Richard Hoffmanns 50. Geburtstag Ende November 1982 in Dresden – und die Familie, die Freunde, die Arbeitskollegen (einige davon »Genossen«) kommen zusammen; auch diejenigen, die man sonst selten oder nie sieht (es gibt Besuch aus Südamerika). Hoffmann ist Chirurg, seine Frau Anne (geborene Rohde) Krankenschwester. Sohn Christian ist 17 Jahre alt, Robert zweieinhalb Jahre jünger.
Die Vorbereitungen zu dieser Feier, dann die Feierlichkeiten selber (man erinnert sich an andere Bücher, die so beginnen), dem grossen und teuren Buffet (mit manch seltenen Zutaten), dem innigen Hauskonzert von Christian und Ezzo und Reglinde (den Kindern von Christians Onkel Niklas), den »Fehden« der Blas- und Streichinstrumentalisten. Festreden mit politisch eindeutigen oder mehrdeutigen Anspielungen. Überhaupt das Geplauder, die Dispute: man kurz nach dem Tod von Leonid Breschnew, die Spekulationen um den Nachfolger Andropow sind voll im Gange, in Deutschland hatte es Helmut Kohl geschafft und man hört von der Hoffnung, der Westen würde endlich dem »Neuen« härter entgegentreten. Die schroffe Ablehnung Hoffmanns der westdeutschen Ostpolitik gegenüber, die als Wandel durch Anbiederung verspottet wird – und die Gegenposition der Friedensbewegten. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen in den Wurst- und Käseeinwickelpapier[en] namens »Sächsische Neueste Nachrichten«, »Sächsisches Tageblatt« und, vor allem, »Sächsische Zeitung«.
Wie erlebnisreich so ein Anstehen in der Schlange zum Buffet werden kann. Mutmassungen über die Zusammensetzung der Speisen, die politischen Witze und die Vorsicht, wenn dann der linientreue Klinikchef Müller auf die Gruppe zukommt, er, der vorher im Namen der Akademie ein Bild des von Hoffmann so verehrten Malers Curt Querner überreicht hat (und Jahre später, nach seiner Pensionierung, Selbstmord begeht, weil man ihm jetzt, als man ihn nicht mehr braucht, ob seiner Mauscheleien belangen will). Schon hier zeigt sich Tellkamps Könnerschaft im Verdichten von Stimmungen. Politik, die unmittelbar wirkt und nicht im abstrakten Raum verortet ist (hier der Unterschied zum politischen Diskurs zur gleichen Zeit in Westdeutschland, der bestimmte – vor allem ökonomische – Positionen nicht befragen musste). Schon auf diesen ersten Seiten bannt der Autor den anfangs ein bisschen skeptischen Leser ohne ihn in falsche Komplizenschaft zu verstricken und induziert eine Empathie, die nicht mit Sympathie gleichzusetzen ist. Von nun an reisst der Strudel dieses Buches den Leser mit.
Dresdner Refugienbürgertum
Dresdner Stadtteil Weißer Hirsch, Turmstrasse, die Bewohner des Turms: des Tausendaugenhauses, der Karavelle, des Haus Abendstern. Die Hoffmanns, Rohdes, ihre Freunde und Bekannten. Sie repräsentieren das, was Marcel Beyer neulich treffend als »Refugienbürgertum« bezeichnete: ein regimekritisches, aber nicht opponierendes Bildungsbürgertum, welches sich als Abgrenzung zur tumben »sozialistischen« Gleichheitsideologie (die eh meistenteils nur Fassade war, wovon in diesem Buch ausführlich die Rede ist) Rückzugsräume geschaffen hat und dort eine Art Freigeist versuchte, der entfernt ein bisschen an Strukturen des (westdeutschen) evangelischen Pfarrhauses erinnert (ohne dieses zu kopieren).
Vorkriegsware ist hier keine despektierliche Bezeichnung für einen Gegenstand der sechzig Jahre oder älter ist, sondern Ausdruck von Wertschätzung (neudeutsch: Qualität), von Immer-noch-Funktionieren, von Liebe zum Detail (wie wortreich dies zelebriert wird, etwa beim Beschreiben des Barometers, welches Richard von der Familie geschenkt bekommt, dieses Schnitzwerk aus Eichenholz […] »Aneroid-Barometer«, stand in Frakturschrift auf der weissen Skalierung…). Man hört im Haus die Platten der Comedian Harmonists, Melodien voller Wehmut und tapferer Sentimentalität (wohl gemerkt: man schreibt die 80er Jahre).
So scheint die Zeit stehengeblieben, obwohl die Uhr im Tausendaugenhaus alle zehn Minuten schlägt. Aber der »Nachschub« ist längst versiegt (Musik, Literatur, Philosophie – aber auch alltägliche Gegenstände). Das, was man haben möchte, gibt es nicht und das, was man bekommt, ist unzulänglich (wenn nicht gar unbrauchbar); sozusagen beschmutzt, wenn nicht sogar (im manchmal fast wörtlichen Sinn) vergiftet. Eine herrlich-wilde Philippika Richards auf die Automobile, die es in der DDR gibt, illustriert das: …was haben wir? Einen fahrenden Hut namens Dacia, eine in einen Frosch verwandelte Sardinenbüchse namens Saporoshez, einen Kleinbürgertraum mit der Aerodynamik eines Schneepflugs namens Wartburg; wir haben ein stotterndes Komißbrot, geheißen Polski Fiat, eine heulende Zumutung namens Trabant, genannt Rennpappe […] nicht serienmässig die Ohrenschützer, die wir tragen müssten, wenn wir mit Tempo 70 an die Ostsee knattern und glauben, uns im Inneren eines schreienden Babyrachens zu befinden!
Weder rückwärtsgewandte Idylle noch Vision
Refugienbürgertum als Nischenexistenz in der Stadt der Nischen. Soweit es möglich ist, den »sozialistischen« Alltag nicht herankommen lassen. Während der Staat sich und seine Bürger eingemauert hat, mauern sich die Türmer vom Staat (und vor dem Staat) ein, wahren zwar nach aussen Konformität, sind jedoch maximal neutral und leben in einer Welt irgendwo zwischen Goethe und Thomas Mann. Was aber auch nicht geschieht: die Verklärung des Vergangenen. Es gibt weder Sentiment noch eine irgendwie geartete Perspektive und schon gar keine »Vision«; Vorbilder sind Klassiker.
Allerdings wird diese »Türmer«-Gesellschaft, die durch Wohnraumzuteilungen mit linientreuen Bürgern von Amts wegen »unterwandert« zu werden droht (was jedoch weitgehend verpufft) weder als Idylle einer sich hartnäckig Zwischenräume erarbeitenden Bildungsbürgerschicht (die ja im ideologischen Kosmos der DDR gar nicht vorgesehen war) erzählt, noch heroisiert als »Widerständler«, die um ihre intellektuelle Redlichkeit kämpfen (und dabei immer wieder Problem bekommen, nicht in direkte Opposition zu verfallen). Bei Richard Hoffmann, der unvorsichtige und manchmal sogar cholerische Chefarzt, wenig später zum Medizinalrat ernannt (gekonnt versteht es Tellkamp das merkwürdige, aber nach gewissen wenn auch undurchsichtigen Regeln strukturierte Postengeschachere zu skizzieren), entdeckt man im Fassadenleben seines Refugiendaseins eine zusätzliche Fassade.
Er hat ein Verhältnis mit der Institutssekretärin Josta und mit ihr eine dreijährige Tochter, die er (scheinbar) abgöttisch liebt (das grosse Glück). Die Beziehung zu den beiden reduziert sich auf den Donnerstag Nachmittag. Er ist aber nicht bereit, seine Familie zu Gunsten von Josta aufzugeben. Man versucht, ihn mit diesem Verhältnis zu erpressen. Hoffmann hatte schon einmal, als 19jähriger für die Firma gearbeitet. Er beruft den Familienrat ein, will zum Schein auf das »Angebot« eingehen, was die Familie empört ablehnt. Und Anne ahnt, dass da noch etwas sein muss (»mit einer Frau«), aber Richard leugnet es ihr gegenüber. Erst später wird alles publik (Christian erfährt in der Armee davon) und man arrangiert sich (ganz zum Schluss wird Anne noch politisch aktiv, während Richard seinen zerstörten Oldtimer betrauert).
»Ostrom«
Oder der Lektor Meno Rohde, Jahrgang 1940, vormals Zoologe (aus »kommunistischer Familie«). Seine fast schon verzweifelten Versuche, inmitten dieser nivellierten Gesellschaft so etwas wie Kultur zu pflegen. Aber auch er kann (und mag) sich beispielsweise dem ehrabschneidenden Prozedere, welches eine geplante Buchpublikation zu überstehen hat, nicht entziehen. Vom Gutachten des Lektors (das war er), über das Aussengutachten eines nicht im Verlag tätigen Lektors mit Publikationsempfehlung Ja oder Nein nebst Begründung der Entscheidung, dann ging das Ganze zum Zensor, und wenn der sich unsicher war…ging das Konvolut bis zum Bücherminister. Meno wurde von seinem Chef, dem Verlagsleiter, beauftragt, im Gespräch mit dem Autor anklingen zu lassen, welche Stellen man besser verändere, abschwäche und zu klären, inwieweit er zu Zensur, das heisst: zur Selbstzensur, bereit war. Nun also sein Ausflug nach Ostrom zum Schriftsteller Georg Altberg (geboren 1922; Soldat unter den Nationalsozialisten). Ostrom, die Kasernenstadt der Nomenklatura für die man einen Passierschein braucht und die militärisch gesichert ist. Meno ist dort bei den diversen Funktionärsgrössen gelegentlich zu Gast; kommt da den »Raubtieren« sehr nahe, versucht ihre Geschichten zu verstehen und merkt schliesslich, dass ihre Legitimation, die sie – Mitläufer oder Widerständler des Nazi-Regimes – ins Feld führen, längst aufgebraucht ist, dass es nur noch hohle Rechtfertigungen sind.
Eine Fahrt mit dem Zug »Schwarze Mathilde« durch Ostrom. Viel Kolorit, einiges an Ostalgie (es gibt eine rissige, mit Heftpflaster gesicherte Klingel), aber auch viel Dreck, viel Mutlosigkeit und viel Heuchelei. Und am Ende sind es die gestutzten, zensierten, nicht veröffentlichten oder gar ausgestossenen Schriftsteller, die ihre Lektoren, Oberlektoren und Zensoren fast noch trösten müssen und da fast jeder gleichzeitig zensiert und gestutzt wird, aber auch selber wieder andere zensiert und stutzt, entsteht ein fast undurchdringliches Knäuel von Begünstigungen, Vorteilsnahmen, Erniedrigungen und Demütigungen.
Der Einblick in die (fiktive) Dresdner Literatur- und Intellektuellenszene: Ernüchternd ob ihrer Profanität, ihres Opportunismus, ihrer Blindheit, ihrer Weltabgewandtheit, ihres pseudoelitären Gebarens. Nicht einmal Mitleid kommt da noch auf (und auch das, dieses Nicht-Mitleid-Haben ist vielleicht auch schon elitär; »bildungsbürgerlich«?). Nein, man möchte keinen dieser Menschen näher kennenlernen.
All dies personal aus der Sicht Meno Rohdes erzählt – eines Betrachters par excellence, jemand, der sich seinen Teil denkt (und ihn im Tagebuch aufschreibt – andere schreiben prinzipiell nichts auf, aus Furcht vor – ja, vor was wohl?), aber letztlich passiv bleibt (sein Engagement für die junge Judith Schevola, die später aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wird, ist rein defensiver Natur).
Nur einmal ein Ins-Gericht-gehen von Meno Rohde mit den »Türmern« (und sich selber), diese Höhlenbewohner in ihrer fugendichten Welt:
Goethe ist ihm der wichtigste, aber nur, weil er allen hier oben der wichtigste ist, und er ist ihnen der wichtigste nicht, weil sie sich mit ihm auseinandergesetzt, ihn studiert und geprüft, seine manchmal wohlfeilen Sprüchlein an ihrer Wirklichkeit und Lebenserfahrung gemessen haben, sondern weil er anerkannt und sanktioniert, weil er des Bürgers, der sie im Grund ihres Herzens hier oben alle sind, liebster Jasager, oberster Ratsherr, Generalissimus der Meinungen und Gemütsfürst; weil er der Prägekönig ihrer Zitaten-Münze ist. […] Und so sind sie alle hier oben, am liebsten würden sie im Alten Dresden leben, dieser fein-barocken Puppenstube und pseudoitalienischen Zuckerbäckerei, sie seufzen »Frauenkirche!« und »Taschenbergpalais!« und »Hach, die Semperoper!«, aber nie »Außentoiletten! Die herrlich cholerabefördernden Sanitärbedingungen« oder »Die Synagoge!« oder »Die befreienden Wohnverhältnisse früher, zehn Mann auf eine Mietskasernenwohnung!«, sie sagen nie »die Nazis«, sondern »die Tiefflieger«, reden von »Morgenstern der Jugend« und »wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens«, und dann schlug Meno vor Unmut mit der Faust gegen einen Baum. Es stimmte, und doch war er ungerecht.
»Wissen, der gehütete Schatz«
Inmitten dieser Ambivalenzen: die Hauptfigur dieses Buches Christian Hoffmann. Ein Träumer, der sich als Tonio Kröger sieht und dann wieder (mittels seiner Postkartensammlung) auf Reisen ins klassische Konstantinopel, jemand mit einer scharfen Wahrnehmung, einem genauen Blick. Etwa zu Beginn des Buches, als er in das Tausendaugenhaus kommt, diesem Haus zwischen Stille und Unstille, dem Kater Chakamankabudibaba (benannt nach einer Hauffschen Märchenfigur [drunter geht’s nicht]), den Papieren Menos auf dem Schreibtisch, den Fotografien an den Wänden (unter anderem eines von Dönitz). Museal. Und die schlagende Uhr wie eine Vergewisserung, dass die Zeit doch nicht stehengeblieben ist in diesem Haus, in dem Öfen früh morgens angemacht werden müssen. Wobei Kohlen knapp sind und Holzfällen gefährlich ist. Womit wieder die Alltäglichkeit einkehrt.
In den Dresdner Tagen, die »Türmer« besuchend, seinen Lieblingsonkel Niklas (nicht Meno!), der sich im Verlauf des Buches immer mehr eingesponnen hat – in »seiner« Musik, zusammen mit seiner affektierten Frau Gudrun. Die »Unterrichte« dort, dieses Aufsaugen von all dem Wissen, was es in der Schule nicht gibt, denn Wissen hiess der gehütete Schatz dieser hier oben, wo »Banause« ein Schimpfwort ist. Christians Aussenseitertum; er ist unter den Aussenseitern ein Aussenseiter; immer noch eine Abschottung, noch eine Mauer mehr (ein Grundthema dieses Buches).
Christian, der irgendwann Lesesüchtige (Mit 500 Seiten begannen die wirklichen Romane. Mit 500 Seiten begann der Ozean, drunter war Bachpaddeln) im Internat der Erweiterten Oberstufe, er, das Dresdner Großstadtkind mit der pubertätsgeplagten Haut in Waldbrunn, der Hauptstadt des Osterzgebirges. Und natürlich die Mitschüler dort. Die linientreue Swetlana (Jahre später erfährt er von ihrer Zuneigung ihm gegenüber), die hübsche Verena (leider an Siegbert vergeben; der einzige, der um Christians Freundschaft buhlt), die im Staatsbürgerkundeunterricht einmal ein leeres Blatt statt eines Aufsatzes abgab und nur mit Mühe auf der Schule bleiben konnte (sie wird später einen Ausreiseantrag stellen und ins Nirwana einer persona-non-grata fallen) und natürlich Reina (wie erotisierend kann für einen 17jährigen eine rasierte Achselhöhle sein), die Christian zu mögen scheint, aber vor der man ihn warnt (und daher bleibt er reserviert). Christians Arroganz, die Geringschätzung gegenüber anderen, die er ihnen zu verstehen gibt, seine elitär anmutenden Attitüden – man absentiert sich von ihm, dem Schweiger, den sie »Montechristo« nennen, aber immerhin respektieren.
Dann das »Vorkommnis« im zweiwöchigen Wehrlager, als er bei der Lektüre eines Buches eines Nazi-Kommandeurs »ertappt« wird. Nur mit Mühe gelingt es, unangenehme Folgen mittels des Anwalts Sperber zu verhindern (Sperber entscheidet sich für das Mandat mit einem Münzwurf). Das Vorkommnis hat aber dennoch eine Wirkung: Seinen dreijährigen »freiwilligen Dienst« (ohne die Verpflichtung zu diesem Ehrendienst wäre die Zusage zum Studienplatz für Medizin nie erteilt worden) muss er in einer Panzereinheit antreten. Und hier wird ihm sein Verhalten zum Verhängnis, weil seine »Kameraden« kaum Respekt vor dem Intellekt eines Menschen zeigen. Er, das »Muttersöhnchen« wird hässlichen, widerlichen Initiationsriten ausgesetzt – und Christian erlebt am eigenen Leib, wie das Beobachten und Passivität als Provokation wahrgenommen wird (und nicht geschätzt ist), sieht, wie andere noch hässlicheren Demütigungen ausgesetzt sind und ahnt gleichzeitig die Verlockungen des Peinigers: den anderen zu beherrschen; Macht.
Mauer um Mauer
Bei einer Gefechtsübung bekommt Christian kurzfristig einen anderen, unerfahrenen Soldaten zugeteilt, der tödlich verunglückt. Er verliert daraufhin die Fassung, greift den Kompaniechef mit einer Axt an (der rustikale Kretzschmer kann ihn im letzten Moment zurückhalten – stimmt Christian aber öffentlich zu), schreit seine Wut über den Scheißstaat heraus, bekommt dafür zusammen mit Kretzschmer (der einzige, der am Ende überraschenderweise so etwas wie ein Freund wird, vielleicht weil beide so unterschiedlich sind) aufgrund Strafgesetzbuch §220 (»Öffentliche Herabwürdigung«), trotz Sperbers Intervention (Jahre später als Lohn für seine Dienste lässt er sich Anne »zuführen«), zwölf Monate Haft und der Verlust des Studienplatzes. In der Haft abermals Einzelhaft (im sogenannten »U‑Boot«) und Tellkamps Mauermotiv erfährt hier die höchste Perfektion:
Er war in der DDR, die hatte befestigte Grenzen und eine Mauer. Er war bei der Nationalen Volksarmee, die hatte Kasernenmauern und Kontrolldurchlässe. Er war Insasse der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, hinter einer Mauer und Stacheldraht. Und in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt hockte er im U‑Boot, hinter Mauern ohne Fenster.
Christian, erzogen wie der Feind zu denken, die Wahrheit zu sagen, aber dennoch mit Übungsstunden im Lügen und Täuschen gerüstet (sinnlos bei seinem Jähzorn), bei Meno aufs Betrachten geschult – er, der diesen Staat nicht versteht kapituliert nun, resigniert: Jetzt war er also ganz da, jetzt musste er angekommen sein. […] Er hockte nackt auf dem Fussboden, aber die einzige Erkenntnis die kam, war, dass man fror, wenn man einige Zeit nackt auf den Steinen hockte. Was half all das Lernen, Wissen, Betrachten und Nachdenken, wenn man auf archaisches Überleben zurückgeworfen wird? Dass man Hunger und Durst hatte, dass man den Puls zählen kann, dass man auch in der Dunkelheit müde wird, dass man eine Weile nichts hören kann ausser dumpfer Stille, und dass dann das Ohr beginnt, sich selbst Geräusche herzustellen, dass das Auge versucht, ständig Feuerzeugflämmchen zu entzünden, hier und dort und dort, und dass man in der Dunkelheit verrückt wird, auch wenn man noch so viel Gedichte kennt, Romane gelesen, Filme gesehen und Erinnerungen hat.
Exemplarisch für das Dilemma eines Staates, der nur dressierte Phrasendrescher will (obwohl – das war einmal in einem Aufsatz Christians – drosch man die Phrasen zu eindeutig, merkten das die Lehrer auch). Wieder das Mauerthema: Entweder man verkriecht sich hinter immer neuen Mauern und mauert sich sozusagen in einem eingemauerten Staat selber ein (die Beispiele gehen von seinem Vater über die Nomenklatura in Ostrom – auch hier doppelte Abschirmung – oder in der bildungsbürgerlichen Flucht der Türmer) – oder man wird vom Staat eingemauert. Christian resigniert, er wird gebrochen; ist einverstanden mit der Autorität des Staates, die dieser nur mit physischer und psychischer Gewalt durchzusetzen vermag. Resigniert wie auch einige andere Soldaten, die zunächst noch mit Schwejkiaden oder passiver Subversion Kontrapunkte setzen wollten. Und irgendwann scheint dann die Zwangsarbeit in der Karbidfabrik fast als Erlösung und später reinigt er Schaufelradbagger.
Opulenz und Strenge
Intermittierende Erzählwechsel: Menos Tagebuch, Christian auf der EOS oder später in der Armee und im Gefängnis, Richards Erlebnisse an der Klinik, die desaströse, auf Günstlingswirtschaft basierende Versorgungslage (Vorteils-Ausnutzer), Jostas Selbsttötungsversuch, den sie überlebt und ihre Trennung von Richard, die Kabale im Dresdner Schriftstellerverband, die später immer zunehmenden Stromausfälle in der Stadt, die Feste und Einladungen der Nomenklatura.
Rück- und Überblenden, die ein unprätentiöses, ungeschöntes, dabei jedoch nicht per se denunzierendes Bild über das Leben dieser Leute in der DDR dieser UddSR (Union der deutschsprachigen Sowjetrepubliken) zeichnen. Die anfangs durchaus vorhandene Euphorie, dann die Desillusionierungen, Entfremdungen bis hin zum Zorn und schliesslich Resignation, in Zynismus und Privatismus (soweit möglich) mündend; eingeschüchterte Menschen, die Meno einmal Versehrte nennt, in einem kranken Land (vielmals fällt diese Vokabel, häufig in seufzendem Ton).
Es stört kaum, dass der Erzählton von Meno und Christian ähnlich klingt; manchmal vielleicht zu ähnlich (später erhält Christian in der Armee den Spitznamen Nemo [Niemand] – da wird die Nähe zu Meno arg auffällig). Und auch dass einige Figuren ein bisschen statistenhaft auf- und wieder wegtauchen (beispielsweise Christians Bruder Robert oder auch Josta) und andere trotz vielversprechender Einleitung nur ein Mauerblümchendasein fristen, sei nur am Rande erwähnt.
Der Spachduktus des Buches ist erstaunlicherweise einerseits ausladend, opulent, gelegentlich multiperspektivisch gespiegelt und polyphon (dabei jedoch niemals redundant oder gar geschwätzig) – anderseits in der Opulenz fast streng, unaufgeregt und dabei niemals pejorativ; sine ira et studio.
Tellkamps gekonnte, mitreissende Tempo- und Erzählwechsel. Und besonders dieses Innehalten und Vergewissern (zwischen adagio und andante). Die wunderbar episch erzählte Abreise Christians zu seiner Panzereinheit; sein Aufsaugen der Bilder – als sähe er alles zum letzten Mal (»Laß uns ein wenig sehen üben« – so Meno zu Christian und später erfahren wir, dass Meno dies von seinem Vater übernommen hat). Lautmalerisches von Hiddensee im Ostseewind. Oder das Tauwetter im Erzgebirge (…der Schnee war krank, unter dem Harsch sinterte, sickerte es, bildeten sich Wasserdrusen, quecksilberten, leckten Stege dünn zwischen Firnhöhlen, suchten einander, fanden einander, flochten Rinnsale.).
Vielstimmig, kraftvoll, sprachgewaltig: ein episches Wunderwerk
Das Heraufbeschwören von Gerüchen (auch und besonders denen der Arbogastschen Chemiefabrik, deren Gestank so gar nicht mit dessen Salonspielereien – Simulation eines Bildungsbürgertums – korrespondieren). Manchmal auch Komisches, etwa wie die Familie versucht, eine Kokosnuss zu öffnen (es gelingt nicht; kein Werkzeug erweist sich als stark genug) oder der Tannenbaumwettbewerb in der Klinik. Die Ortserzählung von Leipzig. Weihnachten 1986. Richard in seiner Werkstatt. Und immer wieder Dresden: das Alte Dresden, dessen Residuen beim Spazierengehen imaginierend, das Melancholisch-Einsame der alten Villen, aber auch die krankhafte Atmosphäre der Häuser ringsrum, ihr schweigender Verfall und dann der (umfassende) Ziegelkrebs, allenfalls gestützt von (brüchigen) Gerüsten – das »reale« Dresdengrad. Und, und, und. Kleine Epopöen; Ruheinseln im Mahlstrom des Erzählens (dem man sich dann umso bereiter hingibt).
Natürlich kommt irgendwann das Vergleichen. Und da ist ja auch was vom Rothmannschen Ruhrgebietblues, allerdings ohne dessen nostalgische Melancholie, und jegliche Idyllisierung beinahe verbissen meidend. Der Christiansche Solipsismus oder der Meno Rohdesche Stoizismus erinnern bisweilen an Hermann Lenz’ Eugen Rapp (freilich ohne dessen manchmal aufflackernden Fatalismus); das Erzählprinzip (nicht nur die Hypotaxen) lässt an Uwe Johnson denken (der gleichnamige Preis erscheint kongenial vergeben) und in den Dialogen erkennt man stellenweise die Schrulligkeit von »Tadellöser & Wolff«-Figuren, ohne allerdings deren Possierlichkeit zu imitieren.
Bei all den Parallelen (der Verlag und Teile der Kritik ziehen auch Thomas Manns »Buddenbrooks« heran; in der Konstruktion des Buches gibt es Anleihen bei Doderer): Tellkamps Familien‑, Orts‑, Land- und Geschichtspanorama, diese vielstimmige, kraftvolle und sprachgewaltige Erzählung, lässt sich nicht so einfach einordnen. Hier werden keine simplen Stories geschrieben, die billige Authentizität suggerieren sollen. Oder verklärende DDR-Erinnerungsprosa (Sie konnte zum Mythos werden, weil ihr das Scheitern erspart worden ist rasönniert Altberg über die Dubček-Bewegung der Tschechoslowakei 1968 – man muss dieses Buch auch verstehen als Versuch, die DDR zu entmystifizieren), die nachträglich das Gute in Schlechten sucht (oder umgekehrt).
Hier werden (wie es bei Meno einmal heisst) die Phänomene erzeugt und nicht bloss beschrieben. Tellkamp schafft das mit einer wuchtigen Sprache, die er mit grosser Virtuosität einsetzt. Dabei distanziert er sich durchaus von den Protagonisten, ohne sie zu denunzieren, verfällt aber nicht in den Fehler einer berichtenden Sprache. »Der Turm« ist somit weder kunstvolle Reportage noch blosse Diashow einer vergangenen Zeit. »Die Geschichte aus einem versunkenen Land« (so der Untertitel) geht tiefer. Das ist, im wörtlichen Sinne, Welt-Literatur.
Das Ende des kurzen 20. Jahrhunderts
Zuordnungen der zahlreichen Protagonisten mit tatsächlich existierenden Personen sind müßig. Viele sind verfremdet bzw. vermischt; Eklektizismus von (Schriftsteller-)Biografien wurde da betrieben (und man dankt Tellkamp dafür). Nur die Randfiguren haben ihre mehr oder weniger kleinen Cameoauftritte (wie etwa der westdeutsche Verleger »Munderloh«, der natürlich unschwer als Siegfried Unseld zu erkennen ist). Die bohrenden Fragen der Nicht-Leser und Etikettenkleber, dieses Germanisten-Memory des »Who Is Who?« wird es wohl dennoch geben. Man sollte sich hiermit nicht den Blick trüben lassen; es bleibt (wie fast immer) frucht‑, ja belanglos.
Inklusive Haft- und Nachdienzeit verlässt Christian Hoffmann nach rund fünf Jahren die Kaserne, hat seinen »Dienst« abgeleistet, …aber dann auf einmal…schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, »Deutschland einig Vaterland«, schlugen ans Brandenburger Tor: – und mit diesem Doppelpunkt endet dieses Buch und (folgt man dem britischen Historiker Eric Hobsbawm) es ist der Anfang vom Ende des »kurzen 20. Jahrhundert«.
Die ganzen Fortschreibungen, wer wie die »Wende« überstanden hat, bleiben dem Leser erspart, nein: es bleibt seiner Phantasie überlassen. Der Doppelpunkt lädt ein, mit dem Tellkampschen Blick, fernab aller gängigen Klischees und Rollenprosa, die Geschichte nun weiterzuspinnen. Man imaginiert sich dies und das und wünscht sich dann irgendwann eine Fortsetzung, oder besser noch: eine Fortschreibung. Und bei aller Unsicherheit über den weiteren Weg der Figuren – eines scheint sicher, ein Paradoxon besonderer Art, fast ein Treppenwitz: Mit dem Ende dieses von den Türmern so verhassten Systems endet auch ihr eigenes Refugienbürgertum unwiderbringlich. Es konnte nur so lange existieren, wie es als Antipode den sogenannten Sozialismus gab.
Epilog – Kleiner Versuch über den »Wenderoman«
Was ist denn nun mit dem »Wenderoman«? Ein Ruf, halb beschwörend und halb furchtsam ausgesprochen, oft genug ein willkommener Grund, das gerade Vorliegende ungenügend zu finden aber auch der Wunsch, fast eine Sehnsucht, nach einer wie auch immer literarischen Verarbeitung dieser nun abgeschlossenen Epoche (Briefmarkensammler haben es mit ihrem Sammlergebiet DDR wohl leichter).
Aber ist die Frage nach dem »Wenderoman« nicht eine Aufgabenstellung, die den Lehrern diverser Schreibschulen eingefallen sein könnte? Ein ähnlicher Unsinn wie die so oft gestellte Frage nach dem einen »Lieblingsbuch«? Als sei es einem Leser möglich aus der Fülle des Gelesenen zielsicher für alle Zeiten ein Werk herauszupicken und dies allen anderen vorzuziehen. Wie kleingeistig ein solcher Gedanke. Und so auch die Frage, die Forderung, nach dem »Wenderoman«: Wie sollte ein einzelnes Buch allen Phänomenen einer Epoche auch nur annähernd gerecht werden können?
Gibt es DAS eine literarische Werk, welches zum Beispiel den Untergang des »langen 19. Jahrhunderts« (noch einmal Hobsbawm paraphrasierend – er terminierte es von 1789 bis 1914) abhandelt? Oder neigt man nicht eher der These zu, dass so literarisch unterschiedliche Bücher wie zum Beispiel »Radetzkymarsch« von Joseph Roth, »Der Zauberberg« von Thomas Mann und Musils »Mann ohne Eigenschaften« (um nur drei herausragende Werke deutschsprachiger Dichtung zu nennen) uns aus vollkommen verschiedenen Perspektiven und vor andersartigen Hintergründen dies aufzuzeigen vermögen und das die Summe der Lektüre dieser Bücher einfach fruchtbarer ist als würde man nur jeweils eines lesen? Hier das tosende, Weltreich-spielende, melancholisch-depressive Österreich-Ungarn, dort das zurückgezogene, die Protagonisten fast magisch anziehende Sanatorium in der Schweiz und dann noch der nur scheinbar eigenschaftslose, durch die Zeiten taumelnde Protagonist Ulrich. Bei aller Differenz bilden diese Bücher eine Klammer im epischen Erkunden einer Zäsur, die (zumindest) Europa grundlegend geprägt und verändert hat.
Nie wird es nur den einen Epocheroman geben, immer ist ein Ab- oder Untergangsgesang die Summe vieler Stimmen. Und dabei kein nur zurückgewandter Blick, schon gar nicht nostalgisch, höchstens manchmal ein bisschen melancholisch aber auch immer (meist versteckt) auf eine unbekannte (vielleicht bessere) Zukunft gewandt (und ab und an auch hoffend?). Erst die Summe der grossen, wuchtigen Welt-Erzählungen ergibt dann annäherungsweise ein Bild einer Epoche, eines Landes, einer Dynastie und vermag den Leser zurück- und hinein zu versetzen, in dem er diese Strecke mit den Protagonisten mitgeht.
»Der Turm« ist kein Wenderoman, schon gar nicht DER Wenderoman. Er ist viel mehr. Er ist ein Beweis dafür, was grosse Literatur vermag. Etwas, was den Historikern, Soziologen, Politologen, Ethnologen und Philologen nur ganz selten gelingt: Sie zeigt uns gerade im wahrhaftigen Fiktionalen was war und wie es gewesen ist. In dem sie, die Literatur, »allen fertigen Bildern mit Hartnäckigkeit und sanfter Gewalt widerspricht,…verhindert [sie] das traurige Wort Ende über dem Bild von einem Land; wie sie zeigt, dass kein Mensch schon ein Bild von einem Menschen ist, so zeigt sie zugleich, dass ein Land, das sich selber als Bild von einem Land will, kein Raum für lebende Menschen ist« (Peter Handke).
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
Die ursprünglich im Text verwendeten Bilder wurden entfernt. G.K.
Ausführliche und schöne
Rezension.
(Aber was sind eigentlich die »Hypertaxen« für ein Erzählprinzip?)
Danke
Stimmt. »Hypertaxen« sind einfach nur lange Sätze und kein Erzählprinzip.
Hypertaxen
bin jetzt ein bisschen pingelig und auch ehrpusselig, wo es um Verschleifung von Fachtermini geht:
Erzählprinzip gewiss nicht. Aber auch sonst:
Gab es da einfach eine Verwechslung mit Hypotaxe(n)?
Und das ist dann nicht unbedingt der Terminus für lange Sätze (die kann man auch parataktisch herstellen)? Auch wenn Periodenfolgen mit parataktischer und hypotaktischer Struktur recht lange Sätze generieren?
Fragt Robert
Ja, das ist gemeint; ich korrigier’s (Fremdwörter sollte man schon kennen. Das kommt davon, wenn man keinen Lektor hat...)
Und danke für das Wort »ehrpusselig«.
Interessanter Name.
Karl Marx – Karl Mai – BILD
Mit einer gewissen Vorsicht, ob der Lobgesänge, las ich das Buch. Es ist für mich eine Mischung aus Karl Max, Karl Mai und der BILD.
Karl Marx wegen der Satzlänge der ersten beiden Seiten,
Karl Mai wegen der naturalistischen Erzählweise, die offensichtlich die demagogische Basis für die »Wahrheit« bilden soll und
BILD wegen der unwahrscheinlichen Dichte fast aller Klischees, die hier bedient werden.
Ich hoffe, es geht Herrn Tellkamp jetzt besser und es ist ihm gelungen, seine Kinder- und Jugendzeit für sich aufzuarbeiten. Zur Aufarbeitung der Geschichte trägt er m.E. in keiner Weise bei, eher zu einer weiteren Vertiefung von Unverständnis für viele, die diese Zeit erlebt haben. Irgendwann beschreibt er in dem Buch den Papiermangel, der zu einer Nichtveröffentlichung einer Erfindung geführt hätte – hätte es doch bei der veröffentlichung dieses Buches auch einen Papiermangel gegeben.
Sicherlich sind (künstlerisch bedingt und erlaubt) Dinge des täglichen Lebens in verdichteter Form realistisch dargestellt. Andererseits sind wesendliche Dinge dermaßen extrem und naiv verfälscht, daß dieses Buch besser in die Zeit des kalten Krieges gepasst hätte.
Tja,
so unterschiedlich können Urteile ausfallen. Der Vehemenz (und Bösartigkeit) Ihres ablehnenden Urteils könnte man auch entnehmen, dass es Sie ganz schön getroffen hat.
Ich glaube tatsächlich, dass »Der Turm« eines der herausragendsten epischen Erzählungen in deutscher Sprache der letzten Jahre ist.
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