Wohl kaum ein Begriff wird im politischen Diskurs inzwischen derart strapaziert und instrumentalisiert wie der der Demokratie. Dabei scheint fast jeder eine andere Vorstellung davon zu haben, was Demokratie eigentlich bedeutet. Ist es eine Art Volksherrschaft, in der die Bürger plebiszitär über alle wichtigen Belange direkt entscheiden? Oder wird die Volksherrschaft besser anhand von Institutionen auf einer repräsentativen Ebene (Parlamente) indirekt vorgenommen?
Einigen erscheint die Demokratie sogar als ein Exportprodukt, welches möglichst schnell allen Menschen Glück und Wohlstand bringen soll. Andererseits plagen skeptische Zeitgenossen Zweifel, ob und wie sie im Zeitalter (sogenannter) ökonomischer und politischer Globalisierung überhaupt noch funktionieren kann und nicht durch international agierende Unternehmen und/oder Organisationen unterhöhlt und zum Sub-System des Kapitalismus degradiert wird.
Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht an der Universität in Göttingen, hat ein auf den ersten Blick kleines Büchlein über »Demokratie – Zumutungen und Versprechen« geschrieben. Man sollte jedoch vom Umfang des Buches nicht auf dessen Gehalt schliessen: Es hat es durchaus »in sich«. Denn auf den 125 Seiten entwickelt Möllers 173 (nummerierte) Thesen. Der erste Satz ist jeweils fett gedruckt. Im weiteren Text werden dann die Thesen erläutert und manchmal in Form lexikalischer Verweise mit anderen Kapiteln verknüpft.
Das Versprechen
Möllers’ Axiom ist einfach: Demokratie ist das Versprechen der Organisation von Herrschaft unter den Bedingungen von Gleichheit und Freiheit seiner Teilnehmer.
Voraussetzung dafür ist (1.) die Unterstellung von Willensfreiheit (Möllers berührt pikanterweise den philosophischen Aspekt dieser Frage nicht, sondern argumentiert einfach, dass, unabhängig davon, ob diese freie Wille tatsächlich existiere, wollten wir doch so behandelt werden, als hätten wir einen um dann gleich zu ergänzen: und wir verpflichten uns dazu, auch die anderen entsprechend zu behandeln, wenn wir sie als frei anerkennen) und (2.) das Vermögen aller eigene und öffentliche Angelegenheiten zu beurteilen.
Politisches Urteilsvermögen sei, so Möllers, keine Fähigkeit, die einfach mit Ausbildung oder Intellektualität zunehmen würde. Sie beträfe die elementare Fähigkeit, beurteilen zu können, was für das eigene Leben richtig und wichtig ist und was nicht. Ein wörtlich verstanden bedenklicher Ansatz, da Möllers auch betont, Demokratie verspreche kein gutes Leben. Richtigerweise wird ausgeführt, dass, wenn der Maßstab für das Urteilsvermögen die eigene Wohlfahrt wäre (die ja nicht nur ökonomisch zu verstehen sein muss), demokratische Entscheidungen letztlich nur aufgrund mehrheitlich getroffener Bedürfnisbefriedigungen getroffen würden. Den Einwand offensichtlich vorausahnend ergänzt Möllers dann ein bisschen sybillinisch: Die Sicht auf unsere eigenen Angelegenheiten ist aber ebenso intensiv wie verzerrt. Auf Argumente zugunsten von Ängsten und Vorurteilen zu verzichten ist für alle eine Versuchung unabhängig vom Bildungs- und Erfahrungsstand. Aus diesem Grund traut die Demokratie mit der gleichen Freiheit allen die gleiche Urteilskraft zu.
Bürgerferne als Vorteil?
Diese Volte ist mehr als zweischneidig: Die Erfahrung zeigt ja – gerade in einer medialisierten Welt – dass die Argumente zugunsten von Ängsten und Vorurteilen immer wieder gerne hervorgeholt werden, gerade weil sie Meinung in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen mag. Zwar ist es richtig, dass der Bildungsgrad nichts über die »Verführbarkeit« in diese Richtung aussagt, aber sozusagen die Rechnung aufzumachen, dass sich dies irgendwie schon ausgleicht, ist zu einfach. Zumal Möllers später bemerkt, dass Betroffene von Entscheidungen zwar ihren Standpunkt darstellen sollen, dieser aber unter Umständen besser aus einer gewissen Bürgerferne (die Möllers kommunal bzw. föderal versteht, nicht zentralistisch) heraus getroffen werden sollen, da Beschlüsse von Betroffenen beinahe immer auch Auswirkungen auf andere haben, die dann von dieser Entscheidung wieder betroffen wären.
Das klassische Beispiel ist das des Ausbaus einer Strasse. Die Ablehnung der Massnahme durch die Anwohner des Wohngebietes X hat unmittelbar zur Folge, dass die Strasse anderswo, in Y oder Z, gebaut werden muss – und dort zu ähnlichen Reaktionen führt. Und im Grossen führt Möllers aus, dass der inzwischen sehr stark gewordene Einfluss des Bundesrates auf die Bundespolitik höchst problematisch ist, da er, der Bundesrat, hierfür schlichtweg nicht legitimiert ist: Er ist zu einem nichtöffentlichen Bundesgesetzgeber geworden, dessen Mitglieder für Landespolitik gewählt wurden. […] Er schafft weder in den Ländern noch im Bund mehr Demokratie, weil in ihm Herrschaft für eine Ebene von denen ausgeübt wird, die für eine andere Ebene gewählt wurden. (Diese Kritik ist keine grundlegende Systemkritik am Föderalismus.)
Diskutierbar ist auch die Definition von Gleichheit. Demokratische Gleichheit wird strikt in Bezug auf die politische Freiheit der Individuen verstanden; sie darf nicht mit Gleichmacherei verwechselt werden. Das demokratische Versprechen der Gleichheit bezieht sich nur auf die Freiheit. Gleichheit bedeutet, so Möllers, eben nicht eine Nivellierung beispielsweise von pekuniären Mitteln, die dem Bürger zustehen. Wer mehr Gleichheit verlangt, stellt die Demokratie in Frage, weil er bereits vorgibt, was doch erst demokratisch entschieden werden soll. Die Gleichheit, so Möllers, frisst dann die Freiheit auf. Wir bleiben…unterschiedlich – auch in den Möglichkeiten, aus unserer demokratischen Freiheit etwas zu machen. Und wenn er auf eine Solidarität als Teil des demokratischen Versprechens hinweist, so ist damit nicht die Garantie eines bestimmten Lebensstandards gemeint, sondern nur – nur? – die Grundlagen, die es erlauben, Entscheidungen treffen zu können.
Gute Gründe schaffen keine demokratische Legitimation. – Grundsätzliche Skepsis, aber keine Angst vor Populismus
Keine Angst hat Möllers dabei vor dem, was man gemeinhin »Populismus« nennt: Populismus und Demokratie sind zu unterscheiden, nicht zu trennen. Das klingt nur auf den ersten Blick harmlos. Denn wenn eine demokratische Entscheidung als unpopulär wahrgenommen wird – von Medien und auch Politikern – und Menschen auf die Straße gehen, um gegen eine Entscheidung des demokratischen Willens zu protestieren, dann gehören trotzdem all diese Äusserungen – so Möllers – nicht zum demokratischen Willen. Die Begründung ist verblüffend: Wir haben nicht sichergestellt, dass eine Mehrheit sich hier äußert. Wir haben kein Verfahren, dass aus solchen Äußerungen eine Entscheidung machen könnte. Vielleicht unterstützt eine schweigende Mehrheit trotz des überwältigenden gegenteiligen Eindrucks weiterhin die umstrittene politische Entscheidung. Vielleicht hat eine gut organisierte Minderheit die öffentliche Wahrnehmung unter Kontrolle bekommen.
Das bedeutet aber nicht, dass »populistische Strömungen« keine Relevanz für die Demokratie hätten. Sie haben demokratische Bedeutung ohne demokratische Form. Diese Form, so ist Möllers’ Axiom konstruiert, müssen sie allerdings in demokratische Verfahren überführen, denn Anspruch auf Legitimation in einer Demokratie hat nur der formalisierte demokratische Wille, wenn er unter den Bedingungen der Gleichheit und Freiheit artikuliert werden kann (interessanter Exkurs im Buch: Da die Zustimmung in einer Diktatur dem Herrscher bzw. System gegenüber nicht unter den Bedingungen der Gleichheit und Freiheit zustande kommt, ist sie – für Möllers – nicht legitimiert, auch wenn das System »populär« sein sollte).
Alles eine Frage der Legitimation
Mit ähnlich kritischer Distanz betrachtet Möllers den Einfluss von Nichtregierungsorganisationen (NROs): Je näher internationale Organisationen der Freiheit von Individuen kommen, desto dringlicher stellt sich die Frage nach ihrer Legitimation. Tatsächlich ist der Einwand, dass internationale Organisationen mangels demokratischer Verfahren und rechtsstaatlicher Kontrolle wenn sie dann Herrschaft ausüben sollten, schlechter kontrolliert seien als demokratische Rechtsstaaten, nicht so schnell von der Hand zu weisen.
Wohl gemerkt: Der Mangel demokratischer Legitimation hat nichts damit zu tun, dass Organisation A in sich demokratisch organisiert ist. Die Diskrepanz für Möllers besteht darin, dass diese Legitimation nur von den Mitgliedern von A ausgeübt wurde und damit die Prinzipien der Gleichheit (= Partizipation aller) und Freiheit verletzt wurden. Zwar können und sollen NROs sehr wohl dazu beitragen, eine globale Problemwahrnehmung zu entwickeln und damit so etwas wie die zarte Knospe einer globalen demokratischen Identität erschaffen. Aber all diese Beiträge ersetzen nicht die Legitimation demokratischer Staaten (so lange – das führt Möllers in anderen Kapiteln aus – die Legitimation von föderalen Staatenbunden wie EU oder den Vereinten Nationen derart unstrukturiert und nebulös sind wie im Moment).
Denn letztlich vertreten NROs mit ihren Anliegen nur bestimmte Spezialinteressen. Darin sind sie – bei allem guten politischen Willen – von multinationalen Konzernen nicht zu unterscheiden. Möllers sträubt sich gegen eine formalisierte Rechtsstellung von NROs in internationalen Organisationen. Im Ergebnis entstünde eine Art egalitärer Korporatismus. Eine eindeutige Absage an das Expertengespräch, in dem sich Fachleute über ein bestimmtes Problem austauschen und ohne egalitär Verfahren zur »richtigen« Lösung kommen.
Äusserst skeptisch argumentiert Möllers demzufolge auch, wenn politische Entscheidungen im Gewand der Expertise daherkommen und Legitimation beanspruchen, wie dies beispielsweise bei OECD-Studien der Fall ist. Die Gefahren werden stupend analysiert: Die Welt der internationalen Ordnung besteht aus einer Fülle solcher öffentlichen und privaten Agenturen, die Programm entwickeln, Gesetze schreiben, die nur noch von Staaten übernommen werden müssen. Demokratische Staaten bauen Ordnungen nach, die ihnen von internationalen Organisationen vorgegeben wurden, ohne dass des zu erkennen wäre: von Bildungsstandards bis zu Kapitalmarktregeln. Hinter diesen Organisationen stehen wiederum andere, zumeist westliche Staaten, die ihre Modelle exportieren. Hier entsteht auf unsichtbarem Weg eine Art regulatorischer Monokultur. Und Möllers scheut in diesem Zusammenhang auch von postdemokratischen Weltentwürfen zu sprechen.
Demokratie ist nicht Herrschaftslosigkeit
Die Betonung, die Möllers auf »Herrschaftsform« in Bezug auf Demokratie anwendet, ist deutlich: Die Demokratie verspricht keine Herrschaftslosigkeit. Wo Demokratie ist, wird Herrschaft sichtbar und ausdrücklich. Dezidiert argumentiert er gegen anarchische Herrschaftslosigkeitsmodelle und verweist sie entweder ins Reich des Idealismus oder erkennt darin – vollkommen schlüssig – totalitäres Denken.
Das Erfrischende an diesem Buch ist unter anderem, dass Möllers die Demokratie nicht verklärt – im Gegenteil. Gerade die grössten Feinde der Demokratie würden diese idealisieren und hohe Erwartungen schüren, um dann die unter Umständen »kümmerlichen« Resultate gegen sie zu wenden. Möllers macht keinen Hehl aus Interessenkonflikten, die in demokratischen Gesellschaften auftreten. Etwa das Problem, dass die Entscheidung für Demokratie in gewissem Rahmen zunächst die Freiheit einzuschränken droht, etwa in dem sie zu Kooperationen mit der Gemeinschaft zwingt. Oder dass eine vollständige Demokratisierung der Gesellschaft die Demokratie zerstören würde und ein Widerspruch zwischen privat ausgeübter Herrschaft und demokratischer Ordnung anerkannt werden muss (er bleibt die Definition der Grenzen dieser privaten Herrschaft leider schuldig, obwohl er sehr wohl erkennt, dass zu viele Räume autoritärer Privatheit die demokratische Anerkennung behindern).
Aber wenn ich den anderen brauche, um meine Selbstbestimmung zu verwirklichen, dann erweitert gemeinsames Handeln die Reichweite meiner Freiheit – so heisst es ein bisschen verzückt. Wichtig dabei: Demokratischer Wille ist…Resultat einer Verfahrensform gleicher Freiheit. Durch die demokratische Willensbildung werden Verfahren zum Ausdruck gebracht, nach denen sich eine Gemeinschaft organisiert (es gibt anfänglich gewisse Probleme bei Möllers dieses wir als Gemeinschaft zu definieren).
Repräsentativ vs. »expressiv«
Sehr stark gewöhnungsbedürftig und letztlich undeutlich bleibt die These von der Expressivität der demokratischen Willensbildung. Kern der Betrachtung ist, dass demokratische Willensäusserungen nicht abbilden, was bereits bestand, sondern zum Ausdruck bringen, was in Verfahren erst entsteht. (Eine Art dialektischer Prozess ist damit sicherlich nicht gemeint.)
Demokratien sind nicht repräsentativ, sondern expressiv, so lautet das Ergebnis. Beerdigt wird damit die These, demokratische Entscheidungen spiegelten das Bestehende einfach »nur« wider. Wir sollten aufhören zu glauben, der demokratische Wille repräsentiere etwas ausserhalb seiner selbst. Stattdessen sei er Ausdruck einer gemeinsamen Praxis und entsteht durch Institutionen, die wir für demokratische Politik eingerichtet haben. Es gibt nicht erst ein Volk – und dann seinen Willen. In einer Praxis schaffen wir einen Willen, dessen Autor – also uns – wir als Volk bezeichnen können. Das nennt Möllers in Anlehnung an einen Sprachgebrauch aus der Sprachphilosophie expressive Demokratie.
Das »Expressive« der Demokratie ist – daran lässt Möllers’ Emphase keinen Zweifel – ein prozessualer Akt, geschaffen in demokratischen (oft genug langwierigen) Verfahren (und übrigens ständiger Veränderung unterworfen, weshalb er nachhaltigen Entscheidungen kritisch gegenübersteht). Demokratischer Wille ist nicht der Spiegel etwas Äußerlichen. Zwar schreibt Möllers dezidiert gegen den ehemaligen Verfassungsrichter Böckenförde und sein Modell der repräsentativen Demokratie an, aber was genau mit dieser Expressivität gemeint ist, bleibt nebulös (in der Fussnote wird auf englischsprachige Literatur verwiesen).
Keine Angst vor der Mehrheit?
Direkt mit der Frage »repräsentativ oder expressiv« korrespondiert auch der eigentliche Punkt, den Möllers lange umkreist: die Mehrheitsentscheidung. Das Wort taucht nur wenige Male buchstäblich auf, obwohl es natürlich immer mitschwingt. Zum ersten Mal auf Seite 31 im Punkt 37, der überschrieben ist mit Konsens ist kein demokratisches Ideal und weiter heisst es: Der Wille der einfachen Mehrheit ist nicht weniger demokratisch als der Wille der qualifizierten. Und lange muss man über die Relevanz vom folgendem nachdenken: Entscheidungen mit einfacher Mehrheit, 51 gegen 49, erhöhen für alle die Chance, zur Mehrheit zu gehören. Ein Plädoyer für das Mehrheitswahlrecht? Bedauerlicherweise äussert sich Möllers ausgerechnet nicht zu Wahlrechtsfragen.
Viel später, wenn es um die demokratischen Grenzen der Demokratie geht, liest man verblüfft, dass die Angst vor der Tyrannei der Mehrheit…in der Demokratie unbegründet sei. Sie resultiere daraus, dass Gesellschaften mit totalitären Erfahrungen der Demokratie immer auch das Schlimmste zutrauen würden. Ein Seitenhieb auf die häufig historisch begründete Vorsicht, Macht in zu eindeutigen Mehrheiten zu konzentrieren. Nonchalant übergeht Möllers allerdings, dass dieser Ausdruck bereits im 19. Jahrhundert formuliert wurde.
Für eine Demokratie im hier verstandenen Sinn, für Ordnungen, die demokratische Gleichheit durch Rechtsform sichern, ist diese Annahme [die Tyrannei der Mehrheit] aber weder systematisch plausibel noch empirisch belegbar. Demokratien schützen Rechte von Minderheiten besser als andere Ordnungen, so Möllers, der das damit begründet, dass aus Minderheiten Mehrheiten werden können. Schlüssig erscheint das nur zum Teil. Wenn es sich beispielsweise um ethnische oder religiöse Minderheiten handelt, deren Interessen verhandelt werden (zu dem vielleicht noch ohne Möglichkeiten der direkten Partizipation dieser Minderheiten – wozu Möllers jedoch progressive Vorschläge unterbreitet, die beispielsweise dahin gehen, steuerzahlenden Bürgern das Wahlrecht unabhängig von ihrer Nationalität zu verleihen und damit die Teilnahme nicht länger zu verwehren), dann ist mit einem Umschlag von der Minderheit zur Mehrheit nur in sehr langen Zeitläuften zu rechnen.
Dissens statt Konsens
Dabei ist die vorher bereits zitierte Äusserung, dass Konsens kein demokratisches Ideal darstellt, vielleicht der Schlüssel zum Verständnis. Möllers’ Skepsis des Konsens gegenüber ist stringent begründet: In demokratischen Auseinandersetzungen besteht die Gelegenheit, Positionen darzustellen und verständlich zu machen, sie weiterzuentwickeln und sogar zu begründen. Ein politischer Konsens erfordert nichts von alledem. Legitimation kann ein Zustand aber nur beanspruchen, soweit bewusst über ihn entschieden wurde. Nachdrücklich preist Möllers die demokratische Identität von bipolaren Konflikte[n]. Konsens sei nur für Fragen zu haben, die niemandem bewusst sind oder keinen interessieren. Demokratische Identitäten entstehen an Konflikten.
Denn ein Dissens, über den entschieden wurde, schafft mehr Legitimation als ein Konsens, über den nicht entschieden wurde. Wie kaum sonst im Buch schimmert hier das diskursive Element der Demokratie durch (über die Funktion und Ausgestaltung von Medien findet man enttäuschend wenig im Buch). Indem Möllers beschreibt, wie implizite Konsense unter Umständen schnelle Problemlösungen anbieten, jedoch durch die Aussparung bewusster Entscheidungsfindung keine Legitimation beanspruchen können, und als Beispiel die arg »konsensuelle« Art der deutschen Europapolitik heranzieht, wird seine Intention deutlich: Es mag gute Gründe und noch bessere Interessen für die europäische Integration geben, aber wir hatten mangels demokratischer Auseinandersetzung nie Gelegenheit, sie kennenzulernen. So bleibt die europäische Integration in Deutschland eine Art Naturereignis und die Zustimmung zu ihr ein auf die Dauer eher zufälliger Umstand, auf den man erst vertrauen könnte, wenn sich eine Gegenansicht artikuliert hätte.
Wer also von vornherein mit dem Konsens statt mit dem Willen zur politischen Konfliktaustragung ins Rennen geht, »verrät« den demokratischen Prozess. Diese These ist nicht neu und wird beispielsweise von Ralf Dahrendorf verfochten. Möllers versäumt es leider, die Differenz zwischen Konsens und Kompromiss genauer herauszuarbeiten. Die Negation eines prä-konsensuellen Diskurses hat mit der Akzeptanz von Kompromissen nichts zu tun. Ausdrücklich verwehrt sich Möllers daher gegen das so schnell gebrauchte Attribut »faul« im Zusammenhang mit Kompromissen. Dies würde bedeuten, es gäbe…so etwas wie eine »reine« politische Entscheidung. Und letztlich folgt das Bedürfnis nach einer kompromisslosen demokratischen Entscheidung…der autoritären Fiktion eines reinen politischen Willens.
Imperative Verpflichtung oder Distanz?
Möllers’ Verfechtung des Mehrheitsprinzips kollidiert allerdings mitunter mit seinem »Verfahrensmotiv«. Zwar wird deutlich, dass die Unabhängigkeit des politischen Mandatsträgers, des Abgeordneten, sowohl vom Willen seiner Partei, als auch von dem der Wähler die Voraussetzung seiner Verantwortlichkeit darstellt und demzufolge unabdingbar ist. Wobei natürlich die Frage der Verantwortlichkeit geklärt werden müsste: Wer legt diese fest? Worin besteht sie? Ist sie – die Verantwortlichkeit – einklagbar? Wohl kaum. Wenn der Abgeordnete nur seinem Gewissen verantwortlich ist (was Möllers nicht ausdrücklich wiederholt) – wer kann diese Verantwortlichkeit einklagen? Und letztlich: Wenn jemand nicht einmal seinen Wählern »verantwortlich« ist – was zählt denn dann das Mandat noch? Wer zieht die Grenze zwischen imperativem Mandat und Freiheit des Abgeordneten, d. h. wer zieht die Grenze der Legitimation und der »Willkür« eines Mandatsträgers?
Aber weiter: Möllers bricht sowohl eine Lanze für eine gewisse Distanz zur Welt des Parlaments als Teil einer Arbeitsteilung (durch die Gewaltenaufteilung) und auch Bürokratie ist für ihn mehr als nur eine negative praktische Folge idealer Anforderungen an demokratische Verwaltungen, sondern als Preis für Selbstbestimmung anzusehen, weil Verwaltungen Beteiligte anhören, niemanden diskriminieren und ihr Tun so dokumentieren, dass es nachvollziehbar und kontrollierbar ist (transparent wird diese Argumentation, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man Verwaltung immer dann fordert, wenn sie eigenen Interessen dienen soll – und als »bürokratisch« ablehnt, wenn sie diesen zuwider läuft). Und auch der Mut zur Wahrheit, ein Stück Resistenz gegen Populismus ist unter Umständen notwendig, in dem beschränkte Handlungsmöglichkeiten offen zu benennen sind und einfach zuzugestehen, dass nach manchen Ereignissen nichts getan werden kann .
All diese Argumentationen, eine Art Plädoyer für einen politischen Weitblick der demokratisch legitimierten Organe, losgelöst von Partikularinteressen, sind gewiss vernünftig. Aber ist Demokratie nach Vernunftgründen praktizierbar? Möllers bezweifelt das (Der Zusammenhang zwischen Demokratie und Vernunft [bleibt] schwach und kann von der Entscheidungslogik demokratischer Politik einfach überwuchert werden.) Damit stellt er aber unter Umständen auch das Primat der Urteilsfähigkeit des Bürgers wieder infrage. Denn wenn die Entscheidungslogik demokratischer Politik dann doch populistischen Maximen folgt – obwohl vielleicht wider besseres Wissen -, dann liegt der »Fehler« nicht ausschliesslich beim Mandatsträger, sondern mindestens genau so beim Bürger. Wenn sich aber die Mandatsträger – wie oben beschrieben, der Welt ein Stück entrücken sollen, treffen sie vielleicht weniger »populistische« Entscheidungen – verlieren jedoch unter Umständen ihre Mehrheit. Den Mandatsträger für die Dauer seines Mandates unter Umständen in einen höheren gesellschaftlichen Rang zu befördern, würde letztlich den Gleichheitsgrundsatz infrage stellen (in der Praxis gibt ja beispielsweise sehr wohl die Immunität).
Opulenz – leider nicht bei der Hauptargumentationslinie
Das Buch enthält eine Fülle interessanter Ansichten. Möllers’ Art, schlagwortartig zu pointieren (ohne dabei allerdings zu trivialisieren), liefert so manches Bonmot. Etwa, wenn er die Notwendigkeit der Gewaltenteilung darlegt (Parlamente haben das erste Wort, Gerichte das letzte.). Oder wenn er sowohl gegen den zivilen Ungehorsam Stellung bezieht (Wer gegen demokratische Gesetze zum Widerstand aufruft, bricht die Gleichheit der demokratischen Gesellschaft. Er gibt seinem Anliegen mehr Gewicht als dem der anderen – ein typisches Intellektuellenphänomen.) als auch gegen verschwurbelte Notstandsargumentation von Politikern polemisiert (Die Berufung auf übergesetzlichen Notstand durch demokratische Amtsträger ist ein rhetorischer Staatstreich…) und der Dichotomie Freiheit versus Sicherheit eine klare Absage erteilt (…beruht auf einer Kategorienverwechslung). Seine Ausführungen zum Völkerrecht und Menschenrechtsfragen sind ebenfalls prononciert – etwa wenn er schreibt, dass internationaler Menschenrechtsschutz…sich auf ein zivilisatorisches Minimum beschränken sollte.
Leider gibt es auch mitunter ärgerliche Widersprüche, wie beispielsweise die Ausführungen zu Volksentscheiden. Am Anfang steht Möllers diesen skeptisch gegenüber: Die Beantwortung einer Frage mit ja oder nein in einer Volksabstimmung zwingt zu klären, wer demokratisch legitimiert ist, solche Fragen an alle zu stellen. Und anders als Parlamente oder Volksversammlungen haben Volksabstimmungen keinen institutionellen Ort, an dem die demokratische Willensbildung verstetigt werden kann. Letztlich wird durch die Dichotomie ja/nein die Möglichkeit von nuancierter Auseinandersetzung und Kompromissbildung ausgeschlossen. Dann irgendwann die These, Referenden könnten für bedeutende völkerrechtliche Verpflichtungen, etwa für die Vertiefung der EU oder den Beitritt der Welthandelsorganisation geboten sein, um demokratische Legitimation in aussenpolitischen Fragen zu generieren (warum das Argument gegen »ja/nein«-Entscheidungen jetzt nicht mehr gilt, bleibt offen). Und gegen Ende des Buches dann eine endgültige Wende: die Abneigung gegen Volksabstimmungen sei überholt, und sie könnten das Bewusstsein für die Bedeutung demokratischer Politik heben. Da hätte man sich mehr Stringenz gewünscht.
Vehement wird der Autor, wenn er auf die Ignoranz und Diskreditierung grosser Teile der Intellektuellen hinsichtlich der deutschen Demokratietradition hinweist. Man lese, so echauffiert sich Möllers, auf einem staatlich finanzierten Denkmal des Künstlers Hans Haacke Zitate von Rosa Luxemburg. Die erste frei gewählte Nationalversammlung in einem demokratischen Deutschland bezeichnete sie als »überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen« und »Hülse ohne Inhalt«. Autoritäre Gegner der Weimarer Republik hätten dieser parlamentsfeindlichen Bewertung sicher zugestimmt. Immerhin demonstriert dieser öffentlich finanzierte antiparlamentarische Sozialkitsch unsere demokratischen Traditionslosigkeit besonders deutlich.
Die Fülle der Phänomene, die Möllers kommentiert, ist beachtlich. Ob der Bundespräsident jetzt vom Volk gewählt werden soll oder nicht, ist sicherlich interessant, ist jedoch weniger in dem Sinne weniger relevant, weil man sich eigentlich nähere Ausführungen der Hauptargumentationsstränge von Möllers’ Denkgebäude gewünscht hätte. Im Laufe des Buches bekommt man immer mehr das Gefühl, der Autor möchte lieber noch den ein oder anderen Nebenschauplatz kommentieren. Im selbstironisierenden Vorwort beschreibt Möllers zwar die Diskrepanz zwischen dem Wunsch, wie dieses Buch sich entwickeln sollte – und dem tatsächlichen Resultat, aber das ist ein bisschen fishing for compliments.
Dennoch ist »Demokratie – Zumutungen und Versprechen« ein sehr lehrreiches, im Grossen und Ganzen leicht (aber nicht seicht) geschriebenes Buch; fast eine Art Vademecum. Es ist höchst anregend – auch und vor allem dort, wo man mit den Ansichten des Autors nicht übereinstimmt und/oder die eigenen Standpunkte plötzlich ins Wanken geraten. Dabei ist es auf eine beruhigende Weise bar jedem hohlen Pathosgerede sonntäglich gestimmter Politiker oder Verbandsfunktionäre. Das Buch könnte die notwendige und wichtige Debatte um unsere Demokratie befördern. Unabdingbar hierzu wäre es allerdings, dass sich einige Medien wieder mehr auf ihren Aufklärungsauftrag konzentrieren und solche – im Detail durchaus kontroversen und auch unangenehmen Thesen – aufnehmen, einer breiten Öffentlichkeit vorstellen und diskutieren. Also fast genau das Gegenteil dessen, was im Moment geschieht.
Alle kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Wenn Demokratie das Versprechen der Organisation von Herrschaft unter den Voraussetzungen von Freiheit und Gleichheit ist, dann muss sie doch im selben Moment auch Verpflichtung zur Partizipation an den öffentlichen Belangen sein, sonst kann sie auf kurz oder lang nicht funktionieren.
In jedem Falle ist diese Bestimmung (Versprechen) sehr attraktiv, da sie die Instrumentalisierung der Demokratie – quasi als »Krone aller Staatsformen« – durch die darin enthaltene Unsicherheit von vornherein ausschließt.
Danke für den Beitrag, ich werde mich (hoffentlich) noch zu dem einen oder anderen Punkt äußern. In jedem Falle lehrreich.
Ich weiss nicht genau, was Du mit Verpflichtung zur Partizipation meinst.
Die »normale« Partizipation des Bürgers findet bei Möllers durch institutionelle Wahlverfahren statt, die aber – nach seiner Diktion – nicht unbedingt Volks- oder Bürgerentscheide sein müssen. Es reicht ihm (häufig genug), dass die Institutionen demokratisch legitimiert sind.
Bleibt die Teilnahme an den Wahlen aus, ist das – so interpretiere ich ihn – nicht unbedingt eine Frage der Legitimation. Ob nun 40% Wahlbeteiligung oder 80% – das spielt keine Rolle. Denn die 60%, die nicht zur Wahl gegangen sind, hatten die Möglichkeit, von der sie – aus unterschiedlichsten Gründen – keinen Gebrauch gemacht haben. DAS beklagt Möllers (wie ich ihn lese) nicht.
Ich meinte folgendes
Demokratie funktioniert meines Erachtens nicht, wenn sie einseitig »gewichtet« ist, was ein Versprechen notwendiger Weise ist (ich verspreche Dir etwas, das nimmt Dich aber nicht in die Pflicht). Kurzum: Geht »keiner« mehr wählen, oder verebbt der öffentliche Diskurs (etwa das, was man mit Demokratiemüdigkeit bezeichnet), dann wird die »politische Kaste« auf kurz, oder lang ihr »Süppchen kochen«, dann wird sich Korruption breitmachen, oder bestimmte Gruppen ihre Interessen durchsetzten – die überwiegende Mehrheit kümmert’s nicht (mehr).
Was ist dran an »Demokratieverdrossenheit«?
Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat die »Demokratieverdrossenheit« in einer aktuellen Studie (Zusammenfassung; PDF-Dokument) untersucht. Ich halte die Schlüsse in Anbetracht der Fragestellungen für gewagt:
S. 8 – Einstellungen zur Reformpolitik
Leider ist nicht definiert, wie Reformpolitik definiert wird, d. h. ob sie ausschliesslich im Sinne von Schröders »Agenda 2010« gesehen wird. In den 70er Jahren hatte »Reform« eine ganz andere Konnotation. Welche wird aber bei Zugrundelegung dieser Frage berücksichtigt?
S. 9 – Frage zur Einschätzung der Funktionsweise der Demokratie
Neulich wurde bereits in einer Umfrage von infratest dimap in der »Tagesschau« mit grossem Thaterdonner diese Frage gestellt (»Deutschland am Rande der Depression« hiess es da – und »Vertrauensverlust in das demokratische System«). Aber ein »Nein« auf die Frage »Sind Sie mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden« bedeutet per se ja noch nicht, dass man mit der Demokratie an sich unzufrieden ist bzw. diese ablehnt, sondern zunächst einmal, dass man die Funktionsfähigkeit der aktuellen demokratischen Mandatsträger bzw. Institutionen kritisch hinterfragt. (Ich hätte durchaus auch mit »Nein« antworten können, wenn ich gefragt worden wäre.)
Indem man jedoch suggeriert, dass dadurch die Demokratie an sich abgelehnt würde, trägt man zu dem Effekt bei, den man untersucht und beklagt.
Generell zeigt die Studie die FES-Studie, dass rechts- und linksextreme Anhänger Wert und Problemlösungskompetenz der Demokratie infrage stellen. Das ist – wenn man sich die Programmatik dieser Parteien absieht – keine so grosse Überraschung. Einen Trend kann man hieraus nur insofern ableiten, als es zu einer Art Teufelskreis kommen kann: Im Maße, wie diese Parteien bei Wahlen an Zustimmung gewinnen, wird die Diskussion um »Demokratieverdrossenheit« Nahrung erhalten.
Die aufgestellte These, dass soziale Disparität zum Demokratieverdruss führt (S. 15), lässt leider ausser acht zu klären, wie Demokratie eigentlich verstanden wird. Ich glaube, dass – auch aufgrund von medialer Vermittlung – Demokratie landläufig als eine Mischung zwischen einer Art Wohlfahrtshedonismus, Teilhabe des Einzelnen an der kapitalistischen Ökonomie und einem diffusen Unverständnis demokratischer Prozesse gegenüber (= Obrigkeits- bzw. Führerdenken) verstanden wird. Die Sehnsucht nach klaren, einfachen und vor allem schnellen Problemlösungen ist in Anbetracht der häufig komplizierten Verfahren gross. Hinzu kommt – wenigstens in Deutschland – das kakophonische Konzert der politischen Klasse, die – oft genug berechtigt – als interessengeleitet wahrgenommen wird.
Möllers weicht dieser Problematik nicht aus. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann stellt er letztlich auch die Frage nach der Erwartung an »die Demokratie«. er warnt ausdrücklich vor überzogenen Erwartungen. Das oft schwülstige Gerede, die »toll« denn die Demokratie ist, lässt vergessen, dass es sich um einen Prozess handelt, der – hierauf müsste man viel mehr Akzent legen – ein Geben und Nehmen ist.
Was dran ist...
Das Wort »Reform« an sich ist neutral, hat aber mittlerweile wohl eine eher negative Konnotation (»man reformiert, aber nichts wird besser«). Insofern ist das Ergebnis – die verbreitete negative Einstellung gegenüber Reformen in sozialen Schichten die diese eigentlich begrüßen müssten – nicht ganz überraschend (ob diese Einstellung nun begründet ist, oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen).
Du hast natürlich Recht: Man darf nicht von der derzeitigen Unzufriedenheit gegenüber dem Funktionieren der Demokratie auf eine Unzufriedenheit mit der Demokratie im allgemeinen schließen. Man darf auch nicht vergessen: Demokratieverdrossenheit ist eine aufsehenserregende (und auflagenfördernde, und damit gern gesehene) Schlagzeile.
Aber ich meinte eigentlich nicht die aktuelle Situation in Deutschland, oder anderswo, sondern grundsätzlich: Kann Demokratie funktionieren, wenn sich die Bürger in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht mehr dafür interessieren? Längerfristig kann ich mir das nicht vorstellen, und wenn Möllers sie als – ein notwendiger Weise einseitiges – Versprechen versteht, heißt das (entgegen meiner Position): Ja, sie würde trotzdem funktionieren. Dein »Geben und Nehmen« ist eher zutreffend.
Was man von der Demokratie erwartet (erwarten kann, in Grenzen), ist, in einem Wort: Gerechtigkeit.
Es gab vor sehr langer Zeit einmal ein Fernsehspiel, in dem es um einen Wahlabend nach der Bundestagswahl ging. Die Pointe war: Schnell stellte sich eine Wahlbeteiligung von 5% heraus (ich weiss nicht, ob das wirklich stimmt – vielleicht waren es auch 8%; die Sendung ist Jahrzehnte alt und ich habe sie nie mehr gesehen). Der Witz bestand darin, dass natürlich etliche Beobachter die Legitimität dieser Wahl anzweifelten, während die Politiker der siegreichen Partei (Koalition) davon nichts wissen wollte.
Letztlich ist Deine These natürlich richtig: Wenn die Bürger (die ja mehr als nur Wähler sind) sich kontinuierlich und dauerhaft aus der Partizipation entfernen, dann gibt es irgendwann ein Legitimationsproblem. Das oben genannte Beispiel ist ein Extrem, aber wir haben in Deutschland schon Kommunalwahlen mit 40% Wahlbeteiligung. Die Präsidentenwahlen in den USA erreichen (meines Wissens) kaum über 50%.
Anders formuliert
Was Du als Legitimation ansprichst, kann man – von der anderen Seite gesehen – auch als Rechtfertigung für das eigene Tun, und als Motivation, bezeichnen: Politikern, die – im Idealfall – für die Gerechtigkeit aller streiten, kommt mit steigendem Desinteresse der Wähler, die Motivation für ihr eigenes Handeln abhanden, und auf kurz oder lang, wird man immer mehr eigene Interessen und Absichten verfolgen (»Da meine »Arbeit für alle« nicht geschätzt wird, arbeite ich von nun an in die eigene Tasche, interessieren tut es ohnehin niemanden«).
Ist Möllers’ Gleichheit (hinsichtlich der Freiheit der Bürger)als grundlegende zu verstehen, d.h. bedeutet sie nur, dass alle Bürger Willensfreiheit besitzen müssen, damit Demokratie funktioniert, oder macht er irgendwelche ergänzenden Aussagen (man könnte z.B. feststellen, dass manche Bürger zwar Willensfreiheit besitzen, aber ihre Partizipationsmöglichkeiten beschränkt sind, weil sie beispielsweise auf Grund ihrer ökonomischen Situation nicht dasselbe Maß an Bildung, oder den gleichen Zugang zu bestimmten Medien haben; sie können zwar wählen, aber ihr Urteil wird vermutlich eingeschränkt sein. Und vize versa: andere, ökonomisch besser gestellte Personen, haben möglicher Weise Vorteile.)? Muss es nicht eine gewisse Gleichheit geben (ich meine hier auch keine »Gleichmacherei«, aber zumindest ein »Fundament« an dem alle teilhaben können, so sie wollen)? Willensfreiheit mag unabdingbare Grundlage sein, aber ist sie alleine hinreichend?
Gleichheit à la Möllers
Auf Seite 16 heisst es (Punkt 12): Demokratische Gleichheit ist nicht Gleichheit. Die demokratische Gleichheit betrifft nur eine spezifische, wenn auch sehr wichtige unserer Eigenschaften: eben unsere politische Freiheit. Ansonsten bleiben wir unterschiedlich – auch in den Möglichkeiten, aus unserer demokratischen Freiheit etwas zu machen. Es ist etwa für denjenigen einfacher, ihre gleiche Freiheit zu nutzen, die gut reden können oder wohlhabend sind. Trotzdem beschränkt sich die Demokratie im Ausgangspunkt auf die Gleichheit der Freiheit.
Das ist natürlich in höchstem Masse angreifbar, weil Möllers damit explizit eine Art Ausgleich zwischen »ungleichen« gesellschaftlichen Schichten nicht antastet. Er geht sogar weiter: Wer mehr Gleichheit verlangt, stellt die Demokratie in Frage, weil er bereits vorgibt, was doch erst demokratisch entschieden werden soll. Die Gleichheit frisst dann die Freiheit auf.
Im weiteren Verlauf beschäftigt er sich kurz mit Carl Schmitt (das lasse ich mal weg), um dann fortzufahren: Aber gerade Konflikte, die ja nicht selten durch Ungleichheit zwischen Armen und Reichen oder zwischen Ethnien entstehen, sind ein Grund für demokratische Herrschaft. Demokratische Willensbildung braucht stets einen Raum der Widersprüche. Über andere Gleichheitsprobleme, über soziale Ungerechtigkeit, über gleiche Erziehung, ist auf der Grundlage demokratischer Gleichheit zu entscheiden. Eine Gemeinschaft mag sich das Ziel sozialer Gleichheit setzen und eine bestimmte Wirtschaftspolitik vornehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Solange beides umstritten ist, muss darüber demokratisch entschieden werden. Demokratische Gleichheit geht in der Demokratie aller anderen Gleichheit vor.
Das ist natürlich harter Tobak für Interventionalisten jeder Art.
Der Kernsatz im zweiten Absatz ist meiner Meinung nach:
Über andere Gleichheitsprobleme, über soziale Ungerechtigkeit, über gleiche Erziehung, ist auf der Grundlage demokratischer Gleichheit zu entscheiden.
Ist diese Idee so schlecht (nur weil sie nicht besonders zeitgemäss scheint)?
Nein, ist sie nicht. Ich habe nur versucht einen Einwand zu formulieren.
Und es ist wahrscheinlich die einzige ehrliche Möglichkeit, denn ökonomische Gleichheit zu installieren, und dann darüber zu befinden hieße zumindest einen Zirkel zu riskieren. Und ja: Man will aus freien Stücken ein Gemeinwesen zimmern, das ist der Anfang. Wie das Gemeinwesen aussieht, darüber muss erst befunden werden.
Eigentlich eine schöne Idee.
Der Einwand nagt auch an mir.
Aber ich glaube, dass dieser Gleichheitsbegriff auf Dauer die einzige Möglichkeit bleibt, obwohl man natürlich immer gneigt ist, gegenzusteuern.
Alles andere stürzt uns mehr und mehr in eine Flut von Verordnungen, Regelungen, Bestimmungen und Gesetzen, die letztlich nur eine allgemeine Nivellierung zur Folge haben. Das kann aber auch nicht gewünscht sein.
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür; die prominentesten sind die Subventionen und Steuererleichterungen, die für bestimmte Handlungen oder Unterlassungen bezahlt bzw. gewährt werden.
Oder in der Bildung, wo man in den 70er und 80er Jahren glaubte, durch neue Schulformen mehr Schüler zum Abitur zu bringen. Das Ergebnis war zwar entsprechend – aber letztlich führte es dazu, dass man das Niveau senkte, statt in Ganztagsschulen zu investieren und eine kleiner Schülerzahl pro Klasse durch mehr Lehrereinstellungen zu beschleunigen.
Das die Abiturquote gestiegen ist führte dazu, dass – zumindest in Deutschland – inzwischen für Handwerksberufe schon mindestens Mittlere Reife gefordert wird, während Banken und Versicherungen nur noch Abiturienten ausbilden.
Interessant ist, wenn man diese Entscheidungen, die damals nachweislich falsch waren, wieder als demokratisch getroffene Entscheidungen einordnet – dann hat Möllers auch recht: Das Gemeinwesen darf sich irren (man kann auch »Zeitgeist« sagen). In einer Demokratie kann das aber jederzeit – durch entsprechende institutionelle Verfahren wieder geändert werden. Das macht die Demokratie übrigens auch so »anstrengend«. Und deshalb ist bei vielen der »starke Mann« so beliebt...
Die Besuchszahlen zeigen: Das liest hier kein Mensch. Schon den Beitrag hat kaum einer angeklickt. Bücher oder Texte mit dem Wort »Demokratie« im Titel sind vermutlich inzwischen unverkäuflich geworden: Entweder es ist zu theoretisch – oder eine einzige Lobhudelei. Ich glaube, dass der Begriff Demokratie inzwischen dermassen stark negativ konnotiert ist, dass die blosse Erwähnung schon Distanz erzeugt (Distanz – nicht unbedingt Abneigung).
Mir geht es da anders.
Mich springt »alles« an was mit Demokratie zu tun hat. Vor allem wenn es theoretisch daherkommt.
Das mit den Leserzahlen ist schade, habe ich aber befürchtet.
Noch eine kurze Frage.
Impliziert Konsens bei Möllers immer ein Fehlen jeglicher Auseinandersetzung? Theoretisch kann ein parlamentarischer Diskurs, ja einen Konsens freilegen, über den dann in weiterer Folge abgestimmt wird. Daran kann ich nichts negatives entdecken (natürlich, ein Konsens von Beginn an ist bedenklich).
Schwierig
Zu dem, was ich in der Besprechung zitiert habe, passt noch ergänzend (zum Konsens): Konsenserfordernisse zwingen...alle, ihre eigenen Ansichten anzupassen, statt sie in der Auseinandersetzung um Mehrheiten ausdrücklich zu machen. Wer überstimmt wurde, hat seinen Dissens zum Ausdruck gebracht und kann, nachdem Erfahrungen mit der Mehrheitsentscheidung gemacht wurden, bei der nächsten Entscheidung daran erinnern. Im Konsens geht diese Lernmöglichkeit verloren.
Nicht verwechselt werden darf Konsens mit Kompromiss. Möllers ist ausdrücklich für den Kompromiss: Das Bedürfnis nach einer kompromisslosen demokratischen Entscheidung folgt der autoritären Fiktion eines rein politischen Willens. Entscheidend ist für ihn – das bzw. die Verfahren.
Insofern würde er sagen, dass parlamentarische Verfahren einen Kompromiss freilegen, aber nicht unbedingt einen Konsens. Ein Kompromiss ist »erarbeitet« – Konsens eine Umgehung der Verfahren, die auf einer informellen Ebene stattfindet bzw. gesetzt wird. Das Beispiel der Europapolitik in Deutschland finde ich stark: Statt grundsätzlich über die EU und deren Institutionalisierung und Ausgestaltung zu diskutieren, wird dies als überparteilicher Konsens vorgegeben.
Zumindest verstehe ich das so – aus meiner Lektüre heraus.
Im Punkt des autoritären antikompromisslerischen Verhaltens stimme ich ihm zu. Den Begriff des Konsens verwendet Möllers einfach anders als man das landläufig tut.
Das klingt plausibel.
Für mich hätte ich wie folgt definiert:
Konsens ist das, worin man übereinstimmt und Dissens das, worin man nicht übereinstimmt. Beides kann man aber nur über eine Diskussion feststellen (nach Möllers wird der Konsens vorher festgelegt). Ein Kompromiss (auch nur über eine Diskussion feststellbar), ist das worauf man sich letztlich einigt (nicht unbedingt mit dem Konsens ident, da ein Interessensausgleich stattgefunden und die eine Partei hier, und die andere dort nachgegeben haben könnte). Ein Kompromiss kann – quasi als Spezialfall – mit dem Konsens ident sein, aber auch beim Fehlen jeglichen Konsens entstehen.
Im Prinzip könnte man (nach Möllers) sagen, dass der sogenannte Fraktions- oder Klubzwang einen Konsens darstellt. Und damit (zumindest zum größten Teil) unerwünscht ist.