Plädoyer für den Leserkritiker
1968 schreibt der damals 25jährige Schriftsteller Peter Handke über Marcel Reich-Ranicki (#1):
- Reich-Ranicki kann man mit Einwänden nicht kommen: er kennt die alte List, sich dumm zu stellen, weil er nicht argumentieren kann (und er ist nie fähig zu argumentieren, er äußert sich nur mit kräftigem rhetorischem Gestus). »Ich gestehe«, leitet er dann in der Regel seine Sätze ein. Nachdem er aber seine Verständnislosigkeit eingestanden hat, zieht er über das Nichtverstandene her.
Schliesslich bilanziert er:
- Reich-Ranicki stellt sich schon lange keine Fragen über sich selbst mehr. Er, der unwichtigste, am wenigsten anregende, dabei am meisten selbstgerechte deutsche Literaturkritiker seit langem, kann freilich alle Angriffe mit seinem Kommuniquésatz abwehren: »Ein Literaturkritiker, der etwas taugt, ist immer eine umstrittene Figur.« Von mir aus ist Reich-Ranicki unumstritten.
Lassen wir die Motive, die für diesen Zornesausbruch vielleicht im Hintergrund lauerten, beiseite. Handke hat diese Schlussfolgerungen, die er nicht nur polemisch in den Raum stellt, sondern durchaus begründet, vielleicht bereut, denn natürlich war Reich-Ranicki nachtragend und hat später kaum ein gutes Haar an Handkes Prosa gelassen. Wer den Unfehlbarkeitsnimbus des bereits damals fast theokratisch agierenden Reich-Ranicki anzweifelte, wurde entweder verrissen, oder – die höchste Strafe – gar nicht erst beachtet; man galt (und gilt) als Paria (#2). Man hat gelegentlich den Eindruck, derjenige mit den meisten Paria im Garten sei der wirkungsmächtigste und wichtigste Kritiker.
Angst vor den »Massen«
Ausgerechnet diese verstärkt auf persönliche Animositäten und ästhetische Degenerationen fixierten Grosskritiker (#3) und deren servile Assistenten, die irgendwann das lockende Erbe antreten wollen, mokieren sich über die von ihnen abschätzig als »Laienkritiker« denunzierten Leserkritiker, die in Blogs oder anspruchsvollen Online-Literaturmagazinen Kritiken veröffentlichen und ihre Leseerlebnisse formulieren. David Hugendicks Beitrag aus der »Zeit« erscheint in der Textzeile nicht mit seinem Titel (»Jeder spielt Reich-Ranicki«) sondern mit der rhetorisch-effekthascherischen Frage »Wie gefährlich sind Laienkritiken?« Als würden Scharlatane ein unwirksames Medikament massenhaft zum Wucherpreis verkaufen (»Millionen von Laienkritikern« sieht der Autor alarmiert). Fehlt nur noch der Einwand, etliche Leserkritiker schrieben unter »Pseudonym« – als sei die Liste unter Pseudonym schreibender Schriftsteller (und Kritiker) nicht imposant genug.
Da werden Beispiele dümmlicher sogenannter Kurzrezensionen angeführt, als seien diese repräsentativ. Es wird vom »Kult der Amateure« gedröhnt, gar ein Kulturverfall als Möglichkeit angedeutet. »Myriaden« von Kurzrezensionen würden ein »Paralleluniversum« ergeben, allerdings »meistens fern der analytischen Auseinandersetzung mit Literatur«, wie der Autor süffisant anmerkt, aber immerhin Parallelen zwischen der Meinungs- und Lebenshilferhetorik à la Heidenreich und diesen Leserrezensionen entdeckt.
Er vergisst, dass bei Heidenreich und beispielsweise Dennis Scheck (das ist der Mann, der Bücher, die ihm nicht gefallen, einfach wegwirft) in einem fort und bis an die Grenze zur Peinlichkeit Lobeshymen ausgeteilt werden, und zwar teilweise für derart banales Geschreibe, dass man sich dem Lob des Verrisses von Andreas Öhler in diesem Punkt unbedingt anschliessen muss. Öhler konstatiert eine Neigung des heutigen Kritikers zum »Allerweltsfreund«. Da agierten etliche »zuweilen opportunistisch als dienstbare Geister des Marktes«, statt »ihren Geist in den Dienst einer grossen tapferen Tradition zu stellen«.
Der vom Literaturbetrieb unabhängige Leserkritiker ist eine Bedrohung
Welchen Geist? möchte man da böse fragen. Wer für ein neunzig Sekunden Filmchen mit »Tintenherz«-Schöpferin Cornelia Funke zum small talk nach Los Angeles kommt, um ihr einen Lesetip zu entlocken – wie frei ist der nachher, bei der »Besprechung« der »Spiegel«-Bestsellerliste diese Bücher durchfallen zu lassen? Sie werden es erraten: Er schmeisst sie natürlich nicht weg. Seine billige Erregung gelten Leuten wie Paulo Coelho oder Hape Kerkeling. Scheck wirkt wie ein Boxer, der als sich als Schwergewicht generiert, aber nur gegen Leichtgewichtler boxt. Er, der Totengräber jeder literaturästhetischen Diskussion, degeneriert zur Barbiepuppe des Literaturkommerzes. (#4)
Fest steht, dass immer mehr Leser von der durchweg passiven Rezeption (Lesen des Buches und der Kritik[en]) eine aktivere (die Kritik wird selber geschrieben) wählen. Man kann dies mit dem Aufkommen der »Do-It-Yourself«-Bewegung vergleichen, die seinerzeit ebenfalls zu den patzig-trotzigen, meist abschätzigen Kommentaren der betroffenen Berufsgruppe führten.
Natürlich sind viele der Leserkritiken schlecht, oberflächlich und teilweise von possierlicher Ahnungslosigkeit. Häufig werden Klappentexte zitiert (die »Perlentaucher«-Rezensionssammlungen nachahmend) und darunter prangt dann »meine Meinung« und vielleicht noch eine Sternchen- oder Punktwertung. Dort wird Meinung mit Kritik verwechselt – ein Fehler, der im übrigen den Meinungsmachern, die ihre Weltanschauung zunehmend immer gleich mit verramschen, nicht so fremd ist. Und natürlich gibt es den literarisch ambitionierten Dummkopf, der zum Beispiel die Figuren von Stefan Zweig blass findet und dem Autor vorwirft, er könne keine Stimmung erzeugen.
Das ist natürlich ein willkommener Anlass, Leserkritiker in Sippenhaft zu nehmen. Aber wer käme auf die Idee, Alfred Kerrs Verriss von Thomas Manns »Tod in Venedig« als Anlass für die Bedeutungslosigkeit der Kritik an sich zu nehmen? Es gibt sehr wohl fundierte Leserkritik, die sich oft genug vom drögen, phrasenhaften Germanistenjargon wohltuend unterscheidet ohne gleich in banale Flachheiten zu verfallen. Vielen Leserkritikern merkt man die Leidenschaft an der Literatur an. Das alleine reicht natürlich nicht aus, ist aber unabdingbare Voraussetzung – wichtiger als jede noch so gute Formalqualifikation. So stellte Richard Sennett neulich fest, dass für den Handwerker Motivation wichtiger sei als Talent.
Das fallbeilartige Verdammungsurteil, welches Öhler zum aufklärerischen Richterspruch im Geiste Kants verklärt, ist seriösen Leserkritikern meistens fremd; sie erhalten sich in der Regel einen Rest Respekt und vermeiden die Hybris des Allwissenden. Aber nimmt man Öhlers Polemik einmal als Wunsch, sich auch mit dem abseitigen, bisher gerne ignorierten zu beschäftigen, auch mit der Gefahr, es »verreissen« zu müssen, dann plädiert auch er für eine intensivere Text- bzw. Werkauseinandersetzung. Verriss bedeutet ja nicht, ein Buch wie weiland Reich-Ranickis »Ein weites Feld« von Günter Grass auf dem Titelblatt physisch zu zerreissen.
Leserkritiker maßen sich nicht per se an, Autor und auch Leser belehren zu wollen. Sie wissen, es gibt Grautöne und die dumme Dichotomie des »gut oder schlecht«, des Daumen hoch oder Daumen runter ist eine Trivialisierung der Literatur und Literaturkritik. Wie absurd mutet es da an, Bücher als »Fälle« zu »behandeln«.
Dennoch entgleiten sie nicht in liebedienerischer Sanftheit. Sie haben den unverdorbenen Blick und sie können ihn im Idealfall fruchtbar machen. Keine Redaktion sagt ihnen, was man vielleicht noch hineinzuschreiben habe (oder weglassen soll). Kein Verlag ködert sie, im Falle einer milden oder gar guten Rezension ein eigenes Buch prominent platzieren zu können. Kein Mainstream sagt ihnen auf welcher Welle sie im Moment besser schwimmen, um vielleicht einmal Feuilleton-Chef zu werden. Sie haben die Chance, sich dem Zeitgeist (von Martin Walser unlängst eindringlich beschrieben) zu widersetzen. Sie können Stachel im Fleisch des bräsigen Literaturklüngels sein. Es gibt Kritiken von Leserkritikern, die (vielleicht nach ein bisschen Redigierung) keinen Vergleich mit den manchmal so bluthttps://www.begleitschreiben.net/richard-sennett-handwerk/leeren, von »arrivierten« Kritikern verfassten Rezensionen beispielsweise aus »Zeit«, »F.A.Z.« oder »Süddeutsche Zeitung« zu scheuen brauchen (»Spiegel« sowieso).
Emphatische Subjektivität
Der Grund für die vehementen Tiraden wider die Leserkritik liegt sowohl im drohenden Verlust der Deutungshoheit als auch in der narzisstischen Kränkung, die den professionellen Kritikern durch Leute zugefügt wird, die zum Teil noch etwas kultivieren, was sie selbst längst in jahrelangem Redaktionseinerlei verloren haben, etwas, was im automatisierten Lesen im Akkordtempo und der häufig desillusionierenden Bekanntschaft mit den Dichtern, die sie doch einst so verehrt hatten, verpuffte: Leidenschaft, Enthusiasmus und, Josef Haslinger jetzt paraphrasierend, »emphatische Subjektivität« (#5). Und dies alles – es wurde schon angesprochen – basiert auf Unabhängigkeit.
Hinzu kommt, dass sich das Feuilleton (unverändert) als elitär generiert – und sich die Protagonisten damit selber in eine intellektuelle Jet-Setposition befördern. Sie übertragen ihre Verachtung der Massen und der Massenkultur (ein alter Topos auch und vor allem unter deutschen Intellektuellen) auf die Rezeption von Literatur. Ähnlich den Restaurationskräften im 19. Jahrhundert, die an einer Beteiligung des »gemeinen Volkes« den Untergang des Abendlandes festmachten, sehen sie eine Bedrohung darin, die »Sache« der Literatur dem gemeinen Massengeschmack preiszugeben.
Sie kompensieren diese Ängste durch die Pflege eines paternalistischen Gebarens, getarnt mit der Attitüde des fürsorglichen »Leserbeschützers«. Beispielsweise Dennis Scheck, der in seiner Sendung »druckfrisch« mit einem Mikrofon durch eine Buchhandlung streift und versucht, Menschen an Bücherregalen ein Buch zu empfehlen. Warum Scheck auf die Antwort »Alles« auf die Frage »Was lesen Sie denn gerne?« ein Buch dieses oder jenes Schriftstellers empfiehlt, bleibt sein Geheimnis. Es ist dieser peinlich-besserwisserische Habitus des Missionars, der abstrus und überholt daherkommt (oder auch einfach nur komisch). Und wie alle Missionare verachten sie insgeheim diejenigen, die sie missionieren wollen.
Vorbei auch die Zeiten, als es dem Leser genügte, im »Literarischen Quartett« vier Menschen über Bücher streiten zu sehen. Der Zuschauer hatte kaum Zeit und Möglichkeit, wenigstens eines der Bücher im Vorfeld zu lesen. Das Anschauen des Quartetts galt als Surrogat – wer das gesehen hatte, konnte über die Bücher diskutieren, ohne sie gelesen zu haben. So urteilte man letztlich über etwas, was man nicht kannte (ein Phänomen, das aufmerksame Zuschauer bei der Betrachtung der Sendung häufiger auch bei den Protagonisten bemerken konnte).
Da man den vorgebrachten Argumenten der Kritiker nur eingeschränkt folgen konnte, punktete derjenige, der die griffigste und massentauglichste Formulierung fand. Der Affekt des Zuschauers tendierte eh entweder zur belustigten Zustimmung oder zum Spruch, der Kritiker solle es doch erst einmal besser machen. In beiden Fällen wandte man sich der Literatur eher ab. Öhler sieht den Bedeutungsverlust auch darin begründet, dass im Fernsehen das »Ressentiment des arroganten Kritikers« drastisch bedient wurde. »Statt das Werk in Angriff zu nehmen«, wurden »nicht ohne Häme Autoren vorgeführt«. Jemand wie Marcel Reich-Ranicki, Selbstdarsteller par excellence, nutzte die Fernsehbühne zur Selbstdarstellung. Dabei war sein Kritikerbesteck etwa so ausgefeilt, als würde ein Chirurg mit einem Küchenmesser operieren wollen. Literatur und Kritik wurde zum Zirkus und Reich-Ranicki war der Clown. (#6)
Der Literaturdiskurs ist zu kostbar…
Warum all diese alten Geschichten aufwärmen? Ist es dieses Gefuchtel eigentlich wert? Im Herbst wird zum Beispiel ein herausragendes Buch von Uwe Tellkamp über die DDR der letzten Jahre erscheinen (»Der Turm«). Man könnte sich in sein Kämmerlein zurückziehen, das geniessen und generell seine Bücher lesen und sich daran erfreuen oder erzürnen.
Aber Literatur und der Literaturdiskurs sind zu kostbar, um sie ausschliesslich den Meinungsführern zu überlassen. Das ist der Antrieb so vieler Leserkritiker (auch der Stümper); das ist ihr Furor. In Abwandlung zu den Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als grosse Teile dessen, was wir inzwischen in den Feuilletons, im Radio und im Fernsehen als Literaturkritik angeboten bekommen, finden wir überall – und zur Not machen wir es uns noch selber, denn, so der Esel im Märchen: »Du hast eine gute Stimme«.
So sind die Leserkritiker die erwachten Stimmen – auch (und trotz) all ihrer manchmal falsche Bildern, gewagten Verknüpfungen oder gelegentlichen Verirrungen. Aber all dies ist nicht reserviert für sie, sondern auch und gerade Bestandteil der professionellen Kritik. Die Verführung der dichotomischen Literaturkritik liegt in ihrem unverschämten, vereinfachenden Reduktionsmus.
Ich kann Leute wie Spiegel, Radisch, Matussek, Karasek, Heidenreich, Hartwig, Mangold und wie sie auch immer heissen, nicht mehr lesen und nicht mehr hören. Ich mag nicht glauben, dass dies die »Perlen« des Perlentauchers sind; sie sind höchstens Fallobst. Ich kann die Allüren und Selbststilisierungen dieser Feuilletonapparatschiks nicht mehr ertragen. Natürlich kann man sie ignorieren. Aber sie beeinflussen das, woran dem Leser gelegen ist. Längst usurpieren ihre Kriterien nicht nur die Auswahl der Verlage, sondern auch die Schreibstile der Autoren.
Dabei ist lässig-coole Gehabe von berufsjugendlichen Kritikersurrogaten, die ihren Zynismus rhetorisch spazieren führen auch keine Alternative; im Gegenteil: antipodisch zum Grosskritikerum imitiert man nur. Mit Netzarroganz ist die Grosskritikerarroganz nicht zu kontern. Sie macht es den konventionellen Verfechtern der Meinungsführerschaft nur unnötig leicht.
Der moderne Literaturkritiker sollte weder mit blasierter Geste seine »Belesenheit« zur Schau stellen noch sich in selbstgefällig-arrogantem Getöse ergehen oder gar mit wohlfeilen Plattitüden oder pseudo-investigativer Alarmismus-Rhetorik dem Publikum Honig ums Maul schmieren. Die Angst, der Leserkritiker trivialisiere den Literaturdiskurs, ist unbegründet. Jochen Jung ist einer der wenigen, der die neuen Möglichkeiten erkennt: »Das wahre Urteil ist am Ende das Summe aller Urteile«. Jungs vorsichtige Annäherung sollte aufgegriffen werden. Den emphatischen Subjektivismus der Leserkritiker wird man auf Dauer nicht unterdrücken können. Man sollte ihn in den Diskurs einbinden. Bisher versucht man, durch Ignorieren den angekratzten Thron besetzt zu halten. Auf Dauer wird dies nicht funktionieren. Und das ist gut so.
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#1 Peter Handke: »Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit« in: »Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms« (st 56, 1972) – eine Reaktion auf Reich-Ranickis »Literatur der kleinen Schritte« von 1967. Eine holprige Transkription mit Hervorhebungen, die im Handke-Aufsatz nicht existieren, findet sich hier.
#2 Es geht im folgenden aber auch gar nicht nur um Reich-Ranicki – der muss (ein bisschen stellvertretend) für eine ganze Gruppe von Kritikern herhalten, die hier (ein bisschen ungenau) als »Grosskritiker« oder »Meinungsmacher« bezeichnet werden. Desweiteren ist zu erwähnen, dass nie die Person Reich-Ranicki gemeint ist, die hier angegriffen wird, sondern nur seine Position und wie er sie ausfüllt.
#3 Im folgenden eine ungenaue Rubrizierung für Essayisten, Feuilletonisten und Kritiker, die in den grossen, überregionalen Zeitungen, im Rundfunk und/oder Fernsehen einen herausgehobenen Status haben.
#4 Dass es auch im Fernsehen anders gehen kann, hat Hubert Winkels mit seiner »Bestenliste«-Sendung von 1998–2002 bewiesen. Die Sendung wurde jedoch vorsorglich derart ungünstig platziert (im SWR Freitag Nacht und auf 3sat Sonntags ungefähr ab 10.30 Uhr), dass der Quotengau schon vorprogrammiert war.
#5 Josef Haslinger: »Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm«, Fischer, 1996
#6 Im Schatten des »Literarischen Quartett« stand der »Literaturclub« des Schweizer Fernsehens. Als die Sendung in den letzten Jahren des Quartetts von Daniel Cohn-Bendit moderiert wurde, der mit Kritikern wie Hardy Ruoss, Peter Hamm, Gabriele von Arnim, Gunhild Kübler oder Andreas Isenschmid seine bewusst teilweise naive Sicht in die Diskussion einbrachte, stelle sich dieses Element als ein belebendes heraus, was nach dem Wechsel der Moderation von Cohn-Bendit zum vollkommen verkopften Roger Willemsen (inzwischen wird die Sendung von Iris Radisch moderiert) noch deutlicher wurde. Zwar wurde der ästhetisch-theoretische Diskurs unter Willemsen sehr viel intensiver und das marktschreierische Gehabe eines Reich-Ranicki ist ihm natürlich fremd, aber in der bewussten Zelebrierung einer im germanistischen Duktus daherkommenden Aussenseiterposition liegt ein abschreckendes Element der Kritik für den durchschnittlich konditionierten Leser. Der möchte nämlich keine durchgestylte Diskurstheorie vorgekaut bekommen, die ihm erklärt, warum dieses Buch so und nicht anders zu bewerten ist, sondern er möchte Angebote erhalten, sich dieses Urteil selber zu bilden – durchaus in einer polarisierenden und geschliffenen Diskussion, die aber nicht oktroyierend daherkommen darf.
Wieder einmal ein Beitrag von Ihnen, den zu lesen mir einfach Spaß machte. Mir gefällt Ihre engagierte, kenntnisreiche Art der Argumentation und der so angenehm lesbare Schreibstil. Ich kann auch Ihre Ausgangsthese, dass sich die etablierte Literaturkritik durch die Amateure bedroht sieht und um ihre Deutungshoheit fürchtet, Kulturverfall inklusive, nachvollziehen.
Etwas Probleme habe ich damit, dass Sie die, ich nenne sie jetzt mal: „ernsthafte Feuilletonkritik“ mit den populären TV-Büchershows a la Heidenreich, Scheck oder Literarisches Quartett in einen Topf werfen. Erstens werden jeweils völlig verschiedene Zielgruppen angesprochen und zweitens sehe ich diese TV-Shows gar nicht so kritisch, werden dort doch plötzlich Menschen erreicht und zum Lesen angeregt, die ansonsten mit Büchern nur wenig am Hut haben. Das halte ich für einen Wert an sich, selbst wenn dabei mit Sicherheit auch kommerzielle Interessen im Spiel sind.
Die Infiltration der »TV-Shows« auf die seriöse kritik ist doch unverkennbar. Ich gehe sogar weiter: Die seriöse Kritik tritt den »TV-Shows« nicht entsprechend gegenüber. Reich-Ranicki wird verehrt (für was?). Die FAZ schreibt noch kritisch über Heidenreich, aber hier kommt auch bald mindestens die Seligsprechung.
Machen Sie sich mal die Mühe und vergleichen die aktuelle »Long-List« für den Deutschen Buchpreis mit den in »Lesen!« besprochenen Büchern – ich habe nur Walser gefunden. Kein Handke, kein Beyer, kein Bärfuss – nichts. Von Tellkamps »Der Turm« nicht zu reden; das Buch erscheint erst im September. Die Bücher, die in den letzten Jahren den Buchpreis gewonnen haben oder in der »Short-List« waren – nichts. Bei Frau Heidenreich kommt es nur auf die Gesinnungskultur an – und nicht auf Ästhetik. Grässlich. Aber das hat sie mit einigen Feuilletons durchaus gemein.
[EDIT: 2008-08-21 17:14]
Meine Sosse auf Keuschnig’s schönes Gericht
Als Handke Spezialist extraordinaire klopf [te] ich die genannten Kritiker darauf ab ob sie mir etwas an seinem Werk oder einzelnen Buch eröffnen.
Ob das Reichs-Kanickel der schmierenden Hundescheiße Passage auf der Piste in Handke’s St. Victoire aufwiegt oder nur ein bißchen Hasenkot, muss ich in diesem Fall
Handke’s Dorf Sadismus wohl recht geben. Ansonsten hat das Kanickel mit seinen früheren [60ger Jahren Sammlungen] als ich wieder ein Jahr in Deutschland verbrachte [1963–64] jedenfalls auf vieles
aufmerksam was in der Amerikanischen Germanistik nicht erwähnt wurde, auch die frühen Sachen von Grass, Johnson und Weiss haben echte Wiederhall bei ihm erweckt, also
nicht ein volkommenes Kopro wenigstens zu der Zeit. Dadurch wie er Handke Werke Linkshändige Frau und Langsame Heimkehr verhunzt, hat er sich eigentlich in eine ewige Niete verdammt. Das Del Gredos Buch wollte er gar nicht lesen, vielleicht ist der Mensch jetzt vollkommen verkalkt. Handke’s Wut auf seinen Verleger Unseld [in der Niemadnsbucht] dass er sich auf’s Kanickel des Verkauf’s wegen einlässt ist nur allzu verständlich und gerecht, aber er hat sich ja auch selbst auf diesen Großgauner für die Kultur eingelassen. Die anderen da genannten [außer Hartwig die was taugt] guck ich mir nur an ob sich vielleicht da mal was an der oberflächlichen oder großen Dumm- oder Gemeinheit zufälligerweise verändert hat. Deswegen lese ich auch ihr Zeug über andere nicht. Außerdem habe ich einige Katzenleben vergeudet kommt mir vor, und jetzt mit der von Der Wiederholung gelernten königlichen Langsamkeit daher zu schreiten, also dieser Kater versuchts mit der Felinen Spaltung an meinem Kraftwerk! Ansonsten spricht Keuschnig die Furcht der Faulen an, dass gescheite passionierte Leser Kritiker sie früher als sonst pensionieren werden, also, wie immer, eine Frage von Macht und Furcht. Immer nur dran, die miserablen professionel Angestellten schön zerreissen und auf die Finger klopfen! »Keep ‘em honest!« Es gibt an einigen Handke Romanen – Stunde der Wahren Empfindung, Chinese des Schmerzen wirklich einiges zu kritisieren, auch hie und da in der Niemandsbucht, und Del Gredos, auch wenn man Handke’s Werkstadt und Aesthetik bei eigenem Wort nimmt, nicht dass eine Kritik von der sogar der Autor was hätte jemals zustande kommt. Die beinah einzige Rechtfertigung für das Bestehen der Kritikerzunft ist doch erstens ein sensibles Echo den Eindruck den ein Buch auf sie macht zu hinterlassen, sie sind doch erstens als Brücke da, als Einführung gedacht, erst dann kommt die Kritik mit ihren Kategorien; oder Streit; oder zugeben des »Nichtverstahn...«
Ja, die Hartwig mögen Sie! Das weiss ich.
Spass beiseite. Natürlich gibt es bei Handke auch Ästhetisches zu kritisieren – aber das findet doch nicht statt. Schauen Sie sich die Rezensionen von »Kali« oder der »Morawischen Nacht« an. Entweder man konstatiert freudig, dass Handke zu irgendwas bekehrt scheint oder man faselt nur herum (Radisch).
Der vermeintliche Antisemitismus in der Äusserung der »Lehre der St. Victoire« ist doch lächerlich. Karasek kramte das 30 Jahre nach der Lektüre heraus, weil Handke für den Heine-Preis 2006 denunziert werden musste. Ich habe das nachgelesen; es ist sicherlich ein bisschen grenzwertig, aber das hat mit Antisemitismus nichts zu tun; das ist maximal doof.
[EDIT: 2008-08-21 17:18]
Wie Sie die Dinge aber auch auf den Punkt bringen – das ist wirklich ‘professionell’, was in diesem Fall aber einzig als aufrichtiges Kompliment zu verstehen ist. ‘Ihre ‘Laienpredigt’ wider die professionelle Buchkritik ist auch deshalb so glänzend, weil sie die Sache aus der richtigen Perspektive beleuchtet: Das Zauberwort heißt ‘Deutungshoheit’, und die muss sich in der Tat bedroht sehen. Ich sehe mir, wenn ich sehe, Literatursendungen im Fernsehen – fast hätte ich gesagt – ausschließlich unter ethnologischen Gesichtspunkten an. Es gilt, eine aussterbende Art zu betrachten, was bei Reich-Ranicki keiner näheren Erläuterung bedarf. Bei Dennis Schecks Kritiken mag ich die unstatische Kameraführung, die in einem krassen Gegensatz zur Gestalt des Kritikers steht. Ich kann mich nicht an e i n vorgestelltes Buch erinnern, das zu lesen ich angeregt worden wäre. Das gleiche, bis auf die Kameraführung, gilt für Elke Heidenreichs Büchersendung. Die zapp ich in der Regel deshalb auch schnell weg.
Mir geht es da ähnlich wie Ihnen: Bei diesen Großkopfeten der Literaturkritik ist mir Hören & Sehen schon längst vergangen und – schlimmer noch – selbst die literarische Kritik in den einschlägigen Feuilletons sieht sich mittlerweile von dieser Aversion angesteckt. Woher aber kommt diese Aversion...?
Bei der Begründungsfindung mache ich mir gerne Ihren Terminus zu eigen: Woran es dieser Kritik mangelt ist genau das, was Sie ‘emphatische Subjektivität’ nennen.
Ich bin davon überzeugt, dass nur in einer solchen ‘Subjektivität’ die letzten Ressourcen einer ‘Objektivität’ zu finden sind, die ausdrücklich k e i n e nur sogenannte ist!
Dass der Buchmarkt ein Markt ist und deshalb ökonomischen Gesetzen unterliegt, wissen wir alle nur zu gut. Es bedarf also keiner ‘marktschreierischen Monopolstellung’ der Großkritik mehr. Das Buch ist zwar eine Ware, aber muss der Leser sich deshalb gleich zum ‘Konsumenten’ degradieren lassen...? Mitnichten, meine ich und der Ausweg aus dieser Zwickmühle heißt nun mal: Mitschreiben/Mitstimmen!
PS:
‘Oh, die Natur schuf mich im Grimme!
Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme’.
Claudius, Gedichte: Der Esel
Ich bin davon überzeugt, dass nur in einer solchen ‘Subjektivität’ die letzten Ressourcen einer ‘Objektivität’ zu finden sind, die ausdrücklich k e i n e nur sogenannte ist!
Ja, das ist ein sehr schöner Gedanke, über den klügere Menschen als ich vielleicht mal was schreiben könnten.
Ihre emphatische Euphorie lob’ ich mir – alleine ich kann nicht ganz einstimmen. Ich habe nämlich das Entscheidende in meiner Rede nur kurz aufgegriffen: Das einzige, was der »Betrieb« zur Abschottung macht – und auch nur machen kann – ist das Ignorieren. Da haben sie alle ihren Habermas und Gadamer ganz schön parat. Und da der Apparat natürlich von Kommunikation lebt und die Entkopplung vom Kommunikationsstrom letztlich bedeutet, nicht existent zu sein, bleibt das Problem, wie aus diesemn Käfig auszubrechen ist.
Vielleicht später dazu mehr.
Gefährlicher Kommentar
Wenn Alan Greenspan ein besorgtes Gesicht macht und murmelt: »Der Aktienmarkt wird einbrechen.« fallen am nächsten Tag die Kurse in den Keller.
Wenn MRR sich besorgt über ein Buch äußert, ist sehr in Frage gestellt, ob es noch ein Bestseller werden kann.
Äußere ich mich negativ über MRR, könnte ich mich ebenso gut auf den Hauptplatz stellen und brüllen: »Ich bin Antisemit.« Eine Kritik an seiner Person wird zuerst einmal – so will es mir scheinen – einer politischen Richtung oder Haltung zugeschrieben.
Ich habe das literarische Quartett nur ganz selten gesehen, weil ich es widerlich fand. Da ich aber keine deutschen Fernsehsender empfangen kann, passiert ein versehentliches Anwählen immer nur auf Dienstreisen.
Ich halte die Kritik von Handke für außergewöhnlich. Er hat 1968 schon etwas erkannt, was sich später nach meinem Eindruck noch verstärkt hat.
Ich persönlich muss anerkennen, dass MRR ein bewegtes Leben gehabt hat und vieles daraus gemacht hat. Als Person wäre er für mich bewundernswert, wenn da nicht zwei Dinge wären.
Dass er erstens als Papst gefeiert wird, kann ich hingehen lassen. Wenn sich die Menschen so manipulieren lassen, dass sie ihm diesen »Titel« geben, so kann ich ihm das nicht zum Vorwurf machen. Ich mag es nur nicht.
Wenn ich aber zweitens in Wikipedia lesen kann, dass er für den Geheimdienst (egal welcher Nation) gearbeitet hat, ist er für mich eine Un-Person. Vor allem dann, wenn er später öffentlich auftritt. (Es fallen mir da ja noch ein paar andere ein, da liegt die politische Situation aber etwas anders.)
Aber in dem Posting wird auf die Laienkritiker umgeschwenkt, die Bedrohung des klassischen Literaturbetriebs. Kritiker haben immer einen undankbaren Ruf, obwohl sie manchmal durchaus vernünftige und aufbauende Arbeit leisten.
Ein Gourmet-Kritiker wie Christoph Wagner kann mir sympathisch sein, ein Kunstkritiker wie Hanslick, der Anton Bruckner zur Sau gemacht hat, ist für mich ein A...loch. Und da gibt es noch genügend Beispiele.
Ich brauche keine Literaturkritiker.
Erstens glaube ich nicht daran, dass ein »contemporary« einen Künstler vernünftig beurteilen kann. Das geschieht in der Musik und der bildenden Kunst immer erst ein bis mehrere Jahrhunderte danach.
Zweitens finde ich meine lesenswerten Bücher sowieso durch Emfehlungen oder durch Schmökerei in einer Buchhandlung. Ich greife ein Buch an, blättere durch, lese einige Passagen und spreche darauf an oder nicht.
Bei Belletristik ist es mehr der Stil, bei Sachbüchern ist es das Niveau, welches tunlichst etwas höher als mein eigenes sein sollte. Schließlich will ich etwas lernen und Information gewinnen.
Aber dann kenne ich jede Menge Leute, die mir ab und zu ein Buch empfehlen.
Wenn ein Buch vom Hausherrn oder von köppnick empfohlen wird, ist es ziemlich sicher, dass ich es über kurz oder lang lesen werde. Es sei denn, dass mir das Thema absolut gleichgültig ist oder es bereits durch andere Lektüre abgehakt ist.
Wenn ich – von Barbara Lehner glaube ich – die Eleganz des Igels von Muriel Barbery empfohlen bekomme, dann lese ich es auch versuchsweise, was dazu führt, dass ich es schon 5 oder 6 mal weiterverschenkt habe.
Im wesentlichen lebt eine Buchempfehlung oder Rezension immer davon, ob ich den Rezensenten als integre und interessante Person empfinde. Wenn das nicht der Fall ist, lege ich eher eine Trotzhaltung ein.
Aber wie gesagt: »Ich verstehe davon nichts. Ich wundere mich nur, dass doch so viele Leute sich etwas sagen lassen. Es scheint das Problem unserer Zeit zu sein, dass man lieber andere für sich selbst denken lassen will.«
Hier ist nichts gefährlich
Wie der »Betrieb« sich hinter Reich-Ranicki (MRR) un dgegen die Kritiker an seiner Kritik gestellt hat, fand ich schon interessant, zumal er ja selber nicht unumstritten (sic!) ist. Ich meine da insbesondere das fast einhellige Verdammen von Walsers (mediokrem) Roman »Tod eines Kritikers«, eingeleitet von Schirrmacher, der auf Walser einige Jahre vorher in der Paulskirche noch eine Laudatio gehalten hatte und ihn im Streit mit Bubis verteidigte. Ich glaube, dass sich eine solche Kritik an der Kritik, die ganz schnell mit den »Anti«-Wörtern um sich wirft, auf Dauer selber entlarvt.
Die Autobiografie von MRR (»Mein Leben«) ist für mich exemplarisch: Der erste Teil, der seine Jugend und die Zeit unter dem NS-Regime zeigte, war beeindruckend und bewegend. Im zweiten Teil, der seine Anfänge in Deutschland und seinen beginnenden Einfluss in die Literaturszene zeigte, war er dann wieder der eitle Pfau. Manchmal hatte ich das Gefühl, da hätten zwei verschiedenen Menschen an einem Buch geschrieben.
Übrigens mit einer Ausnahme: Als MRR erzählt, wie er auf einer Party seines damaligen Chefs Joachim Fest plötzlich und ohne »Vorwarnung« mit Speer als Mit-Gast stösst und wie sich diese Freundschaft zwischen Fest und MRR praktisch von diesem Moment an auflöst.
Dennoch möchte ich das »Literarische Quartett« dort ein bisschen in Schutz nehmen, wo dies auch tinius macht: Die Auswahl der Bücher war sehr gut. Anfangs war mit Büsche auch ein Gegenpolemiker dabei, der MRR Paroli bot (und gelegentlich genauso viel Unsinn erzählte). Als Busche ging (Klara Obermüller hielt es nicht lange aus, dann war die Position vakant und wurde immer durch einen Gast ersetzt, bis gegen Ende dann Iris Radisch kam) dominierte nur noch MRR – und das war schade, weil er die Kritik trivialisierte.
Und in einem anderen Punkt möchte ich MRR in Schutz nehmen: Wenn man berücksichtigt, was dieser unter den Nationalsozialisten erlebt hat, ist die »Verirrung«, in den 50er Jahren für einen kommunistischen (stalinistischen) Geheimdienst gearbeitet zu haben, verständlich. Ich werfe da nicht den Stein, weil ich nicht weiss, wie ich mich verhalten hätte (und froh bin, es nie erfahren zu müssen). Das beeinflusst aber mein Urteil über seine Kritik(en) in keiner Weise. Ich erwarte allerdings auch, dass jemand wir MRR dies bei anderen »Verirrten« genau so sieht und nicht sofort die »Moralkeule« schwingt. Das hat er oft genug gemacht, weshalb ihm die Häme ins Gesicht schlug.
Was mich stört ist, dass die Maßstäbe für die Kanonisierung der Kritik bei denen liegt, die selber kanonisiert sind und andere Urteile, die keine Gesinnungsurteile sind, deshalb ignorieren. Was mich stört ist, dass man offen darüber redet, dass Frau Heidenreich die Bücher, die sie empfiehlt (oder eben nicht empfiehlt) bestenfalls nur anliest oder ganz auf das Urteil anderer vertraut. Deren Maßstäbe sind aber nicht bekannt; es sind wohl meistens keine ästhetischen. Mir ist daher eine vollkommen missglückte, aber ehrliche Kritik lieber, als das glatte Gesäusel, was einem oft genug da in textbausteinhaftem Tremolo präsentiert wird.
Es gibt ja Kritiker, die ich gerne lese, auch wenn ich oft mit ihnen nicht übereinstimme (Ulrich Greiner wäre so einer; in Grenzen Raddatz auch). Ich habe aber bei ihnen das Gefühl, dass sie sich für das, über das sie geschrieben haben, interessieren.
[EDIT: 2008-08-22 08:24]
Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Laien, dessen Geschmack ich kenne und beurteilen kann, z.B. weil er schon mal über ein Buch geschrieben hat, das ich auch gelesen habe, und dessen Textverständnis etwa auf meinem Niveau liegt, und einem »Profi«, der seiner Kritik eine Menge Theorie zugrunde legen kann – dann würde ich, wenn ich genügend Zeit habe, vermutlich beide lesen. Der Erste verrät mir, was ich im Buch finden werde, der Zweite, was ich finden könnte. Wenn ich nur einen lesen kann, dann wähle ich den mir bekannten Amateur. Weil sein Urteil für mich nützlicher ist.
Eine Frage zu Handke: Wenn ich genau ein Buch von ihm lesen möchte, welches empfiehlst du mir?
Es gibt viele Autoren, die für den Geheimdienst ihres Landes tätig waren (gerade in GB eine recht häufige Erscheinung), z.B. Graham Greene, Ian Fleming, John LeCarre. Das diskreditiert in meinen Augen allenfalls und wenn überhaupt die Person, nicht deren kulturelles Wirken, außer dieses fließt übel programmatisch da hinein, im Falle von Büchern wäre das aber auch keine gute Literatur mehr.
Am Literarischen Quartett schätzte ich die Auswahl der besprochenen Bücher, die weit oberhalb dessen angesiedelt war, was sich heute in Büchersendungen tummelt, und ein wenigstens teilweises Argumentieren am Text und Inhalt, so polemisch und manchmal unverdaulich das auch ablief. Das passiert inzwischen gar nicht mehr.
Ich denke, ich habe recht viele Rezensionsblogs und Internetseiten in meinen Lesezeichen. Die Bilanz sieht ziemlich durchmischt aus, sodaß ich Einwände gegen die Blog – Rezensenten zum Teil nachvollziehen kann. Nach meinen Erkenntnissen gibt es 10 – 20 gute Rezensenten im Internet, die das in ihrer Freizeit und mit hohem Aufwand betreiben, noch einmal so viele, die akzeptabel sind und einen auf Bücher hinweisen können, die man selbst nicht wirklich im Blickfeld hat, auf deren Meinungsäußerung allerdings man eher verzichten kann. Und der Rest, der sich in Blogs und vor allem Foren tummelt, ist schlicht unzumutbar (für mich). Aber auch die erfüllen eine Funktion : sie beschäftigen sich mit Büchern, für die das Feuilleton und die Literaturkritik keinen Raum lassen, obwohl auch bei den Lesern dieser Elaborate ein Bedürfnis nach Orientierung und Wertung besteht. Von daher habe ich ein buntes Spektrum in meinem Blog verlinkt und bewußt auf ein kommentiertes Linkverzeichnis verzichtet, sodaß jeder austesten kann, bei welchem Schreiber / Forum er sich wohlfühlt.
#9 – @Köppnick
Handke hat diese Frage neulich beantwortet. Er meinte, er konnte eigentlich bisher keines seiner Bücher so richtig empfehlen, da sie sehr spezifisch seien. Bis zu einem gewissen Punkt verstehe ich das sogar. Er meinte dann, dass er die »Morawische Nacht« nun empfehlen könne, weil dort so eine Art Bilanz (das ist mein Wort) seines epischen Schaffens zu lesen sei. Ich finde, das stimmt.
Von den Journalen Handkes (Notizen ähnlich) gibt es den Klassiker »Das Gewicht der Welt« und – natürlich – auch »Gestern unterwegs«. Sollten Dir die Bücher zu dick sein, dann vielleicht der »Versuch über die Jukebox« und/oder »Versuch über den geglückten Tag«.
#10 – @tinius
ein wenigstens teilweises Argumentieren am Text und Inhalt, so polemisch und manchmal unverdaulich das auch ablief. Das passiert inzwischen gar nicht mehr.
Naja, es bleibt noch der »Literaturclub« des Schweizer Fernsehens (auf 3sat wiederholt), obwohl sich hier auch Wechsel nicht zum Guten hin vollzogen haben.
Ansonsten stimme ich Dir ja was die Blog-Kritiken angeht durchaus zu. Ich sage ja nicht, dass alles, was man dort liest, gut ist. Aber wenn Du (mit der zweifllos besseren Übersicht) 10–20 (sagen wir 20) gute Rezensenten im Internet ausmacht, dann frage ich mich, wo diese Stimmen in den Mainstream-Medien auftauchen. Und vor allem: Warum sie nicht auftauchen. Und dann: Warum andere Leute immer noch präsent sind.
Hallo Herr Keuschnig,
ich habe mal wieder gern gelesen.
An einer Stelle habe ich mich dank eines Tippfehlers Ihrerseits verlesen und fand, dass das was ich da verstand ihr Plädoyer ganz gut zusammen fasst.
Sie schreiben: »Das wahre Urteil ist am Ende das (hier müsste eigentlich »die« stehen – schön das es es anders ist) Summe aller Urteile«
Ich las hastig: Das wahre Urteil ist am Ende das Summen aller Urteile.
Herzlichste Grüße aus Süddeutschland
Wow, sehr aggressiver Ton, was mir überaus gut gefällt. Reich-Ranicki in allen Ehren, die er uns so krampfhaft aberlangt, aber was er sich heute leistet – es ist höchstens dreist und dumm.
Also: Mein lieber Gregor Keuschnig, Ihre Wortwahl ist zuweilen eine schaulustige Hasstirade voller Pathos, wenn nicht eine Vergewaltigung der »Status-Quo«-Liste deutscher (literatur-kritisch hochgelobter) Stilmittel. Ich bin sicherlich kein dummer Leser, jedoch überfordern mich einige Ihrer Formulierungen und ich wette (dreist wie ich bin), dass Ihr Diskurs nicht bloß der bildungstechnischen Super-Elite vorbehalten werden müsste. Viele Menschen sind an Literatur interessiert, manche gar, von denen man denkt, sie könnten weder lesen noch schreiben! Ich wünschte, es gäbe eine faire »Übersetzung« für diejenigen, die ihre Ansicht womöglich teilen und sich ebenfalls weiterbilden wollen, indem sie zum Beispiel Zugang zu Ihrem hochqualitativen Ressort feinster Jetzt-Kritik hätten.
Gestatten Sie mir, dass ich jemandem, der eine so trefflich formulierte Diagnose wie »schaulustige Hasstirade voller Pathos, wenn nicht eine Vergewaltigung der »Status-Quo«-Liste deutscher (literatur-kritisch hochgelobter) Stilmittel« abgibt, nicht ganz die Überforderung abnehme und ein bisschen Koketterie dahinter vermute?
Aber: Wie sollte denn die »Übersetzung« aussehen? (Ich frage das nicht rhetorisch)