Erstaunlich, wie Xaver Bayers Geschichten nachklingen. Tage später ist plötzlich eine Formulierung wieder da. Oder ein Bild. Beispielsweise der Ich-Erzähler, der in Paris verhaftet und von den Polizisten aufs Revier begleitet wird und dabei plötzlich mit der Vorstellung kokettiert, man könne denken, ich selbst sei der Kommissar anstatt des Verhafteten (»Noch einmal für Jean-Louis Trintignant«). Er beginnt plötzlich den französischen Schauspieler zu imitieren: Ich setze bewusst meine Schritte so resolut, dass es für einen in der Situation Uneingeweihten so wirken könnte, als wäre ich es, der die Flics, meine Untergebenen, hinüber zum Kommissariat führt, so als handelte es sich darum, in den nächsten Minuten, drüben, in meinem Büro, die Aufklärung eines Falls in Angriff zu nehmen… Nur Sekunden dauert diese Verwandlung, die augenscheinlich niemand mitbekommt.
Oder der innere Selbstmonolog eines LKW-Fahrers (»Höhenstraßengespräche«), in den immer wieder Beobachtungsfetzen einfliessen, die im gleichen Moment einen Eindruck konterkarieren und damit verblüffenderweise gleichzeitig erweitern: Zwischen den Stämmen der Bäume im krautigen Unterholz blühen die Herbstzeitlosen, und da und dort blinkt das Rot einer weggeworfenen Coladose oder das Grün einer Flasche auf. Da bedarf es der Steigerung fast nicht mehr, dass die Kehlen heiser vom Schweigen geworden sind.
Der Abstieg von nicht näher beschriebenen Wanderern aus einem Höhenwald. Es dämmert schon und sie hatten an manchen Ecken regelrecht das Gefühl, dass die Dorfbewohner in der Zeit, die wir im Wald am Gipfel verbracht hatten, ihre Häuser geringfügig umgestellt hatten, wie um uns in die Irre zu führen. Sie verlieren vollkommen die Orientierung, können auch niemanden fragen, weil sie plötzlich die Sprache nicht mehr verstehen und suchen fast wie die ersten Menschen ein Entkommen aus einem Landschaftslabyrinth (hin zu ihrem »Sehnsuchtsort«, dem Parkplatz).
Es liegt etwas in der Luft
In »Der Nichtsdestotrotzraum« hört ein Ich-Erzähler zunächst vereinzelte Schreie, dann Wimmern und wird dabei von seiner Lektüre abgelenkt. Zunächst meint er es handele sich um Kinderlärm, dann glaubt er, jemand wird gequält. Er kann aber die Quelle des Lärms nicht lokalisieren und wird immer unruhiger. Er überlegt, die Polizei anzurufen, tröstet sich jedoch dann mit der Annahme, dass dort vielleicht ein Paar sadomasochistische Sexspiele veranstaltet oder das die Bauarbeiter, die Umbauarbeiten am Haus vornehmen, in der Mittagspause ein Pornovideo von ihren Handys abspielen. Als dann die Kreissägearbeiten wieder beginnen nimmt er dies zum Anlass den Polizeianruf erst recht nicht mehr zu tätigen. (Hier gibt es allerdings eine kleine Assoziation innerhalb der Erzählung, die nicht verraten werden soll.)
In fast allen zweiundzwanzig Geschichten scheint etwas in der Luft zu liegen, eine dunkle, rätselhafte, nicht näher konkretisierbare aber ständig als Möglichkeit anwesende Bedrohung. Der Leser wird ohne jegliche Einführung in ein Setting geworfen, in das er sich zunächst einmal zurechtfinden muss (was allerdings problemlos gelingt). Die Protagonisten scheinen wie Delirierende des Daseins. Manche (manche?) sind unbarmherzig militant auf eine bestimmte Aufgabe gerichtet, die nicht selten physisch Besitz von ihnen ergriffen hat. Sie sind dabei häufig von Emotionen und damit auch von Empathie befreit oder Verdrängen diese zumindest; manchmal erscheinen sie wie die Eloi in Wells’ »Zeitmaschine« oder bewegen sich einer »1984«-Welt Orwellscher Prägung oder wirken ihrer Absurdität ausgeliefert wie zeitgenössische Sisyphos-Nachfolger.
Manche Erzählungen sind in der Alltäglichkeit verortet, wie »Carime ruft nach ihrer Katze«, in der eine Frau in grosser Sorge ihre Katze sucht, Strassen und Wege abgeht und die Dimension des Abschieds eines Freundes – angedeutet wird, dass es ein Abschied für längere Zeit sein soll – praktisch nicht mitbekommt. Andere wiederum sind reine Abstraktionen, etwa der angedeutete Amoklauf eines Schriftstellers in der Erzählung »Engagierte Literatur«. Der Amoklauf wird detailliert durchgespielt, aber eigentlich nur erwogen, um danach eine Art Manifest posthum zu veröffentlichen: Ich werde getan haben, was ich werde getan haben werde müssen. Oder besser gesagt: Ich werde getan haben, was ich nicht nicht getan gedurft haben werde. Das ähnelt einem Kind, das sich selbst töten will, um seine Umwelt damit zu bestrafen.
Ein andermal ist gleich eine elfköpfige Expeditionsgesellschaft zu einem Wasserfall unterwegs. Sie durchqueren eine dschungelähnliche Landschaft. Im Laufe der Expedition verlieren sie einen Teilnehmer nach dem anderen. Manchmal warten sie eine halbe Stunde, ob der Verschollene doch noch den Weg zu ihnen finden, manchmal plumpsen die Teilnehmer einfach in den Fluss, weil sie schwierige Streckenpassage nicht schaffen. Für die Teilnehmer (und auch den Erzähler) scheint dies nicht besonders aussergewöhnlich zu sein; Rettungsaktionen für die Verschollenen werden nicht erwogen. Am Ende bleiben nur der Erzähler und seine Frau übrig, die nun eine Wand hochklettern. Und dann eine Art Endkampf: Wir ahnten beide, dass keiner von uns einen Gedanken daran verschwendete, was aus dem anderen werden würde, und setzten unseren Weg, der in entgegengesetzte Richtung führte, fort. Aus dem »Wir« wird »Ich«; nur einer bleibt übrig. Plötzlich wälzte sich mit der nun immer rascher voranschreitenden Dämmerung auch etwas anderes, Grosses, Unruhiges über den Wald und den Fluss, und das erste Mal auf dem ganzen Weg, hatte ich das Gefühl nicht allein zu sein…
Und wie fast immer gibt es ein offenes Ende: …ich hielt aus eigenem Willen inne und drehte ganz langsam meinen Kopf, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen. Und der Leser ist wieder heraus aus der Geschichte; wenige Seiten nur mit starker, strenger Verdichtung mit kaum einem Wort zuviel. Alles Weitere wird an den Leser delegiert. Und das ist meist eine fruchtbare Delegation; eine auf beklemmende Art bewusstseinserweiternde, ja erfrischende.
Manchmal breitet Bayer Sekundenmomente zu einer längeren Reflexion aus, ein andermal wiederum besteht eine Geschichte nur aus einem atemlosen, assoziativen Satz. Die Erzählung »Die Abschiedsworte des Bauchredners« zeigt allerdings auch, dass Bayer gelegentlich zur Überinstrumentalisierung neigt. Ein Bauchredner, der in einem Zirkus auftritt, erzählt von der politischen Entwicklung einer weit in der Zukunft liegenden Welt. Es gibt einen Brückenplaneten, der als Übergangsort vorgesehen ist, auf dem man aber jetzt schon seit vierzig Jahren lebt. Eine Weltpolizei beauftragt private Sicherheitsdienste, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Unliebsame Zeitgenossen werden auf Exilplaneten abgeschoben. Auch Piratennetzwerke als letzte oppositionelle Rückzugsräume funktionieren nicht mehr, der Zirkus kann nur durch Mundpropaganda Zuschauer gewinnen. Arg effekthascherisch heisst es: Wir ernährten uns vom Applaus und den uns zugeworfenen Leichenteilen…. Es wächst der Druck, ein Tagespensum von bis zu hundert Witzen oder lustigen Situationen abzuliefern. Eine nicht näher bezeichnete Organisation mit dem Namen Positive-Thinking-Movement (eingebettet in eine Infotainment-Zentrale) bestimmt Art und Form von Berichtstattung und Unterhaltung. Am Ende gibt es eine krude Endzeitvision, ein Verschwinden in die totale Finsternis eines alles verschlingenden Universums.
Ein bisschen aufgekratzt wirkt auch die Parabel »Wie man seine Box zum Verschwinden bringt«. Der Untertitel »Eine Versuchsanordnung« zeigt, worauf Bayer hinaus will. Ein Proband ist gezwungen, sein Leben neben einer Box zu verbringen, in die er nicht hineinblicken darf oder kann. Der Inhalt der Box bleibt unbekannt. Er kann diese Box nun verehren oder ignorieren. Er kann sie zum Kultgegenstand machen oder zerstören wollen. Hier wird Bayer fast essayistisch, aber leider auch aphoristisch: Nehmen wir dem Probanden, der die Box anbetet, eigentlich sein Tun und Lassen eher ab als dem, der von sich behauptet, der Inhalt der Box sei ihm völlig gleichgültig? Mit welchem Recht? Dieser wirkt vielleicht im Alltagsleben glücklicher als jener. Oder umgekehrt. Und am Ende heisst es dann: Der Drang nach Erkenntnis ist, wenn wir von Schlüssigkeit sprechen dürfen, also ein unerfüllbarer. Das hatte man schon anderswo mal ähnlich gelesen.
Ohne zwanghafte Pointenhuberei
Bayers Protagonisten sind aus der Welt gefallen; alle Kategorien von Raum und Zeit scheinen aufgehoben, Bedeutungszusammenhänge und Kausalitäten gelten nicht mehr oder nur noch eingeschränkt. Etwa, wenn ein Politiker eines Tages in kürzester Zeit aus heiterem Himmel nacheinander Geschmack, Gehör, Augenlicht und Sprache verliert und nur noch als kartesianisches Kopfwesen ohne besondere (emotionale) Erinnerungen existiert. Oder jemand nicht mehr so genau weiss, ob er Komparse in einem Historienspiel um die Schlacht bei Jena und Auerstädt ist (hierfür spricht, dass er bei einigen Leuten Fotoapparate und Bratwürste bemerkt) oder ob er hineinprojiziert wurde in die tatsächlichen Schlacht, weil er wie vom Donner gerührt plötzlich Napoleon ansichtig wurde, umringt von seinen engsten Beratern auf seinem Pferd und über alle Maßen eindrucksvoll. Fast programmatisch für dieses Buch heisst es dann: Die Zeit verging einerseits wie im Flug, andererseits schien nichts weiterzugehen.
Bayers Erzählungen, die ein bisschen an die »Mikado«-Miniaturen von Botho Strauß erinnern, sind dann am stärksten, wenn sie den unterschwelligen Sound des Nicht-Eindeutigen, des Bedrohlichen nicht nur behaupten oder erklären sondern erzeugen und dem Leser die billige Tröstung, es handele sich nur um einen Traum oder eine Phantasmagorie, verbieten oder mindestens versperren. Freilich ist das oft genug eine Gratwanderung, weil der Eindruck einer zwanghaften Originalität der Geschichten vermieden werden muss, damit diese nicht als komisch, skurril oder gar possierlich mit leichter Hand verharmlost bzw. abgetan werden können. Der Spagat glückt meistens, weil Bayers Erzählungen novellenartig fast immer einen »Point-of-No-Return« begründen, wobei der Moment des »Wendepunkts« häufig erst nach dem Ende der Erzählung eintritt (bzw. abgeschlossen wird) und dem Leser nur der Prozess dorthin erzählt wird. Dadurch sind sie (glücklicherweise) auch frei von zwanghaft herbeikonstruierten Pointen und durch das oft abrupte, mysteriöse und vieldeutige Ende entsteht der Nachhall, der einen Fortgang zu imaginieren beginnt, weil ihn diese Welt, in die er eingetaucht ist, nicht mehr so schnell loslässt. »Die durchsichtigen Hände« ist ein im besten Sinne merk-würdiges Buch.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
KENNE WEDER DEN AUTOR NOCH DAS BUCH
Aber es scheint dem Keuschnig wieder eine grossartig aufmerksame und differenzierte Rezension gelungen zu sein.
Bayer hat heuer (sagt man doch so in Österreich, oder?) den Hermann-Lenz-Preis bekommen.
dann mus sein zeug jedenfalls dem handke ein wenig gefallen
der ja die macht hinter diesem preis ist, oder will er nur seinem zweiten verleger jochen jung einen gefallen tun,
nein er ist kein diktator in diesem fall, letztes jahr oder so hat juergen becker ihn bekommen und handke eine ganz liederliche laudatio in der zeit niedergelassen... also das war nicht seine idee, ich erinnere mich genau als handke so mir nicht dir nichts sagte »becker ist kein guter schriftsteller.« er wusste wohl dass ich den becker kannte, schon viel laenger als ihn. ich sagte dazu nichts, ich hatte mir nie gedanken gemacht darueber ob was becker so in seinen »feldern« machte gut oder schlecht sei, ich fand’s interressant experimentell, er war ein freund ausserdem. unseld wollte dass becker und handke ein literaturzeitschrift fur suhrkamp machen sollten, davon ist dann wohl nichts geworden. das muss so um 1970 gewesen sein. vielleich auch frueher.
Handkes Laudatio auf Jürgen Becker ist schon ein bisschen differenzierter; das Wort, dass Becker kein guter Schriftsteller sei, habe ich nicht gefunden.
Handke beginnt seine Laudatio damit, dass in den Feuielltons viel zu schnell und viel zu eurphorisch gelobt wird und mit lobpreisenden Floskeln um sich geschmissen wird. Handke sinniert nun darüber nach, ob man diese Sprache verwenden muss, um mit seinem Lob auch zu den Verlagen und Lesern durchzudringen und rekapituliert kurz, dass er mit »seiner Art« des Lobes offensichtlich nicht durchgedrungen ist (an den vergangenen Preisträgern, die ‑fast- alle weiter ein Nischendasein fristen).
Spielerisch versucht er sich nun als »Kritiker«, verwendet seinerseits nun die »Gemeinplätze« – aber heraus kommt natürlich keine »Kritik«, wie sie gemeinhin verstanden wird, sondern ein Herantasten an Beckers Werk und seine Sprache. Das gipfelt dann darin:
Es ist zu lernen aus den Büchern Jürgen Beckers – aber keine Angst vor diesem Lernen: denn der Schreiber, der Autor ist selbst dabei ein unentwegt Lernender. So ist statt »Lernen« vielleicht eher das Wort »Einsicht« am Platz, und zu solchem Hauptwort gehört in der Tat einmal das Zeitwort »gewinnen«, wie überhaupt das Lesen seiner Bücher, im Gegensatz zu so vielen Büchern, ein Zeitgewinn ist – Lesen als Zeit gewinnen: Zeichen der Literatur.
Ein tolles Buch
Hallo zusammen,
ich muss sagen ich war anfangs von diesem Buch nicht sehr begeistert. Ich wollte es eigentlich gar nicht lesen, aber ich wurde dazu gezwungen. Da Bayer den Hermann-Lenz-Preis bekommen hat, war mein Professor der Ansicht, dass ich mich diesem Buch widmen sollte. Das habe ich dann auch getan und ich muss sagen, dass ich nach einigen Seiten einfach hin und weg von diesem Buch war. Es hat irgendwas Magisches an sich, was mich einfach so fesselte, dass ich es kaum noch aus den Händen gab.
Des Weiteren möchte ich auch noch sagen, dass mir der Beitrag hier auch sehr geholfen hat. Deshalb würde ich mich gerne noch bedanken. Und ich werde auch weiter fleißig hier eure Kommentare lesen.
Bye
Sabrina
Geholfen? Wobei?