Eine Zeitreise. Ein déjà-vu. Er ist wieder da. Man hält ein neues Buch in der Hand, »Meine Preise«. Natürlich weiss man – es ist ein nachgelassenes Werk. Raimund Fellinger ordnet es am Ende philologisch ein. Um 1980 (vielleicht 1981) herum hatte es Thomas Bernhard fertiggestellt; einige Seiten des Typoskripts sind faksimiliert. Für einen kurzen Nachmittag nur beginnt die Wüste wieder zu leben. Aber klar, Thomas Bernhard bleibt tot und bis auf weiteres sind keine Wunder zu erwarten.
Naturgemäss (!) möchte der Verlag eine Art Revival begründen. Ein neues Buch! Zwanzigster Todestag! Josef Winkler meinte neulich, dass kaum ein Schriftsteller die österreichische Literatur der 1960er bis 90er Jahre so beeinflusst habe wie Thomas Bernhard (zu den Epigonen seufzte er). Tatsächlich war Bernhard kurze Zeit auch der meistgespielte Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen. Und heute? Bernhard werde von den jungen Schriftstellern, so Winkler, kaum noch gelesen (ähnlich wie Handke, aber das ist ein anderes Thema).
Vom Schriftsteller zum Interviewkünstler
Woran liegt das? An Romanen wie »Holzfällen« oder »Auslöschung« und dem Theaterstück »Heldenplatz« – allesamt von hohem skandalträchtigen Potential? An der fast mystischen Verehrung, die dem Aufreger Bernhard schon zu Lebzeiten zuteil wurde? Bernhard war das, was man in der Politik einen »Polarisierer« nennt.
Unvergesslich diese mallorquinischen (und madrilenischen) Gespräche (Gespräche? oder doch eher platonische Dialoge?) mit Krista Fleischmann (verblüffend die Parallele dieses Settings mit der des Protagonisten Rudolf aus »Beton«).
Fleischmann hatte verstanden, dass man Bernhard nur ausreden lassen muss, um seinen Weltzorn, der gelegentlich als Ekel von ihm arrangiert wurde, zu mildern und in hintersinnige, manchmal arg wohlklingende Sentenzen zu verwandeln. Und welch ein Unterschied zwischen diese lockeren Kaffeehausplaudereien und dem bleischweren Zynismus des anderen grossen Weltzornigen Heiner Müller wenige Jahre später (insbesondere mit seinem Eckermann Alexander Kluge). Nie war die Differenz zwischen österreichischer Grandezza und deutschem Schwermut sichtbarer als hier. Bernhard und Müller wurden, als ihre schriftstellerische Kraft nachliess, Interviewkünstler; sie verwandelten sich mehr und mehr in Schriftsteller-Darsteller. Im Gegensatz zu den heutigen Plapperlümmeln hörte man beiden (aller Unterschiede zum Trotz) noch mit Gewinn (und Vergnügen) zu.
Aber ihre Werkrezeption litt darunter.
Der frühe und der späte Bernhard
Der wahre Bernhard-Leser erinnert sich: Wie atemlos folgte man dem eremitenhaft lebenden Maler Strauch aus »Frost«, der seine Weltabgewandtheit aus purer Verzweiflung zelebriert (aber nicht reflektiert), dabei gelegentlich in sarkastischen Humoresken flüchtet und am Ende entweder dem Wahnsinn oder dem Freitod nahe scheint. Dann ein ruhiges, fast sanftes, aber dennoch unheimliches Buch (»Amras«) über die Flucht von zwei Brüdern. Und mit welcher Intensität erpuzzelte man sich die Geschichte um den Frauenmörder Konrad in »Das Kalkwerk«, die in unterschiedlichsten Versionen der »Kronzeugen« Fro und Wieser und aus Konrads Aufzeichnungen herausdestilliert werden mussten (und einen Gerüchteraum sondersgleichen hinterliessen). Und wie ergriffen folgte man den Ausführungen des wahnsinnig scheinenden Fürsten in »Verstörung«. Und dann diese besessene Bersekerhaftigkeit des Protagonisten Roithammer in »Korrektur«, der ein Bauwerk für seine Schwester plant, den »Kegel«, und dann den Freitod wählt (unvergesslich die letzten Worte des Buches: »Das Ende ist kein Vorgang. Lichtung.«). Auch hier dieses Gespinst von nachgetragenen Erzählungen, Gerüchten und Mutmassungen.
Die Literatur des frühen Bernhard, ein Faszinosum. Elliptische Schachtelsätze, die abschnitts- und kapitellos die Seiten füllen und niemals kommt man auf die Idee vorzublättern. All diese wuchtigen, beklemmend-einnehmenden Bücher, die einen immensen Sog und auf eine verblüffende Weise am Ende Hoffnung erzeugen konnten. Und manchmal fühlte man sich auf eine kuriose Weise verstanden, weil da jemand stellvertretend für einen selber die Welt so sah, wie man sie im Zustand des Übergangs von Melancholie in die Resignation fühlt (und fürchtet) und tatsächlich empfand man sich am Ende mitunter kathartisch gereinigt.
Die späten Bücher dann, mit eher glatter Routine geschrieben, so häufig nur noch Übertreibungsmaschine, die manchmal sehr geölt wirkte, sprachlich zwar immer noch aussergewöhnlich, aber es fehlte der Nachklang. Literatur, die nicht mehr durchlässig war, sondern, wie es moderne Textilien vermögen, den Regen abperlen lässt. Statt existenzialistischer Weltverzweiflung bleiben meist nur wütender Furor und ein paar drollig-skurrile Protagonisten. Wenige Male nur noch durchbrach Bernhard dieses allzu durchschaubare, affektreduzierte Kunsthandwerk (unter anderem mit seinem wohl besten Theaterstück »Der Theatermacher«).
Institutionalisiertes Banausentum
Die ernüchternde Feststellung Bernhards in »Meine Preise« ist, dass die ihm zuerkannten Preise (die merkwürdigerweise in nicht-chronologischer Reihenfolge aufgeführt werden) mit ihm und seinen Büchern höchstens (wenn überhaupt) nur am Rande zu tun haben. Zur Verleihung des Grillparzer-Preises 1972 (hiermit beginnt das Buch) setzt er sich, da man am Eingang nicht die geringste Notiz von ihm nimmt und kein Mensch ihn empfängt, zusammen mit seiner »Tante« (Hedwig Stavianicek, die in Wirklichkeit in keinerlei verwandtschaftlichem Verhältnis zu ihm stand) in eine hintere Reihe (und variiert damit den kindlichen Gedanken, bei seiner eigenen Beerdigung zu Gast zu sein), bevor er dann aufgefordert wird, in der ersten Reihe Platz zu nehmen, neben der Ministerin, die flugs in ein Ministerschnarchen verfällt. Akribisch werden immer wieder die teilweise gravierenden Fehler oder mehr oder weniger versteckten Gemeinheiten aufgelistet, die in den Laudationes auftauchen (so wird er einmal als ein in ‘Holland geborener Ausländer’ bezeichnet). Für Bernhard Belege für so etwas wie ein institutionalisiertes Banausentum.
Den Preisgebern und deren Repräsentanten sind Personen und Werk, die mit ihren Preisen ausgezeichnet werden sollen, gleichgültig. Bernhard erfährt das selbst, als er als Jurymitglied des Bremer Literaturpreises 1966 (er hatte den Preis ein Jahr vorher gewonnen und war daher automatisch in der Jury) das Prozedere der Preisfindung beiwohnt. Bernhard wollte Elias Canetti vorschlagen, der, wie ich glaube, bis dahin noch keinen einzigen Literaturpreis bekommen hatte.
Und dann,
alle hatten ihren Kandidaten, der niemals Canetti gewesen war, genannt, als ich an die Reihe gekommen war und ‘Canetti’ sagte. Ich war dafür, Canetti den Preis zu geben für seine ‘Blendung’, das geniale Jugendwerk, das ein Jahr vor dieser Jurysitzung wieder neu gedruckt worden war. Mehrere Male sagte ich das Wort ‘Canetti’ und jedes Mal hatten sich die Gesichter an dem langen Tisch wehleidig verzogen. Viele an dem Tisch wussten gar nicht, wer Canetti war, aber unter den wenigen, die von Canetti wussten, war einer, der plötzlich, nachdem ich wieder Canetti gesagt hatte, sagte: aber der ist ja a u c h Jude. Dann hatte es nur noch ein Gemurmel gegeben und Canetti war unter den Tisch gefallen.
Die Diskussion zieht sich schier endlos hin, Namen fallen und werden verworfen; es musste eine Entscheidung fallen.
Zu meiner grossen Verblüffung zog plötzlich einer der Herren, ich weiss wieder nicht, welcher, aus dem Bücherhaufen auf dem Tisch, wie mir schien wahllos, ein Buch von Hildesheimer heraus und sagte in umwerfend naivem Tone und geradezu schon im Aufstehen zum Mittagessen: ‘Nehmen wir doch Hildesheimer, nehmen wir doch Hildesheimer’ und Hildesheimer war gerade jener Name, der während der ganzen stundenlangen Debatten überhaupt nicht gefallen war […] Wer wirklich Hildesheimer war, wussten sie wahrscheinlich alle nicht. Im Augenblick wurde auch schon an die Presse die Mitteilung gegeben, Hildesheimer sei nach dieser über zweistündigen Sitzung der neue Preisträger. Die Herren erhoben sich und gingen hinaus in den Speisesaal. Der Jude Hildesheimer hatte den Preis bekommen. Für mich was d a s die Pointe des Preises. Ich habe sie nicht verschweigen können.
Das Preisgeld zählt
Bernhard stellt fest, dass man die Preise nicht vergibt, um jemanden auszuzeichnen, sondern um sich selbst in ein bestimmtes (gutes) Licht zu stellen. Der Ruhm des Ausgezeichneten soll auf den Preisgeber ausstrahlen, der dies wiederum mit entsprechendem Gestus anzuerkennen hat. Bernhard möchte jedoch den Preisgebern diesen »falschen Ruhm« mit aller Kraft verderben. Die Dankesreden verfasst er beinahe immer in allerletzter Minute (was man bei der Lektüre – zumal aus dem zeitlichen Abstand heraus – durchaus bemerkt) und verweigert die üblichen formelhaften Elaboriertheiten. Bernhards Reaktionen in Form der im wahrsten Sinne des Wortes vom Munde abgesparten Reden sind legendär. Spätestens mit der Dankesrede zum »Kleinen Österreichischen Staatspreis«, die im Anhang des Buches abgedruckt ist und für einen Eklat sorgte, ist die Stigmatisierung in der Öffentlichkeit perfekt. Liest man diese Rede heute nach (sie ist im Anhang abgedruckt), so wundert man sich ob der hohen Wellen, die sie geschlagen hat.
Fahrt zu einer Hinrichtung nennt er einmal die Taxifahrt zum Veranstaltungsort. Er begibt sich zu den Demütigung[en] in diese Salonlöwenhöhle[n] letztlich nur aufgrund der Preisgelder. Nur halbherzig geisselt er sich ob der Charakterlosigkeit diese Preisgelder anzunehmen, aber er braucht das Geld, kauft sich davon ein Auto (es folgt eine wunderbar leichte, fröhliche Geschichte mit fast kindischer Freude über den Kauf eines Triumph Herald, die Annehmlichkeiten des Autofahrens und die Reise damit nach Jugoslawien – hier war er so glücklich, wie noch nie), stürzt sich von einem anderen Preisgeld in ein Abenteuer namens Hauskauf, leiht auch noch seinem Lektor Geld (und scheint froh, ihn endlich auch einmal finanziell unterstützen zu können).
Das Geschriebene verleitet dazu, den Thomas Bernhard im Buch für den realen Thomas Bernhard zu halten und damit die Ereignisse selber alle für wahr zu nehmen. In mindestens einem Fall widersprach nach dem Vorabdruck von Teilen des Buches in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Schriftsteller Arnold Stadler der Darstellung (es handelt sich um das Preisgeld bzw. die Schilderung von dessen Übergabe zur Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie im Jahr 1967, die Stadler anders widergibt). Im diesem Kontext, einer gewissen Virtuosität beim »Gestalten der Fakten« (Stadler), muss auch diese, mit Abstand wuchtigste und grobschlächtigste Eruption aus »Meine Preise« gelesen werden:
Die Leute, die mich auf den Preis angesprochen haben, dachten alle, ich hätte natürlich den Großen Staatspreis bekommen, und ich war jedes Mal der Peinlichkeit ausgesetzt, ihnen zu sagen, dass es sich um den Kleinen handle, den schon jedes schreibende Arschloch bekommen habe. Und ich war jedes Mal gezwungen, den Leuten den Unterschied zwischen dem Kleinen und dem Großen Staatspreis auseinanderzusetzen, hatte ich das getan, hatte ich den Eindruck, dass sie mich überhaupt nicht mehr verstanden. Der Große Staatspreis, sagte ich immer wieder, sei für ein sogenanntes Lebenswerk und man bekomme ihn im höheren Alter und er werde von dem sogenannten Kunstsenat verliehen, der sich aus allen jene zusammensetze, die bisher diesen Großen Staatspreis bekommen haben und es gäbe nicht nur den Großen Staatspreis für Literatur, sondern auch den für die sogenannte Bildende Kunst und den für Musik etcetera. Wenn mich die Leute fragen, wer denn diesen sogenannten großen Staatspreis schon bekommen habe, sagte ich jedes Mal, lauter Arschlöcher und wenn sie mich fragten, wie denn diese Arschlöcher hießen, so nannte ich ihnen eine Reihe von Arschlöchern, die ihnen alle unbekannt waren, nur mir waren diese Arschlöcher bekannt. Und dieser Kunstsenat setze sich also aus lauter Arschlöchern zusammen, sagten sie, weil du alle, die in dem Kunstsenat sitzen, als Arschlöcher bezeichnest. Ja, sagte ich, in dem Kunstsenat sitzen lauter Arschlöcher und zwar lauer katholische und nationalsozialistische Arschlöcher und dazu noch ein paar Alibijuden. Mich widerten diese Fragen und diese Antworten an. Und diese Arschlöcher, sagten die Leute, wählen jedes Jahr neue Arschlöcher in ihren Senat, indem sie ihnen den Großen Staatspreis verleihen. Ja, sagte ich, jedes Jahr werden neue Arschlöcher in den Senat, der sich Kunstsenat nennt und ein unausrottbares Übel und eine perverse Absurdität in unserem Staate ist, gewählt. Es ist eine Versammlung der allergrößten Nieten und Schweinehunde, sagte ich jedes Mal.
Verkettung von Missverständnissen
Das sind die Ausbrüche, die heute weitestgehend das Bild von Thomas Bernhard und seiner Literatur prägen. Das vorliegende Buch könnte bei oberflächlicher Lektüre diese allzu einseitige Rezeption durchaus befördern, zumal auch Bernhards deftige (und dabei doch kunstvolle) Austrittserklärung aus der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Dezember 1979 abgedruckt ist (Bernhard selber hatte dies verfügt).
Da diese kaskadischen Erregungen jedoch tatsächlich beim näheren Hinsehen häufig genug ziemlich flau erscheinen und nur für den kurzen Moment den Leser zu affizieren vermögen (mehr jedoch aus Melancholie diesem tatsächlich grossen Schriftsteller gegenüber als aus Ergriffenheit), verpuffen sie am Ende als episodische Aphorismen, werden jedoch (irrtümlich) repräsentativ für das gesamte Werk genommen. Was dann (leider) schwache Geister zum erbärmlichen Epigonentum treibt, mit dem sie dem grossen (für sie auf immer unerreichbaren) Hassliebeobjekt den Garaus machen wollen (Schande über die Redakteure, die ihre Empathie einem bankrotten Schriftsteller gegenüber durch diese Schäbigkeit austoben und »trauriges Land, das solche Schwätzer für Originale hält«).
Aber in einer Geschichte aus »Meine Preise« zeigt sich auch der gefühlvolle, menschenfreundliche Thomas Bernhard. Anlässlich eines Preises für sein autobiografisches Buch »Der Keller« sitzt er neben dem Präsidenten der Salzburger Handelskammer, einem Herrn Haidenthaller, am Tisch. Sein Salzburger Verleger flüstert ihm ins Ohr, dass dieser Mensch todkrank sei und keine zwei Wochen mehr zu leben habe (es werden dann sechzehn Tage sein). Bernhard, der schon vorher für diesen natürlichen und jeden Pseudo-Intellektualismus unverdächtigen Mann Sympathien entwickelt, und sich erinnert, dass Haidenthaller seine mündliche Kaufmannsgehilfenprüfung vor über dreissig Jahren abgenommen hatte, überkommt nun eine Erschütterung. Er war nun noch viel behutsamer mit dem vornehmen Herren, der, wie ich wusste, aus einer der ältesten Salzburger Familien stammte. Die Schilderung des weiteren Fortgangs dieses Abendessens und den gefühlvollen Umgang mit diesem Mann gehört zum einfühlsamsten, was Thomas Bernhard neben »Wittgensteins Neffe« und seinen primär autobiografischen Büchern (insbesondere »Die Ursache« und »Der Keller«) geschrieben hat.
Die Diskussion und Erregungen um Thomas Bernhard und seine skandalträchtigen Bücher und Dramen befremden und erstaunen heute aus zwei Gründen: Zum einen ist der Ton in der öffentlichen Debatte im Verhältnis zur Zeit Ende der 80er Jahre heute deutlich schärfer und persönlicher geworden (sieht man von einigen Entgleisungen einmal ab). Und zum anderen wirkt Bernhards Haltung auf eine rührende Weise redlich, weil sie nicht in den heute fast üblichen Zynismus abgleitet, sondern moralisch (und auch suchend) daherkommt (ohne freilich in Floskel- und Formelhaftigkeit zu verfallen). Trotz durchaus geschickter medialer Befeuerung seines Zorns wäre es zu kurz gegriffen, hieraus eine rein inszenatorische Masche zu entdecken.
Wer unter die Oberfläche dieses »Erregungskünstlers« schaut, entdeckt auch in »Meine Preise« eine sehr verletzliche, sensible Persönlichkeit. Zum polternden Bernhard wurde er immer mehr als er begriff, dass man sein Werk nur als Profilierungs- und Marktinstrument ge- bzw. missbrauchte. Bernhards künstlerisch-ästhetischer Anspruch wurde entweder ignoriert oder vom bürgerlichen Feuilleton bekämpft. Dass daraufhin Teile des linksliberalen Establishments Bernhard zu vereinnahmen suchten, beruhte auf einem Missverständnis. Trotz seiner Thematisierung der Verdrängung der Zeit des Nationalsozialismus in der österreichischen Gesellschaft sah sich Bernhard nie als politische Galionsfigur oder gar Revolutionär. So fühlte er sich zusehends sowohl schriftstellerisch als auch intellektuell unverstanden. Daher rührt Bernhards Zeit seines Lebens (auch in diesem Buch) beschworene Affinität sogenannten »einfachen Leuten« gegenüber, die ihre Gunst nicht nach Gesinnung vergaben.
Aus der fundamentalen Desillusionierung, die sich für Bernhard sowohl um eine Person als auch dem Werk gegenüber herauskristallisierte, versuchte er irgendwann eine Tugend zu machen und tat dann (fast) alles, um mindestens weiter wahrgenommen zu werden. Wenn man ihn schon nicht liebte, so sollte man ihn wenigstens verachten. Und für die Verachtung seiner Verächter wurde er dann umso mehr geliebt. Bis heute.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Ich kenn das Werk Bernhard’s ungenügend
um darüber Meinungen zu äussern, ich erinnere mich als ich 1964 herum den FROST für den amerikanischen Verleger George Braziller las, an ein Gefühl des Ekels wie von einer verfaulenden grün-braunen Sosse, trotzdem mich das wuchtige dieses Buch’s von einer Empfehlung zu einer Amerikanischen Ausgabe überzeugte, was glaube dann nicht bei Braziller geschah. Ich setzte mich dort ein für Carlo Emilio Gadda’s Via Merulana und das wurde dort gemacht, gerade wieder neu verlegt von der New York Review of Books Books, That Aweful Mess on the Via Merulana.
http://web.archive.org/web/20090923182309/http://www.nybooks.com:80/shop/product?usca_p=t&product_id=6733
Aber ich verstand schon Handke’s erste Aeusserung zu Bernhard; »Ich las und las und las...« Ein Sog vor dem ich mich vielleicht fürchte?
Von Bernhard Interviews habe ich eins vor kurzer Zeit gelesen und dachte dann, daß der vielleicht einer der dümmsten Menschen überhaupt sei. Der Angriff Diller’s in der FAZ zu dem Keuschnig linkt erinnert mich irgendwie an das Witzige der 20iger Jahre im Deutschen Feuilliton, es ist aber das erste was ich von dem Kerl gelesen . In nuce scheint Biller zu sagen: also Bernhard: sie waren tot unglücklich in der Welt, und als konsequent ehrlicher Mensch hätten sie überhaupt nichts mit der Welt zu tun haben sollen; und nicht an dem Spiel der Welt mit spielen. Das kann man ja genau so gut Herrn Diller selbst vorhalten. Siegfried Unseld sagte mir einmal, so um 1980 herum, »der Bernhard macht das richtig.« Ich fragte ihn nicht was er dabei genauer meinte, das so ein Buch und Drama per Jahr, oder das ewige Gaudi des Angriffs und die Publizitaet die das erzeugt. Wahrscheinlich beides. Handke macht es beinah genau so, nennt dann auch den Preis [den Thomas Mann Preis der Bayerischen Akademie] gleich danach einen Scheiss Preis nach dem er ihn angenommen. Bernard hat schon recht das viele dieser Preise sich nur mit dem Namen von Berühmten schmücken wollen, also auch sie wünschen »im Bild zu bleiben« [P.H.].
Das Unglück der Verleger, ob grosser Kultur oder niedriegem Mist, ist dass sie beide Papier einkaufen, Tinte raufdrucken, and das Papier wieder verkaufen müssen, in dem Sinn gleichen sie allen anderen Toten!, nur dass sie sich schon so benehmen müssen während sie noch am Leben sind!
Keuschnig beschreibt das geistvoller als ich:
»Da diese kaskadischen Erregungen jedoch tatsächlich beim näheren Hinsehen häufig genug ziemlich flau erscheinen und nur für den kurzen Moment den Leser zu affizieren vermögen (mehr jedoch aus Melancholie diesem tatsächlich grossen Schriftsteller gegenüber als aus Ergriffenheit), verpuffen sie am Ende als episodische Aphorismen, werden jedoch (irrtümlich) repräsentativ für das gesamte Werk genommen.«
»Bernhard und Müller wurden, als ihre schriftstellerische Kraft nachliess, Interviewkünstler; sie verwandelten sich mehr und mehr in Schriftsteller-Darsteller.Aber ihre Werkrezeption litt darunter.«
Die Ambivalenz zu Preisen ist tatsächlich bei Bernhard und bei Handke bemerkbar. Bernhard hat irgendwann man in einem seiner Interviews gesagt, er wolle eigentlich nur noch den Nobelpreis – um ihn dann sofort ablehnen zu können. Bei beiden scheint die Ehrung an sich akzeptiert und gewollt zu sein – das eigentliche Prozedere wird dann abgelehnt. Weil man verhindern will, dass sich der »Betrieb« mit Person und/oder Werk durch die Preisvergabe schmückt, dreht man durch die Ablehnung (oder Schlechtmachung des Preises) den Spiess einfach um. Das hat irgendwann dann ein bisschen was von einem trotzigen Kind, das mit dem Fuss aufstampft um Widmung zu erzeugen, dann jedoch jegliche Fürsorge ablehnt.
Handkes »Ich las und las...« betrifft die »Verstörung«, also den von mir so genannten »frühen« Bernhard. Das Verhältnis der beiden zueinander war später eher das des Respekts. Bernhard beschreibt in einer Geschichte in »Meine Preise«, wie negativ die österreichische Öffentlichkeit auf seine und Handkes Prosa und Stücke eingestellt war.
Später nannte er ihn einen »Witzel« – s. Interview mit dem »Spiegel« (16.4.1990):
—
Im »Spiegel« 5/1990 ist ein »letztes Interview« mit Thomas Bernhard abgedruckt (geführt von Kurt Hofmann). Hofmann besucht Bernhard in seinem Haus in Ottnang.Dort gibt es eine kleine Passage in Bezug auf Handke:
Das Gespräch ist leider nicht online; auch nicht im »Spiegel«-Archiv.
Ja, es ist schon wunderlich
dass so jemand wie Bernhard dann »Masche« wird! [geworden ist]. Handke ja nicht [auch nicht der Müller], sein besonderer Stolz sich nicht zu wiederholen, was der Marktwirtschaft die doch angeblich immer was Neues will dann eigentlich nicht gefällt. Jemand wie der Simmel Semmel schmeckt ihr, der M.W., dann verlässlich besser.
Muss wahrscheinlich den ganzen frühen Bernhard noch lesen. Dafür kenn ich den Müller aber sehr ausführlich, dadurch dass ich bei der Uebersetzen viele der Texte mitgeholfen habe. Es gab eine Gedänkniss Feier für B. bei
»Beyond Baroque«, in Venice/ L.A. California
http://www.beyondbaroque.org/
der ich beiwohnte, er hatte [hat] auch eine Gefolgschaft unter Amerikanischen Schriftstellern die negativ der Ami-Gesellschaft gegenüberstehen. Hier in Seattle, hab ich dann eine ziemlich grosse Gedänkniss Lesung, vor-Führung, Diskussion für den Müller arrangiert an der Uni, der hatte auch eine ziemliche Gefolgschaft, wie ja auch der Handke... damit ist es aber komischerweise in diesen beiden letzten Fällen jetzt vorbei... es gibt hier keine wirkliche Kontinuitaeten von einer Generation zu der anderen, ausser dass jede ihre eigenen Abgötter hat!
Für Handke war der Bernhard auch der nicht sehr willkommene Ueberbuhler! Wenn H. in der Richtung »Josef Bloch, Mörder aus Unglück« weiter gemacht hätte... aber mit Handke kann man eine Kultur aufbauen, nicht mit B. Aber von einem Moment zum anderen implodiert sowas wieder.
Ja, mein Lieber, mit dieser Rezension schaffst Du es, dass ich das Buch wohl lesen werde müssen.
Es scheint so, als wäre Bernhard nicht der kritisierendeUngustl gewesen, als den man ihn gerne hinstellt, sondern lediglich ein Spiegel jener Gesellschaft, die heute in Seitenblicken und »High Society« masturbiert.
Dafür hättest Du aber gar keine Werbung machen müssen:)
Schöner Beitrag.
»Und heute? Bernhard werde von den jungen Schriftstellern, so Winkler, kaum noch gelesen (ähnlich wie Handke, aber das ist ein anderes Thema).«
Als Handke-Unkundiger habe ich mich beim Lesen dieser Sätze gefragt: Welches Buch Handkes sollte ich zu meinem ersten Buch Handkes machen?
Das ist schwer zu sagen
Dennoch möchte ich drei fiktionale Bücher nennen:
Die Wiederholung
Versuch über die Jukebox
Die morawische Nacht
Von den »Journalen« (tagebuchähnlichen Notizen):
Am Felsfenster morgens
Gestern unterwegs
Sie hatten nach EINEM Buch gefragt, stimmt’s?
Dann »Die Wiederholung«.