Die einzige Angst, die ich jetzt noch habe, ist die, zu vergessen. So beginnt dieses Buch. Jenseits des Vergessens ist die Zeitlosigkeit. Und jenseits der Zeit die Ewigkeit. Aber schon im Erinnern, dem Versuch, nicht zu vergessen, steckt die Gefahr der Verschollenheit: Ist die Erinnerung entrückt, in den Gedächtniskammern eingeschlossen? Die Erinnerung an den unwirklichsten Sommer zweitausendzwei. Und der »Preis« für die Erinnerung: Geht der [Sommer] immer und nie vorbei?
Trostlosigkeit – Vergessen ist ein matter, haltloser Landstrich, der zu nichts führt – und Hoffnung, dass hinter jenem Landstrich noch ein zweiter läuft, wie alles noch ein Zweites hat, vielleicht sogar sein Drittes, Viertes. Ein andrer Landstrich in einem andren Land, wo das Vergessen sich sammelt, konzentriert, besinnt.
Ulla Berkéwicz umkreist das Vergessen in diesem Buch – und natürlich nicht nur das. Es geht ums Sterben und den Tod (und damit um das Leben) und es geht – dezent und diskret – um Liebe. Aber es ist mehr als ein Lebens‑, Liebes‑, Todes- oder Totenbuch, mehr als somnambule (und dann doch gelegentlich affektierte) Litanei einer Witwe, mehr als metaphysische (Selbst-)Tröstung, mehr als eine Kritik an den Verhältnissen unserer Krankenhäuser, mehr als expressionistisch-assoziative Klagerede (mit Spucke auf einem Stein statt lutherischem Tinten- oder cantervillschem Blutfleck). Ja, es ist alles das. Und eben mehr. Viel mehr.
Berkéwicz’ Blick in die Kindheit, dieses frühe Umgehen mit den toten Tieren, die das Kind ehrfürchtig bewahrt und dann bestattet oder die Vaterverluste in so vielen Familien (muss man mehr sagen? Nein). Man stockt bei diesen kleinen filigranen Erzählausflügen, die so zart daherkommen und meint förmlich die Sommer zu riechen, das Aufgeregtsein des Kindes zu fühlen.
Im jüdischen Milieu aufgewachsen, in einer Mischung zwischen Frömmigkeit einerseits und spielerischer Ungezwungenheit andererseits, als Kind in der Vaterklinik, dem Tod auf den Fersen, den Todgeweihten in den Sterbezimmern vorsingend, die Todeserzählungen der Grossmutter, »Nefesch, Ruach und Neschama«; einem eigenartigen Faszinosum, diesem letzten Seufzer gegenüber. Sterber und Lieber. Und die Lust, mehr vom Todesleben zu erfahren. Und dann irgendwann, mit sechzehn, zum Leben – und zu den Toten: Jetzt hab ich selber Tote heisst es da; Initiation in das Erwachsen‑, das Menschwerden.
Sehnsucht nach einem kindlichen, naiven Lesen
Und ja, wenn sie all die Toten, die sie schon »erlebt« hat, aufzählt, dann keimt schon einmal ein Posieren auf und bei diesem Toten, der »nur« der Mann ist, eine bisweilen üppige Symbolik: Die nicht mehr tickende Rolex. Das Beten! als Imperativ. Das Witwenmal auf der Hand. Das es sich um einen prominenten Mann handelt wird auch nicht ganz ausgeblendet – die Angst vor Ausspähung durch Fotografen; die Erwähnung des Todes in den Nachrichten. Dann die Anspielung mit dem Hexenhammer. Und speziell bei diesen Abschnitten die Sehnsucht nach einem kindlich-naiven Lesen, dem eigentlich einzig möglichen Lesen überhaupt. Die Sehnsucht nach dem Vergessen all der aufgepropften Konnotationen der Deutungsindustrie, die den Blick nur so selten weiten, sondern meist verengen; einzäunen.
»Überlebnis« ist fast immer das Gegenteil all der lakonischen Coolness oder pseudo-skandalösen Schreibfabrikationen, die uns (nein: mir) das Lesen immer mehr arg strapaziös und fad werden lassen. Und da ist eine Autorin, die nicht nur keine Angst vor dem Pathos hat (wie seltsam es anmutet, »Pathos« inzwischen nur noch mit dem Attribut »falsch« zu hören und zu lesen; ähnlich dem »Kompromiss«, der fast nur noch »faul« geschimpft wird), sondern es zelebriert. Es gibt die Stellen, die dem heutigen Leser so schwer eingehen, und man (man?) ist geneigt, Berkéwicz dies »nachzusehen«. Aber das wäre nicht redlich (und auch überheblich). Nein, dieses Buch ist nicht trotz dieser Abschnitte so wirkungsmächtig, sondern gerade wegen dieser (und dafür muss man ihnen nicht immer zustimmen).
»Prüderien aus nackter Angst«
Und am Ende steht das Staunen, wie es am Anfang steht, so in einer der essayistischen, kursiv-geschriebenen Passagen in Berkéwicz’ Buch, welche mal das Erzählte kontrastieren und mal pointieren. Und mehr als einmal wird dabei das hohle (jetzt passt es!) Wortgeklingel des literatur-philosophischen Redens dem des Lebens gegenübergestellt und ab und an werden dem Leser solche Sätze ins Gesicht geschleudert:
Seit uns kein Gott mehr spricht, herrscht Schweigen übern Tod bis in den Tod (So oft diese e‑Elisionen [übern; andern] neben oder trotz der ansonsten ausdrücklich gewählten Hochsprache!) Oder: Mit dem Sterben ist das Entsetzen verbunden. Entsetzlicher Schrecken, schreckliche Angst. In unserer Angstklammer kommen Alter, Krankheit, Sterben uns ekelhaft und schamlos vor. [ …] Die Prüderie, die uns, die wir uns jetzt in unsere kleine Zeit zu fügen wissen, Alter, Krankheit, Sterben als schamlos erscheinen lässt, sie resultiert, wie alle Prüderien aus nackter Angst. Schliesslich:
Wir haben Gott abgesetzt, aus Angst vor seiner Unermesslichkeit, dem Unberechenbaren. […] Und da wir mit unserem Glauben auch den Glauben an unsere Unsterblichkeit verloren haben, sind wir gelähmt vor Angst, können dem Tod nicht mehr entgegentreten. Haben Gott abgesetzt, sind nur noch wir jetzt, wir allein, unberechenbar und sterblich, sinnlos sterblich, rettungslos eingepfercht zwischen die Grenzen von Geburt und Tod, mit nichts davor und nichts dahinter. Haben die Angst jetzt vor uns selbst, weil wir nicht wissen, was das ist, dies Selbst mit seiner Angst, für die wir, seit wir Gott abgesetzt haben, niemand mehr als uns selbst verantwortlich machen können.
Es ist ein leichtes, in selbstgefälligem Gestus diese Passagen von gut gepolsterten Redaktionssesseln aus zu denunzieren. Ja, ein gewisser Lektüreeklektizismus ist spürbar. Wenn schon. Ist es die unter Intellektuellen so verhasste Flucht ins Religiöse? Bei Camus heisst es: »Es gibt nur eine Freiheit: mit dem Tod ins reine kommen.« Der als emanzipatorisch empfundene Akt, Gott bis ins Private hinein zu eliminieren und den Tod als absolutes Ende zu begreifen – hilft er diesen »fassbar«, ja »erlebbar« zu machen? Elias Canetti – und mit ihm viele Intellektuelle seiner Zeit – sahen den Tod als Beleidigung an, der in keinem Fall zu »akzeptieren« sei. Ihr Gestus des dezidierten, trotzigen »Nein« wirkt wie eine lächerliche Anmaßung, jeglicher Demut abhold und findet seine (unselige) Fortsetzung in der menschlichen Hybris unserer Tage, die sich in Teilen der Naturwissenschaften Ausdruck verleiht.
Aber verwischen nicht all diese theoretischen Überlegungen im Angesicht (!) eines sterbenden Mannes mit seinen Atembrocken wie Blutklumpen? Oder, mit Thomas Bernhard: »Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.« Und hier ist nichts lächerlich.
Die Todesunfähigen
Immer wieder der Kontrast. Der Leidende, nach der Frau Schreiende auf der Intensivstation des Krankenhauses, einem würdelosen Herrenmenschentheater eines Ärzteschwanz[es] ausgeliefert (so nennt Berkéwicz die Ärztevisite; diese Passagen wütend und indigniert erzählt). Pfleger Fascho, der türkische Putzfrauen Kanackenfotzen nennt. Das Blut- und Eiter-Mobile am Krankenbett. Und dagegen (nein, ein dafür!) die Erinnerungen, besser: Wieder-Holungen an den todkranken russisch-jüdischen Freund, der in Amsterdam inmitten seiner Verwandten und Gefährten eben nicht seelen- und geistlos behandelt, sondern gepflegt, umsorgt, behütet wurde. Welch ein Antagonismus – die Technik- und Apparategläubigkeit hier (An Gottes Stelle [treten] jetzt die von uns selbst erfundenen Maschinen…, die wir verzweifelt für berechenbar halten wollen) und das wuselig-kümmerische, leicht chaotische, aber stets respekt- und würdevolle dort.
Und dann, nach dem Tod billiger Tagestrost und Mitleidskitsch, jene Erbärmlichkeiten der Todesunfähigen, die ihr Seelenfähnchen in den Wind hängen und diese merkwürdige Gewißheit, dass jeder Christ errettet wird und damals in Amsterdam das Russenweinen als fester Ton im Hausgrund, das »Küß ihn von mir, wenn er stirbt«, dann endlich die Einlösung der Grossmuttererzählung, der Atmer atmete sich zum Ausatmen vor, der Spalt riß auf…die Sterbeschwester klappte ihr Heftchen zu, später das Lesen aus dem heiligen Buch, aber die meisten hielten es verkehrt, die Schrift stand auf dem Kopf, die Münder simulierten und als das große »El Male Rachamim«, das große »Gott voller Erbarmen« gebetet wurde, hatten die vier die Arme ausgebreitet, ließen den Schmerz ausfliegen, auf, in ein andres Land, in eine andre Zeit, in der kein Buchstabe mehr fehlt im Menschenalefbeth in der der Schmerz gestillt ist und der Tod geheilt.
Sätze wie Nie lebt man so sehr, wie wenn man stirbt oder Todsein heißt in der Zukunft sein verstören den (ach so modernen) Mitmenschen, wie die teilweise unwirsche Kritik zu diesem Buch zeigt. Sie rührt aus der Ungeheuerlichkeit, der Radikalität, heraus Sterben und Tod als Teil des Lebens zu begreifen und nicht in gängige (auch räumlichen) Verdrängungen »auszulagern«. In dem die Ich-Erzählerin zwei differierende Sterbens- also: Lebenswelten gegenüberstellt, wird das mitleid- und liebelose unserer thanathophobischen Kultur aufgezeigt. Man spürt den Zorn der eigenen Trauer gegenüber. Implizit wird auch eine Kritik an einem ausgebrannten Christentum vorgenommen, welches sich weitgehend in einen abgestumpften Ritualisierungsapparat verwandelt hat; so oft bar jeder Empathie.
Ja, und vielen mag das empörend vorkommen, so etwas wie ein Plädoyer für ein argloses, fast naives Gottvertrauen herauszulesen. Ein eher archaisches, ursprüngliches, von allen Konventionen befreites Gottvertrauen, weit entfernt von engstirniger Orthodoxie irgendwelcher Institutionen (und das pure Gegenteil vom blinden Gehorsam). Ein Gottvertrauen, das dem Menschen immer und überall die Würde behalten lässt und ihn gleichzeitig aufgehoben weiss. Ein Gott-Vertrauen, welches das Überlebnis ermöglicht.
Und neben all den Autoren, die Ulla Berkéwicz angeblich oder tatsächlich zitiert, konterkariert oder paraphrasiert haben soll, kommt mir einer in den Sinn, der ein Geistesverwandter sein könnte: Josef Winkler, der wirklich grosse (ja, grosse!) Dichter über den Tod und seine fast stoische Manie (gibt es so etwas?) des Schauens der Einäscherungsrituale in Indien. Dort, so Winkler, »wird der Tod weder geleugnet noch gefürchtet, sondern als lang erwarteter Gast willkommen geheißen.«
Die kursiven Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. Die kursiven Passagen in anderer Schrift sind im Buch selbst kursiv gedruckt und bilden eine zweite Erzähl- bzw. die Essayebene.
.. hier schwingt das Verständnis für die elementare Sehnsucht nach »Lassen« mit, die anderswo als naiv bezeichnet wird. Rundherum gut. Danke.