Definitionen haften naturgemäss gewisse Vereinfachungen an. So ist nicht klar, warum eine kürzere Erzählung oder Novelle nicht ebenfalls grossen Themen der Existenz auf den Grund gehen könnte; Beispiele hierfür gibt es genug. Da Ortheil sich jedoch explizit als Romanschriftsteller sieht (»infiziert« mit einem Roman-Virus) und mit etlichen Attributen den Roman als Sonderform des Erzählens herausgehoben sehen möchte (er ist bei ihm gefrässig und monströs, verkörpert das Wilde und das Chaotische), ist der Wunsch, diesen als »Königsdisziplin« zu sehen, zwar verständlich, wird aber von Schriftstellern, der Kritik und auch von Lesern durchaus kontrovers diskutiert, wovon man nichts erfährt. Aus ökonomischer Sicht lassen sich Romane wesentlich besser vermarkten als Erzählungen oder gar Lyrik; viele Schriftsteller, die sich auf kürzere Erzählungen verstehen, sehen sich von ihren Verlegern irgendwann genötigt, nun »endlich einen Roman« zu schreiben.
Das Faszinosum
Interessant ist, dass Ortheil die »üblichen« Schwierigkeiten, wie beispielsweise die Problematik der Erzählperspektive, stilistische Besonderheiten oder Fragen nach Tempo und Stil des Erzählens nicht thematisiert und stattdessen die ersten, zunächst eher intuitiven Ideen oder Einfälle, die auf das enzyklopädische Feld, der Welt-Folie treffen, eingehend untersucht werden. Diese Welt-Folie wird nun, so Ortheils Paraphrasierung von Faulkner (Siblewski »deckt« dies in einem seiner Vorträge auf), an einer bestimmten Stelle in Brand gesetzt, und zwar durch etwas, was er Faszinosum nennt (oder auch Urzelle), das eine stark anziehende, ja geradezu magische Wirkung ausübt. Ortheil macht eine Aufforderung oder Lockung aus, beispielsweise eine bestimmte Figur zu begleiten. Im Weiterschreiben (einem Ausphantasieren) entstehen Szenen oder Erzähleinheiten…die der Autor als erste Bausteine seines Romans zu sammeln beginnt. Es entspinnt sich eine Welt in der er selbst anwesend sein [und] leben möchte. Seine Figuren werden ihm zu Brüdern; er schliesst…Freundschaft mit einer von ihnen oder vielleicht sogar gleich mit mehreren.
Ausführlich geht Ortheil auf das Ausphantasieren des Romansstoffs ein, den er – ein bisschen arg vereinfachend – als eine Art Traumphantasie beschreibt und berichtet auch von Gefahren für das Projekt, etwa durch zu starke Annäherungsversuche oder auch Kontrolle des Autors dieser fiktiven Welt, die bis zur Erstarrung von Figuren, Räume[n] und Texte[n] führen kann.
Versuch einer modernen Phänomenologie des Romananfangs
Es wird aus Notaten und Notizen von Max Frisch, Peter Handke und Peter K. Wehrli zitiert, die Unterschiede dieser Miniaturen erläutert und die verschiedenen Arten der häufig chaotischen »Stoffsammlungen« angesprochen (wobei Ortheil übersieht, dass diese veröffentlichten(!) Notate wiederum bereits bearbeitet, mindestens jedoch ausgewählt sind und somit nicht unbedingt als eine Art »Vorstufe« zu betrachten sind; sie sind häufig autonome Kunstwerke, wie beispielsweise bei Handke). Ortheil taucht ein bisschen in den Romankosmos von Jean Paul ein, rekapituliert die Entstehungsgeschichte von Fontanes »Effi Briest«, erzählt von seinen eigenen Impressionen während eines längeren Italienaufenthalts und liest plötzlich – vor Ort – die »Italienische Reise« von Goethe neu (eine hinreissende Passage; das schönste Kapitel im Buch) und montiert in seine letzte Vorlesung eine Binnenerzählung ein, in dem er von der Entstehung eines Romans erzählt – und dies selber wieder romanhaft.
Ortheil ist offensichtlich bemüht, mit seinen Ausführungen eine moderne Phänomenologie des Romananfangs zu konstruieren und zu konstituieren. Hierfür vermeidet er, auf gängige Allgemeinplätze für das Entstehen von Literatur wie beispielsweise »Kreativität« zurückzugreifen und versucht stattdessen diesen Prozess zu erfassen und zu beschreiben. Dafür kreiert er (phasenweise) eine neuartige Terminologie, was wohl seiner Tätigkeit als Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität zu Hildesheim geschuldet ist. Die Versuche, eine eigene Sprache für diese tatsächlich wenig untersuchten Phänomene zu erschaffen, geraten allerdings manchmal etwas zu krampfhaft und sind wenig eingängig. Zudem fehlt Ortheil eine gewisse Stringenz, so dass man manchmal den Eindruck hat, die beschriebenen Akte würden parallel stattfinden oder die Reihenfolge sei irgendwie austauschbar. Im Gegensatz zu Siblewski, der später manchmal in vulgärpsychologische Deutungsmuster abrutscht, versucht Ortheil eine eher philosophisch-philologische Perspektive.
Ortheils Vorträge sind – bei allen Schwächen, beispielsweise der Pflege des immer wieder rezipierten Klischees einer (sogenannten) Leere nach dem Schreibrausch der Romanniederschrift – wesentlich kurzweiliger als die Texte von Klaus Siblewski, der allzu nüchtern zunächst in Ortheils Spuren (sprich Begrifflichkeiten) wandelt (Siblewski und Ortheil kennen sich aus gemeinsamen Arbeiten). Dabei fügt Siblewski als fast originäre Definition des Romans noch den Punkt des Strebens nach Veröffentlichung hinzu. Anhand eines nicht genannten österreichischen Autors und dessen Teilmanuskript, welches er mit dem Autor bespricht und einige kritische Anmerkungen macht, versucht er zu verdeutlichen, wie sich die Arbeit des Lektors in den bestimmten Phasen des »Romanprojekts« zeigt – und mit welchen Risiken dies verbunden ist. Bei allen Typisierungen, die Siblewski auch von Lektoren vornimmt, gefällt noch am besten die Beschreibung des Lektors als denjenigen, der den Grad der inneren Stringenz im Roman erhöhen soll.
Plaudereien aus dem Nähkästchen
Der angesprochene Autor hat sich bei Siblewski nach dem Gespräch nie mehr gemeldet, was dieser nun ausführlich erörtert und in diverse Interpretationen und Hypothesen fallen lässt (teilweise reichlich spekulativ). Interessanter sind für den Leser die Schilderungen, wie ein Lektor wann dem Autor und seinem Roman begegnet – und, das kommt am Ende der Vorlesungen, wie die abschliessenden Arbeiten (drei Lesephasen) aussehen. Mehr als Plaudereien aus dem Nähkästchen sind das allerdings selten, insbesondere, wenn er aus Mails von Autoren zitiert und diese allzu voreilig verallgemeinert.
Die Fragilität zwischen den dann irgendwann doch divergierenden Interessen zwischen Lektor und Autor (ersterer muss vor allem auch auf die Vermarktung des Romanes schauen, während der Autor eher auf seinen künstlerischen Anspruch rekurriert), ist sicherlich weitgehend bekannt. Siblewski zeigt, dass ein Lektor auch mit einem sehr grossen Einfühlungsvermögen ausgestattet sein muss, um die Angst des Autors vor dem Urteil des Lektors nicht zum unüberwindlichen Hindernis werden zu lassen. Seine Aufgabe sei es, die poetische Idee, die im entstehenden Roman hervorschimmert, zu festigen und zu stärken.
Bei diesen Betrachtungen wird allerdings die Grundangst des Autors, nämlich die der Ablehnung, kaum gestreift; stillschweigend geht Siblewski fast immer davon aus, dass ein Treffen eines Autors mit dem Lektor die Akzeptanz mindestens des Exzerptes bereits beinhaltet.
Erhellend wäre es gewesen zu erfahren, warum so viele Manuskripte (bzw. Entwürfe) dahingehend scheitern, dass sie eine Ablehnung erfahren. Handelt es sich dabei tatsächlich ausschliesslich um qualitative Mängel? Falls ja, dann müssen diese – wie diese Ausführungen fast suggerieren – gravierender Natur sein. Die Punkte, die einen Romanentwurf also vom fehlerhaften zum mindestens beachtenswerten Objekt unterscheidet, wären sicherlich einer Erörterung Wert gewesen. Es hätte – am Rande und damit vielleicht unpassend zur eigentlichen Thematik – die Frage nach den so oft zitierten unumstösslichen Kriterien für die Beurteilung von Literatur gestellt.
Nicht thematisch abwegig wäre es gewesen, auf Unterschiede in der Lektoratsarbeit zwischen Romanen und beispielsweise Kurzgeschichten hinzuweisen. Gibt es überhaupt welche? Oder erschöpft sich die Differenz bei der Lektorierung kürzerer Prosa (oder gar Lyrik) auf die rein zeitliche Ebene, da ein Roman ja umfangreicher ist? Oder existieren doch noch andere Kriterien?
Zuviele Typisierungen
Leider verfällt Siblewski allzu oft in Stereotypen, etwa wenn er verschiedene Typen von Autoren unterscheidet – den Debütanten (bemerkenswert und nicht ohne Süffisanz, dass er die einzigartige Chance des Debütanten ausgerechnet darin erblickt, dass er ohne Kenntnisse der von ihm beschriebenen Abläufe zwischen Lektor und Autor und ohne den Einfluss, den diese Abläufe auf das Schreiben nehmen, an ihrem Roman weiterarbeiten kann), den Verlagsprofi, den übergangenen Autor, den anerkannten Autor, den zögernden Autor, den übertreibenden Autor, usw. Oder wenn er unterschiedliche Antriebe des Erzählens ausmacht (Von Figuren aus denken oder Von Räumen aus denen oder von Szenen aus denken – usw.) Vielleicht ist das die Folge einer solchen Betrachtung, dass allzu schnell Rubrizierungen vorgenommen werden, die dann am Ende durchaus auch schon wieder relativiert werden.
Zwischendurch fragt Siblewski, ob eine mangelhafte Gliederung des Romans nicht auch Auswirkungen auf dessen Qualität hat (er verneint dies später), sieht im Autor einen Materialkannibalen, benutzt Plastikwörter wie Ideenmanagement oder Setting, betont die grosse Verantwortung der Lektoren und befeuert Klischees über skurille Schreiber mit ihren durchaus asozialen Phasen. Und wenn dann etwas Verdrängtes im Autor aufbricht und Siblewski Freud und dessen Aufsatz »Der Dichter und das Phantasieren« zitiert, das »Über-ich« anführt und am Ende des Buches das Schreiben als Befreiung von einer Obsession fast pathologisch gedeutet wird – dann übernimmt sich Siblewski, weil er unbedingt das psychoanalytisch-literaturwissenschaftliche auch noch einbringen will.
Am Schluss bilanziert er dann, dass die Arbeit am Roman…einer ästhetischen Struktur folgt: der des Rondos…Kein Roman kommt an dem Ende an, sondern nur an einem. Angesehen davon, dass Ortheil auf Seite 19 bereits zu einem ähnlichen Urteil kam (er spricht vom »künstlichen Ende«), ist dies nach all dem vorher Gesagten von verblüffender Schlichtheit. Da es aber auch für das vorliegende Buch gilt (obwohl es kein Roman ist), ist es eine gute Nachricht. Denn endlich hat man wieder Zeit, Romane zu lesen. Romane, wie Ortheil in der schönsten Formulierung des Buches sagt, denen sich die Autoren verschreiben.
Die kursivgedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
Leseprobe hier
Es wird aus Notaten und Notizen von Max Frisch, Peter Handke und Peter K. Wehrli zitiert, die Unterschiede dieser Miniaturen erläutert und die verschiedenen Arten der häufig chaotischen »Stoffsammlungen« angesprochen (wobei Ortheil übersieht, dass diese veröffentlichten(!) Notate wiederum bereits bearbeitet, mindestens jedoch ausgewählt sind und somit nicht unbedingt als eine Art »Vorstufe« zu betrachten sind; sie sind häufig autonome Kunstwerke, wie beispielsweise bei Handke). Ortheil taucht ein bisschen in den Romankosmos von Jean Paul ein, rekapituliert die Entstehungsgeschichte von Fontanes »Effi Briest«, erzählt von s