Solaris ist im gleichnamigen Roman von Stanislaw Lem ein fremder Planet, der von Ozeanen bedeckt ist, und in dessen Orbit die Menschheit der Erde eine Raumstation errichtet hat. Auf diesem Planeten werden alle dem Menschen bekannten Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Als der Protagonist des Romanes, ein Psychologe, auf die Station kommt, entdeckt er, dass einer von den drei dort stationierten Forschern sich das Leben genommen hat, und die anderen beiden geistig verwirrt scheinen und deswegen alle Geräte abschalteten. Kurz darauf entdeckt er auf der Station seine kürzlich verstorbene Frau, die Suizid beging. Er empfindet Schuldgefühle für das Geschehene, weil er nicht erkannt, was seine Frau wirklich bedrückte und ihre Sorgen nicht verstand und hält sich somit für verrückt und bemerkt, dass auch die anderen beiden noch lebenden Forscher jeweils eines dieser surrealen Abbilder, die aus den Erinnerungen und Träumen des jeweiligen Individuums entstanden sind, verbergen. Anders als die anderen beiden Forscher schafft es der Psychologe, seine Gestalt mit der Wahrheit zu konfrontieren. Das Abbild seiner Frau erkennt dann ihre scheinbare Existenz als das, was es ist, doch er möchte es nicht als solches erkennen und formt sich Träume von einem unmöglichen Zusammenleben auf der Erde. Als die anderen beiden Forscher eine Möglichkeit entwickeln, diese Gestalten zu zerstören, ist der Psychologe erst einmal dagegen, diese auch anzuwenden, doch das Trugbild selbst bittet darum und hilft bei der erfolgreichen Ausführung. Nach dem alle Abbilder für immer zerstört worden sind, erkundet jener noch die Oberfläche des Planeten, vielleicht um in den geheimnisvollen Ozeanen nach den Lösungen dieser bizarren Rätsel zu suchen.
Ohne diesen Roman jemals gelesen zu haben, benutze ich die Geschichte für eine eigene Art der Interpretation (bitte differenzieren: Formal gesehen wäre das keine Interpretation, da ich mich nur auf den Inhalt des Romans beziehe):
Als erstes müssen wir ins Auge fassen, dass der Mensch die ihm bekannte Erde verlassen hat und einen fremden, vollkommen unerklärbaren Planeten entdeckte. Diese beeindruckende Schönheit des Planeten, insbesondere des Ozeans, doch auch diese Unergründbarkeit der Vorgänge auf ihm, machen ihm zu einer Form des Utopia, eines Landes, das über unserer Vorstellungskraft und unserem Denkhorizontes liegt. Dies ist wie die uns unergründliche Welt der Metaphysik. Wir haben in unserem Leben einen Bereich, der in unsere Gedankenwelt mit eingreift, doch wir können ihn als Menschen einfach nicht verstehen, zu weit ist er unserem Verstand doch überlegen, aber dazu nachher mehr.
Mit der Art und Weise, mit der diese eigene Welt uns mit unseren Erinnerungen konfrontiert, können wir nicht umgehen, wir verzweifeln daran sogar. Sie zeigt uns dabei doch nur das, was wir noch nicht bewältigt haben, unsere Probleme und Ängste, Alpträume und schlechte Erinnerungen. Wir haben sie längst in die Vergessenheit abgedrängt, doch aus dem Unterbewusstsein wächst dann ein Trugbild heraus, die höchstmögliche Form der Konfrontation. Wir begegnen uns im Grunde nur selbst, aber wir erkennen uns nicht damit. Wir haben die harten und schmerzhaften Wahrheiten aus unserem Leben ausgeschlossen, so als ob sie einem anderen Individuum, das zufällig im selben Körper wohnt, angehören. Wir gehen daran zu Grunde, wenn wir nicht eine Methode finden, dieses Problem zu eliminieren. Wenn wir es mit uns herumtragen, zerfrisst es uns von innen, wenn wir ihnen ins Auge blicken, verlieren wir auf Grund des schauderhaften Anblicks den Verstand.
Im Moment der Problembewältigung dann teilt sich dann plötzlich unsere Persönlichkeit in zwei Hälften, einmal das unbeschadete Leben und einmal das Problem. Diese zwei Identitäten, die beide aber zu einem Individuum gehören, kämpfen dann gegeneinander. Wir selbst beharren auf unserem Standpunkt des heilen Lebens, doch dass das Problem einen Teil aus uns heraus gerissen hat, wollen wir nicht erkennen, dass wir daran verbluten, will uns offenbar auch nicht ersichtlich werden. Wenn wir das Problem also für den Moment besiegen, was die Forscher im Roman auch durchaus ab und zu geschafft haben, etwa die Gestalt in eine Raumkapsel zu sperren, um sie in das All zu schießen, so verdrängen wir das Problem nur wieder, aber wir lösen es nicht. Wir wollen aber nicht erkennen, dass das Problem nicht einfach getilgt werden kann, es muss auf sich selbst aufmerksam gemacht werden, d.h., wir müssen das Problem dem Schaden in uns vor das Auge rücken, allen Ängsten trotzen, damit die Wunden heilen können, wir müssen den Teil von uns wieder aus dem Problem herausreißen, müssen zurückverlangen, was wir uns selbst genommen haben. Wir müssen aus zwei Persönlichkeiten wieder eine machen, nehmen, was uns gehört und wegwerfen, was uns nicht gehört. Dem Tumor sozusagen entreißen, was er aus unseren Organen an sich genommen hat und die »rebellischen« Zellen isolieren.
Wenn wir das geschaffen haben, dann wird das Problem sich mit Hilfe der sozialen Bindungen, die Bänder der Freundschaft und der Liebe, die uns die nötige Kraft dafür vermitteln, selbst vernichten, für immer verschwinden und unsere Wunden können nun endlich heilen. Aus unserem verstörten Leben können dann wieder neue Blüten wachsen.
Das geheimnisvolle Seltsame, das was uns mit unserem Problem konfrontiert, damit wir daraus Gewinn tragen, ist die Macht, die zugleich unser Leben bestimmt. Denn wie kann sie sonst uns mit einem Sachverhalt aus dem Unterbewusstsein konfrontieren, wenn sie unsere Geschicke nicht darauf hinlenkt, dass wir irgendwann dem inneren Feind Auge in Auge gegenüberstehen? In welcher Form sie es auch immer tut, ob als Schicksal, ob als Gottheit, ob als Übermenschliche Wesen oder die Seelen der Verstorbenen, ist vollkommen gleichgültig, denn keine Macht auf Erden kann ihnen trotzen, wir können zwar den direkten Weg abschlagen, aber im Laufe der Zeit kommt alles, wie es kommen muss, wie es von der Allmacht befohlen wurde. Und wir können auch erleben, wie äußerst angenehm es ist, sein Leben in ihren Schoß zu legen, wir können auch den Planeten Solaris betreten, selbst dann wenn wir die Vorgänge dort wohl niemals verstehen werden, so werden wir zumindest von der Anmut und der Schönheit des Planeten und seiner Vorgänge überwältigt sein.
Meine persönliche Solaris ist das Wechselspiel von Religion und Glaube. Ich möchte nicht wahrhaben, dass alles auf der Erde nur eine materielle Ebene besitzt, ich beharre starrsinnig noch auf einen tiefergehenden Sinn, obwohl ich ihn weder sehen noch verstehen kann. Manchmal erwecken Ereignisse in meinem Leben den Anschein, als ob sie einer Vorrausbestimmung folgen würden: So litt ich am Anfang meines Lebens an Asthma. In meiner Jugend wurde dieses dann schwächer, wenn es nicht ganz und gar verschwunden ist (bis heute). Wenn ich überlege, wie groß meine Enttäuschung war, als ich nicht vorzeitig deswegen vom Wehrdienst ausgemustert wurde und dann mir vor Augen werfe, dass ich mit noch vorhandenen Asthma an der »neuen Grippe« sterben könnte, so werde ich verleitet zu glauben, dass mein Schicksal nur das beste für mich will und weil es nachhaltig und vorrausschauend »agiert«, die Weichen meines Lebens in dieser Art und Weise gestellt hat.
Oftmals erlebt man in seinem Leben Vorgänge, die durch ihre Unergründlichkeit und fehlender Erklärungsansätze faszinieren. Versuche ich mir das zu verdeutlichen, so assoziiere ich damit immer die Oberfläche des Planeten Solaris (ich sollte dieses Buch wirklich einmal lesen, wobei es auch irgendwie interessant ist, alleine die eigene Vorstellungskraft ohne die Beschreibung des Autors dafür zu gebrauchen). Die Frage ist nun: Ist das das Werk eines Gottes?
Ich möchte nicht einmal einen Erklärungs- oder Antwortsansatz dafür aufbringen, denn ich vertrete die agnostizistische Denkweise, dass mir nicht ermöglicht wird, die Antwort zu wissen. Irgendwelche Gottesbeweise oder ‑widerlege halte ich für puren Unfug und Produkte der menschlichen Fantasie. Eine sicherlich nicht geringe Anzahl derselben setzt die Existenz, bzw. Nichtexistenz Gottes als archimedischem Punkt der Erörterung voraus, weswegen der ganze Gedankengang im Grunde unbrauchbar ist.
»Die Essenz der Solaris« und mein persönlicher Fels, um nicht den Versuchungen des Atheismus der modernen säkularisierten Medienwelt zu verfallen, besteht darin, dass diese unerklärbaren Vorgänge uns immer wieder auf die eigenen Probleme und Schwächen aufmerksam machen. Der eigene Tod etwa weckt Angst in unserem momentgebundenen Innern, die Undurchschaubarkeit desselben lässt den menschlichen Geist schaudern, doch wenn wir uns den Schwächen des eigenen Egos, dem Abbild unserer eigenen Angst, stellen, sind wir bereit, irgendwann einmal nach dem irdischen Leben, die geheimnisvolle Welt des Planeten Solaris zu erkunden.
Salopp gesagt, müssen wir unseren inneren Schweinehund besiegen, um bereit zu sein, die übernatürliche Welt der Metaphysik zu erkunden, kurzum »zu STERBEN«.
Dringender Rat
Den Roman lesen. Er gilt zurecht als »Klassiker« der Science Fiction-Literatur (was man meiner Ansicht nach nicht von allen Werken des meiner Ansicht nach oft stark überschätzten Lem behaupten kann).
Die »Interpretation« ist – nun ja, interessant. Ich würde sie, nach Kenntnis des Romans, als etwas überzogen bezeichnen: nicht alles bei Lem ist Metapher oder Allegorie, manches ergibt sich einfach daraus, dass er relativ »realistische« SF schrieb. Einfaches Beispiel: Einen Planeten, der komplett von einem Ozean aus organischer Materien bedeckt ist, kann man nun einmal nicht betreten. Meiner Ansicht nach ist das zentrale Thema in »Solaris« das der Verständigung bzw. der Kommunikationsschwierigkeiten.
»Anschluss«
Ich schließe mich dem Rat von MM an. Ich muss zugeben, dass mir der Roman beim erstmaligen Lesen nicht so viel gegeben hat. vielleicht war ich damals auch zu jung. Dass der Roman gut ist, fand ich dann später an den Verfilmungen heraus. (Ich glaube, es gibt zwei davon.)
Ich stimme MM ebenfalls zu, dass mir die Ausdeutung etwas überzogen erscheint. Das ist nun aber kein Fehler, ganz im Gegenteil. Dass ein Buch, der Inhalt eines Buches Kristallisationspunkt für eigene Gedanken wird, hat Hesse ja mit seinen drei Arten des Lesens beschrieben.
Sicher ist nicht alles von Lem von gleicher Qualität. Er hat aber derart viel geschrieben, dass eben auch sehr viel Gutes dabei ist. Sehr vieles ist auch politische Satire.
Ich persönliche schätze den Schnupfen sehr, der mir als Buch zwar nicht gefällt, aber von der Kernidee ziemlich einzigartig da steht. Ich kenne keinen Shriftsteller, der das Thema sonst aufgenommen hat.
Und ich schätze die Sterntagebücher als das humorigste Werk der Science Fiction, bei dem nicht nur ich sondern auch meine Tochter vor Lachen am Boden gelegen ist. Das Werk ist wirklich ein Feuerwerk an Ideen.
@MMarheinecke:
Der Rat ist durchaus angemessen, aber im Moment habe ich sehr viel um die Ohren herum Schwirren, ich denke, ich werde dieses Jahr wohl eher nicht mehr zum Lesen kommen.
Aber bedenken Sie immer: Eine Interpretation ist niemals überzogen, solange man sie begründen kann. Ich glaube, auch psychologische Aspekte sollten eigentlich dabei berücksichtigt werden (konkret: Was hat Lem dazu gebracht, diesen Roman in dieser Art und Weise zu schreiben?)
@Steppenhund:
Die beiden Verfilmungen (die neuere habe ich auf jeden Fall schon gesehen) von »Solaris« fand ich persönlich sehr bewegend. Ich glaube, sie sind aber bei Weitem nicht so informativ wie das Buch.
[EDIT: 16:32]
[OT]
Zwei Bücher, deren Rezension ich gerne hier lesen würde.
Jean Ziegler: der Hass auf den Westen (oder habe ich das übersehen?)
Frank Schirrmacher: Payback
An letzterem lese ich gerade. Das Vorwort finde ich ganz toll und schnelles Querlesen lässt eine angenehme Vorerwartung zurück. Ich selber freue mich, dass jemand dieses Thema aufgegriffen hat. Ein Thema, über das ich mich nicht drüber trauen würde.
auch OT
Ziegler ist ein Hysteriker. Er verknüpft seine Diagnosen immer mit Verschwörungstheorien, die größenteils absurd sind. Er glaubt mit seinem moralischen Anspruch unangreifbar zu sein, weil er es versteht, Kritik an sich bzw. seinen Positionen als Kritik gegen eben diese, seine ethischen Vorstellungen auszulegen. Ich werde von ihm weder ein Buch lesen, geschweige denn besprechen.
»Payback« kommt, aber ich weiss nicht wann.
Ziegler
Ich persönlich finde an Ziegler dessen Auffassung zum Thema Sterben ganz gut. So eine ähnliche Position vertrete ich auch.