Die »tagesschau« ist auch nicht mehr das, was sie früher war. Soeben konnte man dies deutlich feststellen, hieß es doch in einem an prominenter Stelle platzierten Beitrag von Pia Bierschbach in der Sendung von 20 Uhr, dass das Wahlrecht kurz vor der Bundestagswahl in der Diskussion gekommen sei. Es gehe, so der Film, um die Regelung der Überhangmandate. Detailliert wurde erklärt, wie Überhangmandate zustande kommen. Dabei wurde erläutert, dass eine Partei unter bestimmten Umständen mehr Mandate bekommen kann, als ihr gemäss der abgegebenen Stimmen zustehen. Dann wird behauptet, dass das Bundesverfassungsgericht eine Regelung bis 2011 verordnet habe, dies abzustellen.
Dieser Schluss ist nachweislich falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat keinesfalls die Regelung der Überhangmandate beanstandet, wie dies im Beitrag der »tagesschau« suggeriert wurde. Zwar ist im Beitrag versteckt an einer Stelle von »Teilen der Überhangmandatsregelung« die rede, die beanstandet wurde, aber welcher Teil das ist, bleibt undeutlich. Der Zuschauer muß annehmen, es betreffe generell die Überhangmandate.
Gemeint ist in Wirklichkeit das sogenannte »negative Stimmgewicht«. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht entsprechend moniert. Zwar entsteht es durch die Berechnung von Überhangmandaten, aber nicht jedes Überhangmandat hat mit der reklamierten Regelung zu tun. Der Sachverhalt ist wesentlich komplizierter, wie der Wikipedia-Artikel verdeutlicht.
Von dieser differenzierten Sicht ist bei der »tagesschau« keine Rede. Dies ist – mit Verlaub – entweder bewusste Irreführung oder schlichtweg Ignoranz. Als drittes bleibt noch die Arroganz, dem Zuschauer die komplexen Zusammenhänge nicht verdeutlichen zu wollen. In jedem Fall ist es eine gehörige Portion Desinformation.
Es gibt es vielleicht den ein oder anderen der meint, dies sei »nicht so wichtig« und man könne ja die »tagesschau« da in einer Mail darauf hinweisen (wird sofort erledigt). Ich halte es im Sinne der Glaubwürdigkeit und der so oft beschworenen »Politik(er)verdrossenheit« dennoch für einen relevanten Fall. Das Wort vom »negativen Stimmgewicht« ist nicht einmal im Beitrag gefallen. Das war in der »Phoenix«-Sendung »Unter den Linden« gestern um 22.15 Uhr anders. Aber das schauen viel weniger.
Vermutlich wollte man das Problem in aller gebotenen Kürze umreißen – was natürlich nicht möglich ist und deshalb diese unzutreffende Vereinfachung hervorrief. Eigentlich schade, dass sich die Tagesschau nicht die Zeit nimmt, dem Bürger so etwas genauer, d.h. korrekter zu erklären. Aber genau in diese Richtung gehen die Politikbeiträge nicht nur bei den Privaten, sondern auch bei den Öffentlich-Rechtlichen: Weg von der Information, hin zum Entertainment. Das Kandidatenduell war in dieser Hinsicht bezeichnend. Es bot vier Journalisten/Moderatoren eine Bühne für die Selbstdarstellung als Chefankläger und Volkstribunen – wie notwendige kritische Distanz zu einer überheblichen Aufklärerpose mit implizitem Lügenvorwurf wird, beweist Plasberg in seiner Sendung ja immer wieder aufs Neue. Der Informationswert ist dabei äußerst überschaubar.
Es wäre wirklich wünschenswert, dass das Gebührenfernsehen in einer Wahlsondersendung zur Abwechslung mal die technischen Aspekte des Urnengangs erklären würde: Denn wem ist schon bewusst, dass er seiner bevorzugten Partei unter Umständen schadet, wenn er ihr seine Stimme gibt?
Der Komplex bekam insgesamt mehr als 3 Minuten Raum – das ist bei der Gesamtsendezeit von 15 Minuten sehr viel. Man hätte sehr wohl diesen Punkt erklären können, wenn man suggeriert, die Wahl sei verfassungswidrig. Das »heute journal« hatte am gleichen Tag einen ähnlichen Beitrag im programm, der jedoch die Komponente der Verfassungsproblematik gar nicht aufkommen liess und sich dahingehend Unterschied. Da ging es nur um die »Angst« der SPD, die CDU könne durch Überhangmandate ihre Macht erringen (was Schröder ja einmal auch gelang).