Der Titel klingt zunächst etwas kompliziert: Konstruktive Dekonstruktionen. Es ist ein dezentes Wortspiel über die vom Autor Dieter Liewerscheidt eher skeptisch betrachteten Dekonstruktivisten. In siebzehn »Studien zur deutschen Literatur« (die meisten davon in den 2010er Jahren entstanden und in diversen Publikationen veröffentlicht) liest der 1946 geborene Literaturwissenschaftler markante Werke vom 18. bis 20. Jahrhundert noch einmal, und zwar »konstruktiv«. Es gilt, »Rezeptionsklischees« zu durchbrechen, vergangene Lesarten zu befragen. Im Aufsatz zu Franz Kafkas Der Proceß wird das Herangehen auch programmatisch umrissen: »Die Unvermeidlichkeit des Deutens, auch des psychoanalytischen, ist eine Konsequenz aus dem Verstehensanspruch, den eine hermeneutisch geprägte Literaturwissenschaft weiterhin aufrechterhält, wenn sie sich nicht auf Fragen der Textentstehung, des Stils, der Motiverhellung, der Intra- und Intertextualität beschränkt«. Im Nachwort schreibt Liewerscheidt, dass sich ein »wirkliches Kunstwerk« erst im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte als solches herausstelle. »Je mehr analytische Bemühungen an ihm gescheitert sind« ist dann eines der Kriterien, welches hierfür ins Feld geführt wird.
Das Buch lädt ein, allzu liebgewordene Deutungen, die dem jeweiligen Werk vorauseilen, abzulegen. Dabei stellt Liewerscheidt in jeder Studie zunächst die gängigen Lesarten (und mitunter ihre »Saison«) vor. Hierfür wird auf ein mehr als 150 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis für ausgiebige Studien von Monographien und insgesamt 1074 Anmerkungen zur Verfügung gestellt. Schließlich beginnt das Neu-Lesen Liewerscheidts, zumeist als »Durchgang durch die fiktive Ereignis-Oberfläche« eines Romans, Gedichts oder Dramas. Der Fokus bleibt auf den (die) Protagonisten gerichtet. Ziel ist der theoriearme Zugang, was häufig gelingt. Liewerscheidt versteht seine Ausführungen nicht als absolute und gar einzig mögliche Gegenposition, sondern als zusätzliches Angebot, mit dem andere Deutungsfäden gegebenenfalls neu versponnen werden können.
Den vollständigen Text »Versuch der Befreiung« bei Glanz und Elend weiterlesen.