Ein Buch wie eine Hilfeschrei. Hier schreibt einer, der getrieben ist von einer besseren Welt. Getrieben von dem Aufsprengen eines Teufelsreises mit den Mitteln der Einsicht, des Arguments – und der Empathie. Der Autor ist Avraham Burg, 1955 geboren, ehemaliger Offizier in einer Fallschirmjägereinheit, ehemaliger Vorsitzender der »Jewish Agency« und ehemaliger Knesset-Sprecher (ein vielfach »Ehemaliger« also). Burg ist Sohn eines »Jeckes«, eines Dresdner Universitätsprofessors, der in Deutschland blieb so lange es eben ging, für eine Unterorganisation des Mossad in Paris illegale Einwanderer herausschmuggelte und dafür sogar mit NS-Offizieren verhandelte und später Minister in mehreren israelischer Regierungen wurde und einer arabischen Jüdin, die als Kind nur mit Glück und Hilfe (ihres arabischen Vermieters) dem Hebron-Massaker 1929 entkam. Dieses Buch will er auch verstanden wissen als Gespräch mit seinem (verstorbenen) Vater und als Dialoggrundlage für seine Kinder (uns es gibt berührende Momente der Annäherung und der Bewunderung seinen Eltern gegenüber).
Von Johannes Rau stammt der Satz: »Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.« Genau um diese Differenz geht es in dem Buch »Hitler besiegen«: Burg ist ein Patriot, der sich gegen das nationalistisch werdende, sich isolationistisch gebärdende und dabei mehr und mehr in Paranoia verfallende Israel positioniert und stattdessen seine, die Werte seiner Familie, die Werte der Gründerväter, die Werte eines modernen, neuen Judentums, setzen möchte.
Burgs These: Israel hat in den 60er Jahren eine mentale Kehrtwendung seiner Identität vollzogen. Die Shoah, der millionenfache Mord der Nationalsozialisten an den Juden, wurde zum Gründungsmythos des Staates Israel mystifiziert und bestimmte immer mehr weit über das normale Gedenken hinaus die politischen Entscheidungen des Staates. Zwar gibt auch Burg zu: Israel entstand aus der Asche und ohne die Shoah hätte es – so die These – den Staat Israel in dieser Form (und in dieser Historie) nicht gegeben. Aber es gab nie den Versuch einer historischen Aufarbeitung dieses ungeheuerlichen Vorgangs, der sich jenseits vorher festgelegter Rituale abspielte. Stattdessen entwickelte Israel sich zu einer multitraumatischen Gesellschaft, einer Koalition aller ihrer Opfer, die ihre schlimmsten Erlebnisse zu ihrer zentralen existenziellen Erfahrung machten.
Eichmann-Prozess als Initiationsritual
Ausführlich beschreibt Burg diesen Prozess und dringt dabei tief in die Gründungsgeschichte des Staates Israel ein. Es gibt einen kleinen Überblick der Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert. Zwei Ereignisse der 60er Jahre waren letztlich für die heutige Situation bestimmend: Der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 und der Sechs-Tage-Krieg 1967 (der zu einem militärischen Triumph für Israel wurde).
Der Eichmann-Prozess war ein Initiationsritual, in dem Israel sich als Opfer bestätigte. Er begründete die israelische Viktimation. Burg vertritt die Meinung, der Prozess hätte damals als internationales Tribunal internationalisiert werden müssen und zitiert in diesem Zusammenhang Hannah Arendts Polemik von Ben-Gurions »Schauprozess«. Ausführlich setzt sich Burg mit der damals diskutierten Möglichkeit auseinander, Eichmanns Todesurteil in eine Begnadigung zu überführen. Er zitiert aus Mitschriften von Regierungssitzungen (in denen unter anderem auch sein Vater, Josef Burg, zu Wort kommt [als Mann der Mitte]). Der Autor vertritt die These, Eichmanns Todesurteil hätte in eine lebenslange Gefängnisstrafe überführt werden sollen (es gab sogar Diskussionen darüber, ihn nach der Verurteilung freizulassen und ihn mit seiner Schuld leben zu lassen). Obwohl strikter Todesstrafen-Gegner versteht Burg durchaus, warum es zu einer Begnadigung nicht gekommen ist, denn Eichmanns Tod sollte das Ende der Shoah und den Beginn der Post-Shoah-Periode symbolisieren. Aus Gründen, die ausführlich behandelt werden, ist dann klar: In Wirklichkeit passierte das Gegenteil. Stattdessen entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine Art Shoah Establishment, welches anderslautende, bedächtige und kritisch-analytische Thesen wie beispielsweise die von Hannah Arendt zum Eichmann-Prozess weder zur Kenntnis nahm, geschweige denn seinerzeit in Israel überhaupt publizierte.
Der großartige militärische Erfolg des Sechstagekrieges war das zweite einschneidende Ereignis; eine Art Pyrrhus-Sieg, den Burg da erkennt. Von nun an schritt die Militarisierung des israelischen Politik voran; nur unterbrochen von einer kurzen Phase des Oslo-Prozesses in den 90er Jahren (dem Übergangsjahrzehnt), die brutal durch die Ermordung Yitzhak Rabins beendet wurde.
Davor und danach wurde die Gefahr einer permanent virulenten zweiten Shoah als Drohpotential implementiert. Die Shoah ist unser Leben, wir wollen sie nicht vergessen und lassen nicht zu, dass jemand uns vergisst. Wir haben die Shoah aus ihrem historischen Kontext gerissen und zur Entschuldigung und Triebkraft jeglichen Handelns gemacht. Alles wird mit der Shoah verglichen, erscheint neben ihr zwergenhaft klein und ist daher erlaubt: seien es Zäune, Belagerungen, Einkesselungen, Nahrungsmittel- und Wasserentzug oder ungeklärte Tötungen. Alles ist erlaubt, weil wir die Shoah durchgemacht haben und niemand uns sagen darf, was wir zu tun haben. Nachträglich bürgerte Israel die 6 Millionen Tote[n] ein Jegliches Handeln wird nun durch die Shoah bestimmt und legitimiert. Burg fasst diese Haltung zusammen: Die Shoah ist einmalig, sie ist nur uns zugestoßen; kontaminiert unsere Shoah nicht mit den Problemen anderer Völker.
Außenpolitik und ritualisiertes Gedenken
Außenpolitisch sieht Burg Israel in einer durchaus besonderen Rolle, gerade wenn man die Geschichte Ernst nehmen würde. Ein apathisches Israel und ein passives jüdisches Volk tragen mehr Verantwortung als andere, die sich der Untätigkeit schuldig machen. Auch hier zeigt die Realität eher das Gegenteil. Israels Außenpolitik unterstützte das südafrikanische Apartheid-Regime bis zu dessen Zusammenbruch. Im Streit zwischen der Türkei und Armenien um die Bewertung der türkischen Massaker der Jahre 1915–17 als Genozid sprang man der türkischen Regierung bei. Burg macht Israel auch als Milošević-Unterstützer während der jugoslawischen Sezessionskriege aus. Mit dieser Art von Politik isolierte sich Israel von tiefgreifenden Weltprozessen und wurde zum Leugner des Holocausts an anderen Völkern. Düster der Schluss aus dieser Art von Arroganz und Geschichtsvergessenheit, die nur sich selber als Opfer geriert und kalte Interessenpolitik betreibt: Wer den Holocaust an anderen verleugnet, wird letztlich erleben, dass sein eigener Holocaust verleugnet wird. Ein Satz, der naturgemäss verstört, aber ohne Zweifel aus einer grossen Verzweiflung resultiert.
Harte Worte findet er auch, was die ritualiserte Gedenk- und Feierkultur in Israel angeht. Sie ist vollkommen geprägt von der Shoah; selbst einst religiöse Feste werden entsprechend »aufgeladen«. Wir stutzten unsere grauenvolle Holocaust-Erfahrung zurecht, bis sie in einige der traditionellen jüdischen Muster passte, und fügten ihr unseren eigenen Symbolismus hinzu. Burg behauptet, dass die Shoah im israelischen Leben inzwischen präsenter als Gott sei. Ausländische Staatsbesucher werden zum Besuch nach Yad Vashem verpflichtet, dieser Pfahl, an den wir unsere Gäste stellen, um ihnen unsere exklusiven Shoah-Werte einzutrichtern, in Wahrheit sei Yad Vashem, so wie es benutzt wird, das größte Monument nationaler Ohnmacht, ein Denkmal der moralischen Taub- und Stumpfheit gegenüber anderen. Eindrücklich plädiert er für eine Neuausrichtung: Yad Vashem soll Sitz des internationalen Strafgerichtshofs werden und es sollen dort Prozesse gegen potentielle Völkermörder stattfinden.
Burg bilanziert den Status quo des Landes mit einer Mischung zwischen Erschrecken und Verzweiflung: Wir haben die Shoah aus ihrer heiligen Position geholt und in ein Instrument gewöhnlicher und sogar abgedroschener Politik verwandelt. Wir haben die Shoah zu einem Mittel im Dienste des jüdischen Volkes gemacht. Der Schuldkomplex es Nichterkennens der Gefahr einer sich abzeichnenden Verfolgung wurde überführt in einen Opfermythos. Dies führte zu absurden, teilweise geschichtsverbiegenden Wahrnehmungen. Burg fragt in diesem Zusammenhang warum…Israel die Warschauer Rebellen posthum [adoptierte], obwohl es vor der Staatsgründung so wenig unternommen hatte – soweit sich überhaupt etwas hätte tun lassen -, um ihnen gegen die Kräfte der Vernichtung und des Todes zu helfen? Der Aufstand im Warschauer Ghetto wurde als »israelisch« deklariert, weil er gut in die Shoah-Vereinnahmung passte. Die heutige israelische Gesellschaft bemerkt dabei gar nicht, so Burg, wie noch mehr als 60 Jahre nach seinem Tod Hitler und seine Schergen Reaktionen und Verhaltensweisen bestimmen (Burg konstatiert dies übrigens auch in Bezug auf die amerikanischen Juden). Die Folgen sind katastrophal nicht nur für das Selbstverständnis einer Nation, sondern auch für das Zusammenleben mit den Nachbarn, die nur als Feinde wahrgenommen werden: In Israel wie auch in Amerika führte der Schuldkomplex über die Shoah zu einer nationalen Besessenheit von überzogener Sicherheitspolitik, zu einem Machtstreben, das oft in primitive Kriegslust übergeht.
Fatale Mischung von Militär und Religion
Unverblümt konstatiert Burg: Wir müssen zugeben, dass das heutige Israel und seine Politik zum wachsenden Hass auf Juden beitragen, unter anderem weil Juden und Israelis…zu Schlägern geworden sind. Natürlich lehnt Burg den vergleich des israelischen Besatzungspolitik mit den Nationalsozialisten vehement ab; nichts wäre unhistorischer als solch ein Blödsinn. Aber ein gedemütigtes, verfolgtes Volk [kann] seinen schlimmsten Peinigern ähnlich werden. Und überdeutlich heißt es dann: Vergangene Unterdrückung verleiht dem befreiten Volk keine moralisch weiße Weste, eher im Gegenteil. Keinen Gedanken verschwendet Avraham Burg daran, dass diese Sätze als Antisemitismus ausgelegt werden könnten (Zitate in falsche Kontexte stellen und/oder Beifall von der »falschen Seite« erhalten – das ist immer ein Risiko.) Tabuisierungen aus falscher Zurückhaltung, die vermutlich selber zu lange praktiziert hat, lehnt er ab. Burg nutzt diese die »Freiheit« des »Ehemaligen«, endlich nicht nur in verbalen Placebos reden zu müssen (wobei dieses Verständnis eines Amtsträgers durchaus ambivalente Gefühle zurücklässt und allzu leicht als wohlfeile Ausrede gelesen werden könnte).
Hart geht Burg mit den orthodoxen Juden ins Gericht (insbesondere und exemplarisch mit Rabbi Yitzhak Ginzburg), die Israel mehr und mehr – auch politisch – beeinflussen. Für ihn sind es …grausame Kidnapper dieser wunderbaren Kultur und nicht ihre authentischen Repräsentanten. Aber noch schlimmer als der schleichende politische Bedeutungsgewinn dieser eigentlich radikalen Minderheit ist die Durchdringung der diskursiven Intoleranz der israelischen Gesellschaft. Burg veranschaulicht dies an einer fiktiven Diskussion mit seinem verstorbenen Vater. In Punkten, in denen wir unterschiedlicher Meinung wären (besonders was sein Eintreten für den religiösen Charakter des Staates angeht), würde er mit mir wie ein Jude diskutieren, nicht wie ein Israeli. Der Israeli würde die Hand wie zum Schlag heben und zischen: »Wofür hälst du dich eigentlich?«, und sobald er mich (durch sein persönliches Veto) disqualifiziert hätte, würde er sich von meinen Fragen nicht mehr betroffen fühlen. Der talmudische Jude würde dagegen zu verstehen versuchen: »Worum geht es dir hier eigentlich?« Er würde mir auf den Grund meiner Argumentation folgen und sich entscheiden, ob er meine Vorschläge annimmt und seine Meinung ändert, oder ob er zu seinem Standpunkt zurückkehrt. In Wahrheit, so Burgs These, verraten die Orthodoxen und Hardliner die Werte, für die vermeintlich suggerieren einzutreten. Burg bekennt sich zu seiner Angst vor einem Israel der Rabbis und Generäle und erkennt durchaus erschreckende Elemente von Rassismus in der aktuellen israelischen Gesellschaft (interessant seine Ausführungen zum Attribut »arabisch«).
Mit einem neuen Judentum aus dem „mentalen Gefängnis“
Selbst bei den eigenen Kindern beobachtet Burg Veränderungen, sobald sie von den Pflichtreisen von europäischen Konzentrationslagern wiederkehren. Die Infiltration scheint perfekt zu sein; er dokumentiert dies auch. Sie führt zu einer Wagenburgmentalität und zu emotionaler Verhärtung. Burg setzt dem seine politische Sicht entgegen: Es droht keine weitere Shoah; Israel ist eine ökonomisch, militärisch und außenpolitisch gefestigte Größe mit den USA als sicheren Bündnispartner. Er verlangt ein Zugehen auf die Nachbarn. Die Araber müssten von der Nazi-Rolle…die wir ihnen zugewiesen haben befreit werden. Heute sind wir nicht nur Richter, sondern auch Herren über das Land, aber unser Urteil ist hart, ungerecht und erbarmungslos. Zwar sei es unmöglich, nach Jahrzehnten die palästinensischen Flüchtlinge in ihre Häuser und Gebiete wieder zurück kommen zu lassen, aber sie müssten entsprechend entschädigt werden, so dass ein Neuanfang möglich ist.
Statt ewig zurückzuschauen, muss nach vorne geblickt werden. Ich bin zutiefst überzeugt, wenn wir die moderne israelische Identität nicht auf Optimismus, Glauben an die Menschen und volles Vertrauen in die Völkerfamilie gründen, haben wir auf lange Sicht keine Existenz- und Überlebenschance – nicht als Gesellschaft in einem Staat, nicht als Staat in der Welt und nicht als Nation in der Zukunft. Die Palästinenser müssten eine Umarmung des Friedens spüren. Burg plädiert für eine Spirale des Fortschritts und Gedenkens, eine Synthese aus Kreis und Linie, aus Veränderung und Kontinuität. Israel müsse endlich Auschwitz verlassen, da es ein mentales Gefängnis sei. Erinnerung zwar bewahren, aber in der Gegenwart leben und die Zukunft gestalten. Undstatt einer eindimensionalen Fahrt in eine Zeit und an einen Ort des Schmerzes, der Demütigung und Vernichtung – Burg spricht hier die Fahrten von israelischen Schülern in Konzentrationslager an – möchte ich eine mehrdimensionale Reise zu Hoffnung und Vertrauen vorschlagen. Hier entwirft er eine ganz neue Reiseroute durch Europa, beginnend im spanischen Andalusien, um hier die Hochkultur des Islam aus dem Mittelalter zu studieren über die Ballungszentren muslimischer Einwanderer in Europa; eine Rundreise durch die von Konfrontation geprägte Geschichte der Juden und Araber.
Burg schreibt große Worte, aber wichtige Details bleiben leider unkonkret. Wie soll beispielsweise der Gesinnungswandel in der israelischen Gesellschaft entstehen? Er stellt kristallklare Diagnosen, während die Therapien eher allgemein bleiben. Er bemüht sich redlich, tritt für die Neuerfindung und Erneuerung eines Pluralismus der jüdischen Religion ein, die in ein Judentum der Liebe münden und das genetische Judentum ersetzen soll. Burg entwirft neue Feiertage, die Gedenken und Zukunftserwartung miteinander in Einklang bringen sollen und nicht nur in bedeutungslose[n]…Ritualen und obsessiven Vorschriften »abgefeiert« werden. Er plädiert für einen interreligiösen Dialog (durchaus angelehnt an Ideen von Hans Küng, auch wenn er ihn nicht namentlich nennt). Hier scheint Burg die Innovationskräfte von Religionen deutlich zu überschätzen.
Parallelen zum Bismarck-Deutschland?
Zu großen Konfrontationen in Israel führten die Ausführungen Burgs, in dem er das aktuelle Israel mit dem deutschen Kaiserreich von 1870 (hier wie dort begründet ein kruder, Teile der Bevölkerung systematisch ausschließender Militarismus eine Nation) und der Weimarer Republik (eine Art Entgrenzung der politischen Kultur auf niedrige Instinktappelle, beispielsweise festgemacht an der Beschimpfung der sogenannten »Novemberverbrecher« in der Weimarer Republik Deutschlands gegen die provisorische Regierung, die den Waffenstillstand im ersten Weltkrieg aushandelte – und der adäquaten Denunziation als sogenannte »Osloverbrecher« im radikalen Milieu Israels gegen die Friedensunterhändler 1993–95) vergleicht und Parallelen feststellt. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe erläutert er noch einmal seine Gründe dafür. Die Parallelen sind gewagt, aber interessant. Dennoch bleibt die Frage, ob man das Buch nicht besser exakt um diesen Exkurs hätte reduzieren und die historischen Analogien separat und vielleicht ein bisschen eindringlicher erläutern sollen. Weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen.
Und eine Allegorie bleibt besonders haften: Als Burg mit einem seiner Söhne in Berlin ist und da unser Rückflug sich verzögerte, hatten wir, Vater und Sohn, unverhofft ein paar Stunden Zeit und gingen in den Berliner Zoo. Während Noam um die Habitate exotischer Tiere strolchte, saß ich da und schaute den gefangenen Affen zu. Alle sprangen lebhaft und verspielt von einem Ast zum anderen. Mit einer Hand hielten sie sich fest, streckten die andere nach dem nächsten Ast aus und hangelten sich weiter. Ein Affe saß allein abseits und mischte sich nicht unter die anderen. Ich erkundigte mich bei einem vorbeigehenden Tierpfleger, was das Tier habe. »Er ist anders«, antwortete er. »Er kann nicht klettern, weil er Angst hat, den Ast loszulassen. Wenn man sich mit beiden Händen an dem Ast festhält, kann man nicht klettern. Das ist sein Schicksal. Er sitzt den ganzen Tag auf dem Boden wie ein Trauernder, der vom Leben um ihn herum isoliert ist.«
Burgs Buch ist keine derbe Polemik, keine wutschnaubende Abrechnung mit politischen Gegnern oder wohlfeile Philippika gegen den israelischen Zeitgeist. Wer genau liest, stellt fest, wie behutsam er die Akzente zu setzen versucht. Zwar ist die Sprache in der Diagnose des Zustands Israels deutlich, aber gleichzeitig so gewählt, dass sie nicht verletzt, es sei denn, man betrachtet bereits die Feststellung des beschriebenen Zustands als Sakrileg. »Hitler besiegen« ist trotz einiger Redundanzen ein sehr lesenswertes, ein aufrüttelndes Buch. Burg gibt zu, dass seine Meinung derzeit eine Minderheitenmeinung in Israel ist. Gerade deshalb bewundert man seinen Optimismus: Wir werden es schaffen steht ja einmal fast trotzig. Er hat dieses Buch trotz der zu erwartenden feindseligen Reaktionen geschrieben, trotz der verbalen Anarchie, die er derzeit in Israel ausmacht – weil er letztlich doch der Kraft des Argumentes vertraut. Man hat nach der Lektüre das Gefühl, dass man dieses Vertrauen bitter nötig haben wird.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Ich denke auch, dass Eichmann eigentlich den Wendepunkt in der gesamten Geschichte des nationalsozialistischen Holocausts darstellen sollte. An ihm wurde sozusagen ein Exempel statuiert, dass es denjenigen, die meinen eine philosophisch fundierte Ansicht (er hat sich ja, so weit ich weiß, auf Immanuel Kant bezogen) für niedere Zwecke – mir fällt gerade kein besserer Begriff ein, aber ich denke, ich werde damit niemanden verletzen – zu missbrauchen, der gesellschaftliche Rückhalt und die Anerkennung derselben verwährt bleiben sollte.
Ich würde den Eichmann-Prozess als das letzte große Scheitern einer vollkommen unsinnigen Ideologie deklarieren.
»Burg schreibt große Worte, aber wichtige Details bleiben leider unkonkret. Wie soll beispielsweise der Gesinnungswandel in der israelischen Gesellschaft entstehen? Er stellt kristallklare Diagnosen, während die Therapien eher allgemein bleiben.«:
Meines Erachtens KANN man auch gar keine konkreten »Therapien« aufwerfen. Das ist ein Prozess, wie er allgemeiner nicht sein könnte. Um dieses Gedankengut wirklich an der Wurzel zu treffen, muss man schon am Keim in den Köpfen der heutigen Juden, bzw. Isrealiten ansetzen. Klar, ich gebe Ihnen Recht, statt große Worte sollten da lieber große Taten beschrieben stehen. Aber er könnte hunderte konkrete Verbesserungsvorschläge nennen oder ein allgemeines Prinzip, das WIR selbst (bzw. die Isrealiten) dann an den empirischen Sachverhalten in concreto anwenden müssen. Ich habe das Buch zwar nicht gelesen, aber der allgemeine implizierte Imperativ, die Hauptintention also, steht meines Erachtens als Untertitel explizit auf dem Cover. Die Begründung dafür wird dann IM Buch genannt.
Inwiefern der Eichmann-Prozess ein Dokument des Scheiterns der NS-Ideologie sein soll, verstehe ich nicht. Diese Aussage impliziert ja fast, dass ohne diesen Prozess die Ideologie nicht gescheitert wäre.
Ich glaube, dass Hannah Arendt den entscheidenden Impuls für eine neue Rezeption des Nationalsozialismus im besonderen (aber auch anderer Diktaturformen im speziellen) gelegt hat, der heute noch viel zu wenig berücksichtigt wird: Nicht nur die »Grossen« haben Verantwortung (und somit Schuld). Dies war die allegmeine Meinung nach den Nürnberger Prozessen. Den Alliierten diente dies als Rechtfertigung für ihren losen Umgang mit Entnazifizierungen und den Deutschen als bequeme Position, die sie von jeder weiteren Verantwortung freisprach.
Die »Grossen« waren waren aber auf breitetste Unterstützung angewiesen. Eichmann war der Inbegriff des Apparatschicks; des willligen Befehlsempfängers (der vermutlich mangels geistiger Potenz die Ideologie aufgesogen und zu seiner gemacht hat). Er organisierte die »Logistik«, war administrativer Vollstrecker. Ohne Leute wie er, hätten die Himmlers und Hitlers sagen können, was sie wollen. Sie befolgten die (nebulös gehaltenen) Befehle; teilweise in vorauseilendem Gehorsam. Ohne sie wären Hitlers Parolen wirkungslos geblieben. Diesen Aspekt sieht Burg vollkommen unterbelichtet (er kritisiert die Prozessführung stark).
Die Dämonisierung der Täter (der »Kleinen« und der »Grossen«) ist kontraproduktiv für eine wie auch immer geartete »Aufarbeitung«. Das war – natürlich grob vereinfacht jetzt dargestellt – eine der Schlussfolgerungen von Arendt. Eine Ent-Dämonisierung bedeutet aber auch unangenehme Schlüsse. Plötzlich werden die Schergen entgegen der Intention – zu Menschen. Sie werden auf »unsere« Ebene sozusagen zurückgeholt. Und dan beginnt das Gruseln erst.
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Sie haben wohl Recht: ich tue Burg eine wenig Unrecht. mehr als das, was er geschrieben hat, kann er vermutlich nicht schreiben. Ich habe vielleicht sogar vergessen zu erwähnen, dass sein Buch ausgesprochen mutig ist. Und das zeigt dann den wahren Ernst der Lage.
Bezüglich des Eichmann-Prozesses haben Sie mich anscheinend missverstanden. Ich meinte nicht dessen persönliche organisatorische Bedeutung im dritten Reich, sondern ich bezog mich viel eher auf die Intensität seiner ideologischen Überzeugung. Und da war Eichmann sicher – wie Sie ja auch sagten – einer der Großen (oder zumindest einer der BEKANNTEN Großen). Den möglicherweise mangelnden Verstand lasse ich mal außen vor...
Ich denke, dass von der gesellschaftlichen Bedeutung her der Eichmann-Prozess ein Meilenstein in der Historie der Entnazifierung ist. Meines Erachtens ist ER das Beispiel schlechthin für eine undurchdachte und engstirnige Weltanschauung. ER wollte doch die Dogmen der »Obernazis« mit einer begründeten und anerkannten Philosophie vereinbaren und ist dabei über seine eigene »Schlauigkeit« gestolpert.
Darum sehe ich hierdrin eine große Symbolkraft, ein Appell, der allen verlautet, dass der Nationalsozialismus die falsche Einstellung ist. Falls meine vorherige Aussage tatsächlich missverständlich sein kann, möchte ich mich für den unbefriedigenden Ausdruck entschuldigen.
Meiner Meinung nach sollte man das Thema NS lieber vorsichtig behandeln, anstatt es ganz und gar links liegen zu lassen. Ich nehme damit Burg in Schutz, weil er natürlich nicht jeden Aspekt eines subtilen und gut durchorganisierten Systemes in Angriff nehmen kann.
Eine wunderbar einfühlsame Zusammenfassung dieses, so legt es Deine Rezension jedenfalls nahe, sehr klugen Buches. Allein eine Überlegung Burgs, von Dir in einem Satz beschrieben , Zitat:
„Zwar sei es unmöglich, nach Jahrzehnten die palästinensischen Flüchtlinge in ihre Häuser und Gebiete wieder zurück kommen zu lassen, aber sie müssten entsprechend entschädigt werden, so dass ein Neuanfang möglich ist.“,
bietet viele Ansatzmöglichkeiten zur Lösung der Palästinenserfrage, wenn sich die offizielle Politik Israels wenigstens zu dieser Einsicht durchringen könnte.