch an der DDR-Literatur ab 1990ff beobachten. Was ist davon wirklich geblieben? Was hatte »Dringlichkeit« über das regimekritische (oder ‑affirmative) hinaus? Sicher, das Schreiben diente Autoren als eine Art Ventil. Aber dann ist es eher eine literarisch angehauchte Sozialarbeit.
Ein anderes Beispiel: All die »Corona-Tagebücher«. Nichts davon hatte Dringlichkeit. Es war in den meisten Fällen nur Reaktion, von mir aus Furcht vor etwas Unbekanntem, aber selten mehr.