Wann immer in Deutschland in irgendeiner Form von der »Waffen-SS« die Rede ist, kann man sicher sein, dass die Empörungswellen, die Rituale der Entrüstung, hochschlagen. Noch heute brüsten sich Wohlstandskinder, die in den 60er Jahren aufgewachsen sind, mit wohlfeilen Enthüllungsgeschichten, die beweisen sollen, dass Prominente mit 15, 16 oder 17 Jahren in der »Waffen-SS« oder auch »nur« der »Partei« waren. Leute, die noch nie vor Situationen standen wie diese Grünschnäbel richten mehr als 60 Jahre nach Kriegsende mit einem Federstrich über das Leben dieser Leute.
Lange (oder immer noch?) galt diese Form des Journalismus als investigativ. Sie begann übrigens nicht erst mit 1968, wie uns heute die Veteranen dieser Zeit nahelegen wollen und damit hübsch weiter an ihrer eigenen »revolutionären« Legende stricken. Fest steht: Es gibt ungezählte Beispiele, wie Schriftsteller, Schauspieler, Journalisten, Politiker und andere Personen im öffentlichen Raum noch bis weit in die 1980er Jahre von ihrer Vergangenheit »eingeholt« wurden. Der linke Entlarvungsgestus in Sachen Nationalsozialismus entband von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Irrweg, der zwar auch schon lange zurücklag, aber entweder heroisiert oder einfach nur verdrängt wurde. Engagement für Kuba? Maos Kulturrevolution? War da mal was?
Mit der Wende 1989/90 und der »Aufarbeitung« der DDR und ihrer Organisationen begann die zweite Welle. Diesmal nur aus der anderen Richtung. Während linke sogenannte Intellektuelle die DDR noch als »kommode Diktatur« einstuften (sie zogen es vor, in ihren Sommerhäusern in der Toskana oder Portugal Urlaub zu machen) wurde in typisch deutscher Gründlichkeit (Akten, die vernichtet wurden, werden inzwischen mit aufwendiger Technik wieder restauriert; das schafft auf Jahre Arbeitsplätze) beispielsweise das System der Staatssicherheit der DDR (versehen mit dem Kosenamen »Stasi«) akribisch untersucht.
Die SPD stand zur Wendezeit unter einem derart großen Druck, dass sie (bzw. die Vorgängerpartei SDP) in Kapitulation vor eventuellen Denunziationen aus dem konservativen Lager allen ehemaligen SED-Mitgliedern Parteimitgliedschaft und Parteiamt ohne Einzelfallprüfung verwahrte (und sich weitgehend daran bis heute gehalten hat). Ähnlich verfuhren andere Parteien mit ihrem Ost-Nachwuchs nicht, wobei das ein oder andere politische Talent auch schon einmal wegen Nichtigkeiten als »inoffizieller Mitarbeiter« der Stasi denunziert wurde, wenn er/sie der Westnomenklatura zu gefährlich wurde.
Hier eine stringente Linie zu erkennen, ist bis heute schwierig. Jemand wie Manfred Stolpe konnte sich immer aus allen »Stasi«-Vorwürfen herauslavieren. Gregor Gysi klagt jeden einen Maulkorb an, der ihn als IM bezeichnet. Dass er das glaubt zu müssen, zeigt vermutlich das tatsächliche Ausmaß seiner Verstrickungen an.
Matthias Platzeck, Ministerpräsident in Brandenburg, (von einem kurzen Intermezzo bei der »Grünen Liga« seit 1995 Mitglied der SPD) hat sich nach der Landtagswahl für eine Koalition zwischen SPD und LINKE entschieden. Die Gründe hierfür sind äußerst pragmatisch: Die Stimmen der LINKE wuchs bei jeder Landtagswahl; bei der Bundestagswahl (am gleichen Tag) übertrumpfte die LINKE sogar die SPD. Platzeck will die LINKE nun einbinden, anstatt sie als quälende Oppositionspartei im Nacken zu haben. Dumm nur, dass die Spitzenkandidatin der LINKE, Kerstin Kaiser, als Jugendliche freiwillig für die Stasi agierte. Sie hat dies immer frank und frei zugegeben und sich – so versichert sie – dafür bei den Beteiligten persönlich entschuldigt.
Dennoch konnte sich Platzeck durchsetzen: Kein Platz am Kabinettstisch für Kaiser. (Genauer: Als Ministerin kein Platz; ansonsten sitzt sie sehr wohl am Tisch – als Fraktionsvorsitzende.)
Platzeck hat jedoch auf den Protest in seiner Partei an der Koalition (es wäre auch rechnerisch für weitere vier Jahre eine Koalition mit der CDU möglich gewesen) reagiert. Er hat am 02.11. im »Spiegel« einen Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel »Versöhnung ernst nehmen – Warum unser Land endlich inneren Frieden braucht«; (pdf) veröffentlicht.
Dieser Aufsatz sorgt nun für grosse Aufregung. Plädiert Platzeck doch darin, dass zwanzig Jahre nach dem Mauerfall eine »Versöhnung« eintreten sollte.
Zwei Jahrzehnte nach dem revolutionären Umbruch in der DDR müssen wir in Deutschland endlich anfangen, es mit dem überfälligen Prozess der Versöhnung wirklich ernst zu meinen. Eine Frage sollte uns dabei auf die Sprünge helfen: Wie war es eigentlich möglich, dass aus der Bundesrepublik nach der Katastrophe des Nationalsozialismus eine liberale und zivile Gesellschaft werden konnte? Anders gefragt: Welche Entwicklung hätte Deutschlands Westen wohl genommen, wären die Gegner und Feinde von einst nach 1945 derartig unversöhnlich miteinander verfahren, wie wir ehemaligen Kontrahenten des Kalten Krieges und der DDR es bis heute vielfach tun?
Alle postdiktatorischen Gesellschaften stehen vor demselben Grundproblem: Wie weit sollen belastete Gruppen von Menschen in die neue demokratische Gesellschaft integriert werden? Mir ist bewusst: Wer die Aufarbeitung von Diktaturen miteinander vergleicht, der bewegt sich auf dünnem Eis. Schnell ist die Unterstellung bei der Hand, hier wolle einer gleichsetzen, was unterschiedlich war. Dem ist mit dem Historiker Heinrich August Winkler knapp entgegenzuhalten: „Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten fragen.« Fragt man in diesem Sinne, dann begreift man: Die gelungene Demokratisierung, die Westdeutschland nach 1945 sehr zügig zu einem anerkannten Staat unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur unter der Voraussetzung gelingen, dass ehemalige Mitläufer und wo verantwortbar selbst Täter des Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt blieben, sondern einbezogen wurden.
Macht es sich Platzeck nicht zu einfach? Zwanzig Jahre nach dem »Ereignis« war – 1965 in Westdeutschland. Natürlich waren zu dieser Zeit bereits etliche ehemalige NSDAP-Parteimitglieder (von SS-Schergen ganz abgesehen) mit oder ohne Wissen der Öffentlichkeit in teilweise herausragenden Positionen. Aber ist dies eine Rechtfertigung dafür, es heute gleich zu tun?
Ausgerechnet Kurt Schumacher dient ihm als Referenz für dieses Vorgehen. Schumacher, selber jahrelang in Konzentrationslager eingesperrt, schwer kriegsversehrt, soll sich für eine Versöhnung in diesem Sinne ausgesprochen haben:
Bereits im Oktober 1951 – nur sechs Jahre nach dem Krieg! – empfing der SPD-Vorsitzende zwei frühere hohe Offiziere der Waffen-SS zu einem Gespräch, die jetzt als Funktionäre der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« die Interessen ehemaliger Soldaten der Waffen-SS vertraten. Als daraufhin eine internationale Organisation jüdischer Sozialisten Protest erhob, erwiderte Schumacher, viele der 900.000 Überlebenden der Waffen-SS seien gegen ihren Willen in diese Organisation eingezogen worden.
Wörtlich sagte Schumacher: „Die Mehrzahl dieser 900.000 Menschen ist in eine ausgesprochene Pariarolle geraten ... Uns scheint es eine menschliche und staatsbürgerliche Notwendigkeit zu sein, diesen Ring zu sprengen und der großen Masse der früheren Angehörigen der Waffen-SS den Weg zu Lebensaussicht und Staatsbürgertum freizumachen ... Ein kompakter Komplex von rund 900.000 Menschen ohne soziale und menschliche Aussicht ist zusammen mit ihren An¬gehörigen schon zahlenmäßig keine gute Sache für eine junge, von großen Spannungen der Klassen und Ideen zerpflügte Demokratie. Ihnen, die keine kriminelle Schuld auf sich geladen haben, sollte man die Möglichkeit geben, sich erfolgreich mit der für sie neuen Welt auseinanderzusetzen.«
Wer genau liest, stellt fest: Es geht bei Schumacher nicht um den Schlußstrich (das sagt Platzeck selber). Es geht um eine Aufarbeitung, um feststellen zu können, wo die »kriminellen« Elemente sind und wo es sich um Unbeteiligte oder »nur« Mitläufer handelt. Platzeck plädiert nicht für eine Generalamnestie. Das wäre auch fatal. Er plädiert gegen eine Generalbeschuldigung. Man darf gespannt sein, welche Debatte hieraus folgen wird. In Wirklichkeit will Platzeck die SPD im Osten öffnen. Es handelt sich um einen pragmatischen, politischen Akt. Der Affekt in einigen linken Kreisen, Platzeck als Revanchist einzuordnen, zeigt abermals deren Geschichtsdummheit an.
20 Jahre nach Mauerfall ist die Diskussion um DDR- SED – Stasi leider immer noch hysterisch. In vielen Köpfen ist der Kalte Krieg noch nicht zu Ende. Moralpanik ersetzt die sachliche Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte. Immerhin entlastet dies ja von der mühevollen Sammelei und Bewertung von Fakten. Schließlich würde man dann ja feststellen, dass auch die DDR ein komplexes Gebilde war und es nicht so leicht ist, Urteile zu fällen. Natürlich gab es auch innerhalb der Stasi ganz einfach unterschiedliche Dienstgrade und Zuständigkeiten, so dass nicht jeder Stasiangehörige zugleich Teil des Spitzelsystems war. Es gibt daher keinen Grund einer Pauschalverurteilung. Gleiches gilt auch für die SED.
Ich finde es daher gut, was Platzeck im SPIEGEL sagt.
Die etwas künstliche Empörung über die LINKEN Kaiser und Schönenburg stößt mich dagegen ab. Ich selber bin zwar sehr skeptisch gegenüber der LINKEN, da ich in meiner Jugend keine guten Erfahrungen mit der DDR gemacht habe. Die LINKE ist auch häufig zu unkritisch gegenüber ihrer SED-Vergangenheit. Aber auf der anderen Seite gibt das niemanden das recht, mit heiligem Zorn und missionarischen Eifer sämtliche Kinder mit dem Bade auszuschütten. Leute wie Hubertus Knabe z.B. schießen einfach zu weit übers Ziel hinaus. Was er tut, erinnert mehr an Teufelsaustreibung als an die sachliche Tätigkeit eines Historikers.
Wenn ich mir meine Zeilen hier durchlese, komme ich mir selber schon verdächtig vor, die DDR schönzufärben. Es ist schwer, hier keine Missverständnisse auszulösen. Im Grunde plädiere ich dafür, erst einmal genau hinzuschauen und zuzuhören, bevor man urteilt. Das schließt eben auch negative Urteile nicht aus: Wo es Schuld gab, muss sie benannt werden. Aber die DDR-Diskussion, die ich als Ossi wahrnehme, ist aber eher umgekehrt: Hier urteilen häufig Leute, die sich im Besitz einer höheren Moral wähnen, ohne je den Anfechtungen einer Diktatur ausgesetzt gewesen zu sein. Da wird dann schnell verdammt und jeder Versuch, zu differenzieren, als gefährliche Verirrung bekämpft.
Aber solange die Moralpaniker herrschen, ist die innere Einheit des Landes noch meilenweit entfernt.
Moralpaniker
Die »Moralpaniker« sind natürlich durch die Aufarbeitung in der alten BRD entsprechend konditioniert. Wie ich schrieb: Wir sind, was die »Aufarbeitung« der DDR-Geschichte angeht übersetzt auf das Nachkriegsdeutschland bei 1965! Das heisst: Die heisse Phase der »Moralpaniker« ist erst noch zu erwarten. Wobei ich Sloterdijks Bemerkung, dass es eher einen milderen Blick für die im Namen der »linken Sache« verübten Taten bzw. Untaten durchaus teile. Die Schlußstrich-Diskussion um die Stasi-Vergangenheit kommt ja dezidiert aus dem linken Lager. Hätte Platzeck so argumentiert, hätte er keinen Wirbel ausgelöst. Erst die Gegenüberstellung zur »Begnadigung« der Waffen-SS-Leute (ausgesprochen durch Kurt Schumacher – soviel Legitimation muss ein) schafft das Skandalon dieses Aufsatzes im Auge vieler Leser.
Sloterdijk mag recht haben. Aber ich habe das etwas anders erlebt. Die Moralpaniker in Sachen DDR kommen eher aus dem konservativen Lager und nachvollziehbarer Weise aus den Reihen der ehemaligen DDR-Bürgerrechtler. Letztere haben für meine Begriffen ebenfalls häufig übers Ziel hinaus geschossen, aber ich konnte es immerhin nachvollziehen, warum. Aber die Konservativen haben das immer als politisches Kampfmittel genutzt.
Dabei ist ja der Rechts-Links-Gegensatz in dieser Frage ziemlich konstruiert. Aus meiner Sicht war die DDR nicht sonderlich links. Deshalb steht für mich gar nicht erst die Frage, wie ich Gewalt im Namen einer linken Utopie bewerten würde. Natürlich hat die DDR ihre Herrschaft mit Marx und Lenin legitimiert. Aber in der konkreten Alltagserfahrung – so mein Empfinden – war das irgendwie unwichtig und schon gar nicht links. Denn ich empfand wie die meisten die Berufung auf Marx lediglich als aufgesetzt und zwanghaft, ohne jede echte Überzeugung. Dahinter steckte der pure Wille zur Macht und zur Disziplinierung. Diese Herrschsucht war für meine Begriffe zu nackt. Sollten linke Kreise tatsächlich dazu neigen, die DDR wegen ihres vorgeblich linken Charakters etwas zu verharmlosen, liegt es sicher an deren Unkenntnis des DDR-Alltages.