Hat man sich nicht schon einmal nach einem Besuch eines der inzwischen so zahlreichen mittelalterlichen Märkte gefragt, wie denn das Leben im Mittelalter tatsächlich gewesen ist? Wie haben die Menschen gelebt? Kay Peter Jankrift verspricht mit seinem Buch, diesen Alltag zu beschreiben. Störend ist dabei zunächst der reisserische Titel »Henker, Huren, Handelsherren« – zumal ein alltägliches Leben streng genommen nicht alleine auf diese drei Berufsgruppen basieren konnte.
Behandelt wird im Wesentlichen das Spätmittelalter von Mitte des 14. bis Beginn des 16. Jahrhunderts; der Fokus der Betrachtung liegt auf der Stadt Augsburg, einer Stadt mit 15.000–20.000 Einwohnern und seit 1276 »Freie Reichsstadt«. Ausführlich erläutert Jankrift warum seine Wahl auf Augsburg fiel und nicht etwa auf Nürnberg oder Köln (mit 40.000 Einwohnern eine für damalige Verhältnisse untypisch grosse Stadt). Quellenlage und Alter spielten eine Rolle, aber der überraschte Leser erfährt dann, dass unter anderem der überregionale Bekanntheitsgrad des Marionettentheaters der »Augsburger Puppenkiste« ein Kriterium gewesen sei.
Und so erfährt der Lesetr in bisweilen ausladendem Erzählstil von den zahlreichen Pestseuchen (inklusiver einer kleinen aufschlussreichen Kulturgeschichte der Pest), die Augsburg heimgesucht haben (insbesondere 1348 und 1358; aber auch den Heimsuchungen im 15. Jahrhundert wie 1420, 1429, 1438, 1462 [die »Rote Ruhr«], 1463, 1483, usw.), von den Judenpogromen 1348, der Ausweisung der Juden 1438, den Funktionen der Henker (sie hatten unter anderem auch die Aufgabe die Abtritte sauber zu halten) und deren Ächtung, die dann zu Scharfrichterdynastien führte. Man lernt, dass die Strassen aufgrund von Fäkalien und Müll bestialisch gestunken haben müssen, dass die Dienste einer Hure zwei Pfennige »kostete« (ein Geselle verdiente bis zu 20 Pfennige pro Tag) und den Unterschied zwischen freien Prostituierten und Frauenhäusern. Diverse Hinrichtungs- und Foltermethoden werden erläutert – und Jankrift hat auch immer ein Beispiel (mit Namen!) dabei, sofern es die Quellen hergeben. Wenn es aber aus Augsburg nichts gibt, dann werden Daten beispielsweise aus Köln, München, Ulm oder Nürnberg locker (und mitunter reichlich verwirrend) integriert.
Es gibt eine Abhandlung über Homosexualität im Mittelalter und sogar über Sodomie (aber davon ist nur ein Fall belegt) und auch die (oft vergebliche) Kunst der Ärzte (und Quacksalber) wird erläutert. Es gibt Informationen über mittelalterliche Friedhöfe (die auch arg gestunken haben müssen), die diversen »Ungelde« (Steuerfestsetzungen nach Kassenlage – daran hat sich also auch nach 600 Jahren nicht viel geändert), einen interessanten Exkurs über Pergament und Papier – und gefälschten Safran. Wir bekommen den Einzug eines »Ketzermeisters« (1393) erzählt, erfahren einiges über das (fragile) Verhältnis von Juden und Christen (dabei erstaunlich wenig von der Religiosität der »normalen« Leute), sind beim Schützenfest 1509 dabei, erfahren, dass die Opferzahlen bei Seuchen meist viel zu hoch veranschlagt wurden, wie die Stadt um 1412 den Brunnen- und Rohrleitungsbau ausbaute und wie viel ein Fuhrmann für die Beförderung von Baumaterial bekommen hat.
Jankrift erzählt nicht chronologisch sondern nach Themenbereichen. Aber selbst innerhalb der Kapitel springt er nach Lust und Laune durch die Jahrhunderte (und auch Orte). Im Kapitel über Verbrechen, ihre Aufdeckung und Bestrafung springt er von einem Szenario aus dem Jahr 1449 auf ein anderes um 1513, dann die Schilderung eines Vorfalls um 1355, dann 1467, 1430, 1348, 1429, 1448 und 1499. Einmal wird die Neuzeit mit der Entdeckung der »neuen Welt« durch Columbus 1492 ausgerufen – und wenige Zeilen weiter ist man zurück im Jahr 1438. Eine irgendwie geartete Information über die Einheitlichkeit dieser Epoche findet sich aber nirgendwo.
Natürlich soll die »grosse Politik« in diesem Buch nicht die erste Rolle spielen. Konsequent ist es daher, dass die Fugger und ihre enorme Wirkungsmacht tatsächlich nur am Rande auftauchen (in einem Unterkapitel). Und packend wird es, wenn Jankrift das ausserordentlich facettenreiche Leben des Kaufmanns (und späteren Chronisten) Bernhard Zink (1396–1474/75) aufgrund von Zinks Schriften rekonstruiert (und dabei klugerweise zum Beispiel Übertreibungen zurechtrückt). Diese Seiten zählen zu den besten in diesem Buch.
Natürlich muss man die Kriege, in die Augsburg verwickelt wurde, erwähnen (beispielsweise 1372 gegen die bayerischen Herzöge). Jankrift stellt in einem sehr lehrreichen Kapitel auch heraus, wie sich das Kriegswesen im 14. Jahrhundert grundlegend zu verändern begann (es gab Feuerwaffen; man schickte Söldner in den Krieg). Natürlich haben all diese Entwicklungen auch den Alltag der Menschen geprägt.
Aber wie dieser Alltag tatsächlich aussah – bei aller Detailfülle (die manchmal etwas arg schulmeisterlich daherkommt) fehlen essentielle Erläuterungen: Was war damals eine Stadt? (Warum wird dies nicht lexikalisch kurz gebündelt erläutert?) Was zeichnet eine »Freie Reichsstadt« aus? Worin bestanden die Konflikte zwischen dem Reich, den Adeligen und den Städten? Warum nicht mindestens kurz erklären, was die Verbannung, die so oft ausgesprochen wurde, bedeutete? Setzt Jankrift diese Kenntnisse voraus? Wenn ja, warum wendet er sich dann so detailliert den Zünften zu – auch dies müsste dann beim Leser als bekannt vorausgesetzt werden.
Und warum werden diese unterschiedlichen Währungen (Gulden, Taler, Pfennige) nicht versuchsweise in eine gewisse Relation zueinander gebracht (wie er es bei den Prostituierten-Preisen aus Nürnberg und Nördlingen macht)? Statt die Bischöfe von Augsburg im Anhang aufzuzählen, wären andere Tabellen erhellender gewesen. Und was haben die Menschen im Mittelalter eigentlich gegessen? (Einmal ist ganz allgemein ist vom hohen Fleischkonsum die Rede.) Und was hat man getrunken?
Natürlich ist es interessant, dem Autor (in seinem Stolz) bei der Ausbreitung all seiner Fundstücke aus Archiven und Sekundärquellen zuzuschauen (obwohl manchmal Unterkapitel auch förmlich »abstürzen«, wenn zugegeben werden muss, dass keine Informationen vorliegen). Man liest dieses schön aufbereitete (und in der Mitte bebilderte) Buch gerne und durchaus mit Gewinn. Aber dem Anspruch, den Alltag von Menschen im Mittelalter zu zeigen, wird es nur teilweise gerecht. Umfassende Lektüreverweise gibt es in den Fussnoten und im Glossar (ein bisschen oft verweist Jankrift auf eigene Werke). Und wer ein wunderbares, belletristisches Buch aus dieser Zeit lesen will, ist mit Boccaccios »Decamerone« ausgezeichnet bedient.
Eine einfache N**te also zu der Zeit immerhin leicht {???} mehr
als ein einfacher Arbeiter verdienen! Aber es kommt wohl darauf
an wie viel ihrer Zeit sie fuer die Arbeit ausgeben musste, und so.
Die Prostituierten waren gesellschaftlich nicht gut angesehen. Jankrift schreibt zwar, dass sie quasi als »Ventil« für Männer angesehen wurde, die nicht oder nicht ausreichend zum Zuge kamen, dennoch achtete man sie nicht sondern »duldete« ihr Treiben. An dieser Heuchelei hat sich wenig geändert.
Hihi, ich habe gerade eine ähnliche Überlegung angestellt. Wenn das stimmt, was ich jetzt bei oberflächlichem Googeln gelesen habe, Prostituierte müssen im Schnitt pro Arbeitstag 30 Euro Steuervorauszahlung leisten, dann kann man ungefähr auf den Bruttoarbeitsverdienst schließen, den der Gesetzgeber für real hält.
Was die Arbeitszeitauslastung betrifft, da geht es sicher den Prostituierten so wie anderen auch, man sitzt so herum und wartet auf den Feierabend. Im Unterschied zu Beamten werden die Huren aber von ihren Kunden nach Leistung bezahlt.