Wer ein Buch mit dem Untertitel Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht schreibt, sollte mindestens in der Lage sein, diese Behauptung argumentativ zu belegen. Oder meint der Autor – was auch zitiert wird -, dass die Nachrichtensendungen für den »normalen Zuschauer« schlichtweg nicht mehr zu verstehen sind? Wenn ja: Was hat das dann mit der Sendedauer zu tun? Hat es vielleicht etwas mit der in den Sendungen verwandten Sprache zu tun (vielleicht zu viele Fremdwörter?) oder mit der Rezeptionsfähigkeit des Publikums? Fragen über Fragen.
Walter van Rossum macht zunächst neugierig. Aber manchmal ist das so eine Sache mit dem Anspruch und der Wirklichkeit. Früh merkt der Leser: Da hat eigentlich jemand überhaupt kein Interesse an einer auch nur halbwegs seriösen medienkritischen Analyse der Nachrichtensendungen, speziell und überwiegend der »Tagesschau« und den »Tagesthemen«. Stattdessen gefällt sich der Autor in der Pose des Allwissenden, der dem Redaktionsteam von »ARD-aktuell« mal so richtig die Meinung sagt. Das geschieht in einer Mischung zwischen Überlegenheitsgestus eines Michael Moore-Adepten und der Wut eines abgeblitzten Tanzstunden-Verehrers.
»Rolex-Uhren-Träger«
Am Anfang pickt sich van Rossum einen Beitrag des ZDF-Korrespondenten Uwe Kröger heraus, in dem dieser über die Gründung des neuen UN-Menschenrechtsrats berichtet. Er moniert, dass Kröger (wie auch Klaus-Peter Siegloch in der Anmoderation) als Beispiel für Menschenrechtsverletzer immer die Länder Sudan, Zimbabwe und Kuba anführt, als hätten diese die lautere »Weltgemeinschaft« daran gehindert, Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Van Rossum hält bereits die Gleichstellung des Sudan und Zimbabwes mit Kuba für infame Demagogie. Sicherlich ist die Fokussierung auf diese drei Länder, die sich geradezu perfekt als »Buhmänner« eignen, ein bisschen einseitig. Van Rossum beanstandet daher, warum man nicht Staaten erwähnt habe, mit denen die Bundesrepublik freundschaftliche, um nicht zu sagen innige Beziehungen pflegt – sagen wir Ägypten, Israel oder Indonesien. (Die pejorative Konnotation Israels ist als bewusste Provokation zu verstehen. Stattdessen hätte man Länder nehmen können, mit denen trotz erwiesener Menschenrechtsverletzungen gute Handelsbeziehungen existieren. Um sich nicht dem direkten Vorwurf der Israel-Feindlichkeit auszusetzen, führt Ägypten die kleine Liste seiner Vorschläge an. Und am Ende dann Indonesien. Van Rossum erläutert aber nicht, worin die innigen Beziehungen zu Indonesien liegen. Naja, vielleicht habe ich ja da was verpasst – das Buch wird meine Dummheit später noch tiefgehend bestätigen).
Den eigentlichen Punkt, nämlich warum es mit einem neuen Menschenrechtsrat irgendwie besser gehen soll, streift van Rossum nur am Rande. Und das Kröger auch die USA zumindest mit Guantánamo und Abu Ghraib durch entsprechende Bebilderung angreift, ist ihm nur der Hinweis wert, dass Bush II nicht im Bild gezeigt wird. Stattdessen bemerkt er bereits am Anfang, dass Uwe Kröger seinen Bericht mit der rauen und schneidenden Stimme eines unbeirrbaren Rolex-Uhren-Trägers selber »bespricht«. Halbverstecke (unsachliche und eigentlich unnötige) Gehässigkeiten dieser »Qualität« wird der Leser im Laufe des Buches noch viele mitbekommen.
Warum er am Anfang des Buches einen Beitrag des ZDF herauspickt, erstaunt. Im weiteren Verlauf beschäftigt er sich nämlich ausschliesslich mit der »Tagesschau« und den »Tagesthemen« (um…den Korpus meiner Analyse nicht allzu unübersichtlich werden zu lassen…), die er – beide oder einzeln – abschätzig als Tagesshow bzw. Tagesshows betitelt – übrigens ohne den Ursprung des Begriffs »Tagesshow« nur einmal zu erwähnen.
Bezeichnend, dass das ZDF dann nur noch in einer Fussnote vorkommt: In vergleichbaren Sendungen des ZDF ließe sich Nämliches, wenn nicht Schlimmeres nachweisen. So weit, so subjektiv. Aber von den Nachrichtensendungen auf RTL und SAT.1, beides Sender mit grosser Breitenwirkung, kein Wort. Was liesse sich denn hierzu nachweisen?
Natürlich ist eine Konzentration auf eine Redaktion legitim. Der Gedanke dahinter ist vermutlich der einer Dominotheorie. Indem eine Dekonstruktion des »Flagschiffs« des deutschen Nachrichtenjournalismus vorgenommen (bzw. behauptet) wird, erübrigt sich die Beschäftigung mit noch trivialeren Ablegern. Van Rossum möchte also den bisherigen Nachrichtenformaten, welche übrigens keine spezifisch deutsche sind, den Garaus machen.
Muss aber nicht jemand, der etwas kritisiert, eine Alternative benennen können? Lessings Bonmot, dass man nicht Koch sein muss um festzustellen, das eine Suppe versalzen ist, muss streng genommen auch für van Rossums Buch gelten, auch wenn seine Intention über die der Dekonstruktion hinausgeht. Dagegen setzt er nichts Substanzielles bzw. lässt seinen Gegenentwurf im Dunkeln. Ein analytisches Sachbuch, welches derart vehement agitiert, sollte der eigenen intellektuellen Wahrhaftigkeit willen jedoch mindestens in groben Zügen nachvollziehbare Alternativen aufzeigen. Unterlässt man dies, kann dies zu zweierlei Schlussfolgerungen führen. Entweder der Autor hat kein durchdachtes Gegenmodell oder die Motivation der »Zertrümmerung« ist eine, die nicht aus dem Gegenstand selber resultiert.
Die These ist im Grunde genommen sehr einfach: Die große Mehrheit der Journalisten sieht ihr Aufgabe darin, die Gesellschaft vor den finsteren und komplexen Realitäten zu beschützen.
Van Rossum zeigt mit dem Finger auf die »Tagesschau« – aber drei Finger zeigen auf ihn
Der Satz ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Zum einen definiert er nicht genügend den Begriff des »Journalisten«. Welche große Mehrheit meint er? Die Journalisten der »Bild«-Zeitung? Oder der »FAZ«? Oder der »Zeit«? Oder den Auslandskorrespondenten, der 1′30″ Zeit bekommt? Oder denjenigen, der ein TV-Feature oder ein Buch über den Kreml oder den amerikanischen Neokonservatismus »macht«? Van Rossum macht hier das, was er der Nachrichtenredaktion so vehement vorwirft: Er reduziert komplexe Strukturen auf einfache Schlagwörter. Um der Falle der Pauschalisierung zu entkommen, schreibt er nicht »Alle Journalisten« – obwohl dies durchschimmert -, sondern spricht, leicht einschränkend von einer große[n] Mehrheit. Das ist im Rahmen einer essayistischen Beweisführung vielleicht gerade noch möglich (sollte jedoch auch immer notwendigerweise faktisch unterfüttert werden können), aber als Arbeitsgrundlage für eine »Analyse« absolut untauglich. (Was mit finsteren…Realitäten gemeint sein könnte, wird später etwas deutlicher.)
Nach Kritiken an einigen Beiträgen zerlegt van Rossum ausführlich die »Tagesschau« (später noch die »Tagesthemen«) vom 6. Dezember 2006. Diese (beiden) Sendung(en) werden exemplarisch für alle anderen genommen; an ihnen richtet er sein Urteil aus. Man kann davon ausgehen, dass es schon vorher feststand und es ist unerbittlich:
Tag für Tag offeriert die »Tagesschau« ein groteskes Sammelsurium aus fragmentarisierten Informationen, Halbwahrheiten, Pseudonachrichten, plumpen ideologischen Fanfaren, Platituden und Fehldeutungen. Wer glaubt, mit ein paar Grundkursen in Nachrichtenjournalismus und einer Einführung in die Kunst des Nachrichtenfilmes ließe sich die Angelegenheit verbessern, der irrt gewaltig. Van Rossum stuft mal eben die gesamte Redaktion als hoffnungslose Fälle ein. Aber auch der Zuschauer, um dessen Bildung es dem Autor ja eigentlich geht, bekommt sein Fett weg: Das Ausmaß der Stümperei definiert das Ausmaß des Erfolgs. Und weiter heisst es: Abend für Abend lauschen fast zehn Millionen Menschen der 20-Uhr-Ausgabe der »Tagesschau«, Abend für Abend setzt die »Tagesschau« ihre unglaubliche Erfolgsgeschichte fort, ganz einfach indem sie sich selbst als Genrestück fortschreibt. (Dabei widerspricht er sich selber, wenn er an anderer Stelle diagnostiziert, die »Tagesschau« dämmere seit fast fünfzig Jahren…im Sarkopharg ihres außergewöhnlichen Erfolgs dahin.) Van Rossums Schlussfolgerung: Die »Tagesschau« macht ihre Zuschauer entschlossen zu Zaungästen einer Welt, indem sie sich ebenso entschlossen weigert, diese Welt auch nur andeutungsweise zu begreifen.
Lassen wir einmal die Anthropomorphisierung weg, die sehr merkwürdig anmutet. Van Rossums Vorwurf geht dahin, dass die »Tagesschau« (und auch die »Tagesthemen«) Welt nur reduziert darstellen. Daß an diesem Tag – dem beobachteten 6. Dezember 2006 – wieder so etwa 30.000 Kinder irgendwo auf unserem Planeten ihr kleines Leben in einer stinkenden Pfütze aushauchten (man beachte die bemühte Rhetorik) hatte für die »Tagesschau« wie immer keinen Nachrichtenwert.
Zweifellos ist der Tatbestand, dass täglich tausende von Kindern verhungern oder an vergleichsweise lächerlichen Krankheiten sterben, schrecklich. Ähnliches könnte man jedoch auch von allen anderen Menschen beklagen, die aufgrund mangelnder ärztlicher Versorgung sterben und/oder politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung verfolgt werden. Die grundsätzliche Frage wäre, ob eine ritualisierte Vermeldung solcher – bei aller Schrecklichkeit – Vorfälle bewusstseinsfördernd bzw. bewusstseinsschaffend wären. Zweifellos wäre es ein Fanal, mit der Nachricht »Auch heute sind wieder 30.000 Kinder auf der Erde verhungert« aufzumachen und diese vor vergleichsweise lächerlichen Wahlkampfaussagen von Politikern zu platzieren. Aber welchen Effekt erhofft sich der Autor davon?
Nachrichtensendungen haben für van Rossum – das wird im Verlauf des Buches immer deutlicher – in der eigentlichen Nachricht immer auch die »richtige Botschaft« mitzutransportieren. Sie finden nur Gnade, wenn ihre Ausrichtung hehren Zielen folgt (welche Ziele dies sind, bestimmt er selber). Er lässt nur Nachrichten zu, die seiner ideologischen Ausrichtung entsprechen, d. h. er indoktriniert.
In der besprochenen »Tagesschau«-Sendung wird über die Vorstellung und Veröffentlichung des sogenannten »Baker-Report« berichtet. Auch hier setzt er wieder eine eigene Art der Wahrnehmung als absolut an. Der Irak käme in der Berichterstattung der »Tagesschau« überhaupt nur vor, wenn Amerikaner Schwierigkeiten mit dem Irak haben. Das ist in mehrfacher Hinsicht ein sehr ungenauer Vorwurf, denn (1.) kommt der Irak über Gebühr in den Nachrichtensendungen vor (beispielsweise bei Terroranschlägen – also fast täglich, wobei hier die Sinnhaftigkeit solcher Meldungen sehr wohl befragt werden könnte, aber auch bei politischen Entwicklungen innerhalb des Landes) und (2.) kommt beispielsweise auch der Flugverkehr nur vor, wenn es einen Flugzeugabsturz gibt.
Van Rossum holt weit aus. Die Meldung über den »Baker-Report«, der konstruktive Vorschläge für einen Truppenabzug der Amerikaner enthält, erlauben, die Prinzipien dieser Berichterstattung zu umreissen: »Konsens und Pragmatismus« leiten die »Tagesschau«, wenn sie allabendlich ihre Zuschauer auf die allerselbstverständlichste Art zu Mitwissern eines ungeheuren Verbrechens macht, nämlich eines barbarischen und durch nichts zu rechtfertigenden und relativierenden Angriffskrieges. Dass die »Tagesschau« die Zuschauer zu Mittwissern eines ungeheuren Verbrechens macht ist eigentlich ja nicht schlecht, wenn man für einen Moment an eine Art journalistische Aufklärungspflicht glaubt. Aber van Rossum interpretiert das offensichtlich anders, denn weder an diesem noch an irgendeinem anderen Tag bringt die »Tagesschau« die Sache auf diesen Punkt.
Was ist denn »der Punkt«, auf den die Sache zu bringen ist? Kern der Anschuldigung ist, dass der Irakkrieg als solches nicht mit mindestens mit einem Attribut moralisch und politisch bewertet und mit diesem Attribut dann durchgängig begleitet wird. Etwa so, wie die palästinensische »Hamas« in der ARD immer »radikal-islami[sti]sch« betitelt wird, die »Fatah«-Organisation immer als »gemässigt« (der Beigaben liessen sich noch viele aufzeigen, doch dazu später).
In Anbetracht der Tatsache, dass van Rossum an anderer Stelle plumpe[n] ideologische[n] Fanfaren ausmacht, überrascht dieser Angriff. Noch mehr Verwirrung stiftet der nachfolgende Satz: Sie also die »Tagesschau« macht einfach den Krieg zu einem Faktum der amerikanischen Politik. Was, wenn nicht unter anderem ein Faktum der amerikanischen Politik ist dieser Krieg denn für die Amerikaner sonst?
Gesinnungskritik statt Medienkritik
Die Aufregung läuft ins Leere. Van Rossums Strategie wird im Laufe des Buches an anderen Beispielen überdeutlich. Er möchte seine Sicht der Dinge wertend in den jeweiligen Nachrichten berücksichtigt wissen. Alles andere als seine Meinung ist plump und ideologisch. Immer weiter entfernt sich van Rossum von der Medienkritik und übt nur noch Gesinnungskritik, drischt irgendwann fast nur noch Phrasen oder beschimpft Kommentatoren pauschal als Denkschauspieler und Andreas Cichowitz als Bridgedame. Ganze Scharen von Korrespondenten und Journalisten werden abgekanzelt. Die gesamte Berichterstattung über Darfur sei weitgehend gelogen, weiss er sich mit Peter Scholl-Latour einig. Wann und in welchem Zusammenhang Scholl-Latour das gesagt haben soll, bleibt unbelegt (Fussnoten setzt der Autor nur sehr sporadisch). Wohl gemerkt: Die Berichterstattung ist nicht mehr »falsch« oder »unvollständig«, nicht einmal »verzerrt«, sondern sie ist gelogen. Das bedeutet, dass die Journalisten vorsätzlich die Unwahrheit berichten. Aber wie die Wahrheit nun aussieht, verrät er uns nicht einmal ansatzweise. Die Redaktion von »ARD-aktuell« wird sich bestimmt grämen, den Meister nicht danach gefragt zu haben.
Ähnlich nebulöses im Buch fortwährend, etwa die Aussage, der Krieg um Kuwait 1990 hätte auch noch andere Gründe gehabt, von denen wir nie erfahren sollten. Sollten?
Es gibt zahlreiche andere Beispiele für van Rossums masslose Arroganz und teilweise gefährliche Propaganda, die er verankert haben möchte. Etwa, wenn er der Redaktion unterstellt, um die Globalisierungskreuzritter zu buhlen oder Bundespräsident Köhler die Verantwortung für einen Krieg mit Hunderttausenden von Toten zuspricht. Zu wahrer Höchstform läuft er auf, als er die Kommentare aus den »Tagesthemen« (Gesinnungsandachten; intellektuellen Amok; diskursives Delirium) vom 13.–20. März 2007 versucht, auseinanderzunehmen. Natürlich ist da einiges holprig und ein bisschen nonchalant formuliert – aber es ist ein Kommentar und dem »Medienkritiker« scheint vollkommen abhanden gekommen zu sein, was ein »Kommentar« eigentlich ist.
Van Rossums Fehler: Er sieht die »Tagesschau« (bzw. »Tagesthemen«) als das, was ihn eigentlich an ihnen stört: Als ein Meinungsmonopol, welches die politische Bildung der Massen auf exklusiver Basis vornimmt. Offensichtlich undenkbar für ihn, dass sich die Zuschauer auch noch über andere Medien informieren. Er verlangt von einer Nachrichtensendung zum Beispiel, die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg zu thematisieren. Das ist ungefähr so, als würde man vor Beginn eines Fussballspiels immer die Regeln aufs Neue erklären.
Aber die Vermittlung derartigen Grundlagenwissens ist gar nicht die Aufgabe einer Sendung wie der »Tagesschau«; vielleicht noch am ehesten – in Grenzen – der »Tagesthemen«. Muss man nicht von einem gewissen Kenntnisstand der Zuschauer ausgehen (auch wenn dieser kontrovers besetzt sein kann)? Wobei ja sehr wohl Stimmen zu Wort kommen, die den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ablehnen.
Freilich – und daran besteht gar kein Zweifel: Es liegt ja viel im Argen, wenn man sich diese Sendungen anschaut. Und gelegentlich trifft van Rossum ja sehr wohl wunde Punkte, etwa wenn er über die textgestützten Bilder schreibt, die letztlich einen absoluten Nullwert an Information haben. Oder wenn er die Hohlfloskeln von politischen Statements anprangert, die vielleicht besser ignoriert würden. Aber all diese guten, richtigen und interessanten Punkten werden vernebelt durch das wilde Geschimpfe, welches sich irgendwann fast nur noch in Unflätigkeiten ergeht.
Verpasste Möglichkeiten
Dabei wäre es doch lohnend, genau hinzuschauen. Denn was beispielsweise die vielgepriesene Neutralität angeht: So ganz neutral ist man dort (bei »ARD-aktuell«) schon längst nicht mehr.
Schleichend haben sich Formulierungen und Attributsetzungen durchgesetzt, die schon implizit eine Wertung enthalten. Neutrale Formulierungen zu finden ist teilweise sehr schwierig. Wann spricht man von »Regierung« und wann von »Regime«, wann von »Militärregierung« und wann von »Junta«? Was bedeutet es, eine politische Bewegung (in Serbien oder der Ukraine) als »europafreundlich« zu bezeichnen – eine andere als »ultra-nationalistisch« oder »an Russland orientiert«? Ist die Landnahme des Westjordanlands eine »Besatzung« oder eine »Besiedlung«?
Masslos beispielsweise die Arroganz der Redaktion, das Land Myanmar konsequent mit dem alten Namen »Birma« zu versehen, nur weil (angeblich) Teile der Opposition die Namensänderung vor einigen Jahren ablehnten. Im »Tagesschau«-Blog wurde dies anlässlich der Unruhen in Myanmar im September vergangenen Jahres von Dr. Kai Gniffke thematisiert und viele Kommentatoren, auch Experten, sprachen sich für »Myanmar« aus. Das ficht aber Gniffke et. al. nicht an. Das Ergebnis ist, dass die ARD Myanmar unter Ignorieren aller völkerrechtlichen Usancen weiter Birma nennt (nur die »FAZ« treibt es in Deutschland noch toller: sie verwendet die englische Bezeichnung »Burma«).
Zweifellos, die Menschen in Myanmar haben grössere Probleme als dieses. Aber exemplarisch kann hier gezeigt werden, wie der sublime Anspruch auf nachrichtliche Neutralität eben genau nicht eingehalten wird und beispielsweise durch eine feine, fast unmerkliche, aber durchaus relevante Wortwahl eine Manipulation der öffentlichen Meinung vorgenommen wird. Dies braucht noch nicht einmal vorsätzlich stattzufinden, sondern im vorauseilenden Bemühen, die »Verständlichkeit« der Nachrichtensendung zu erhöhen. Weil der unregelmässige Nachrichtenkonsument mit »Hamas« oder der politischen Ausrichtung des aktuellen ukrainischen Präsidenten Jutschtschenko nicht viel anzufangen weiss, werden »Kennzeichen« eingeführt, die eine leichtere Rubrizierung ermöglichen.
All dies könnte van Rossum dem Leser an die Hand geben, der es so (gegebenenfalls sogar lustvoll) selber übernehmen könnte, die ihm vorgelegten Informationen beispielsweise auf Beiworte oder voreilige und pauschale Attribute zu befragen. Der Leser würde zur kritischen Rezeption angeleitet, ohne beispielsweise durch andere Deutungen von politischen Vorgängen bereits wieder manipuliert zu werden. Das wäre echte Aufklärung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gewesen, hätte allerdings eine ungleich filigranere und dezidierte Ausarbeitung zur Folge gehabt; eine Kärrnerarbeit im Vergleich zu dem, was mit »Die Tagesshow« vorliegt.
Stattdessen erfolgt mitten im Buch die fast resignierende Feststellung: Das strukturelle Problem aller Nachrichtensendungen besteht darin, dass es keine Objektivität und auch keine Wahrheit geben kann. Wenn er das Ernst meint, ist jede Beschäftigung mit dem Gedanken einer Aufdeckung oder gar Verbesserung von Handlungsmaximen für journalistische Arbeit a priori sinnlos. Eine Bankrotterklärung für die eigene Zunft.
Die teilweise euphorische Aufnahme dieses echauffiert-fahrigen Pamphlets zeigt leider, wie es mit präziser und sachkundiger Medienkritik in Deutschland bestellt sein muss. Bleibt nur noch der Hinweis auf Joris Luyendijks ungleich besonnenere und vor allem fakten- und kenntnisreichere Kritik an den Nachrichtenverhältnissen, und zwar aus der Sicht eines ehemaligen Auslandskorrespondenten: Wie im echten Leben.
Die kursiv gedruckten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Naja, ich glaube, dieses Buch werde ich nicht lesen.
Die Unmöglichkeit zur Objektivität würde ich ja auch postulieren. Die findet man in Zeitungen selbst in den angeblich »seriösen« Blättern. Aber ich denke schon lange, dass die Medien die römischen Zirkusspiele ersetzen.
Eigentlich ist das schade, da ja gerade auch Korrespondenten begonnen haben, die »Politik« der Sendeanstalten bei der Berichterstattung zu kritisieren....
„Momentmal, dass kenne ich doch irgendwoher.“, dachte ich sofort beim Lesen Ihrer kritischen Besprechung. Nun habe ich das Buch nicht gelesen und vertraue da ganz Ihrem Urteil, aber das auch bei mir immer verstärkter auftretende Unbehagen beim allabendliche Tagesschau-Ritual hat von Rossum mit seinem Deutschlandfunk –Feature „Tagesshow – die Welt in 15 Minuten“ vom 10.7.07, für mich jedenfalls, recht nachvollziehbar unterfüttert. Hier das Manuskript als pdf.datei
Van Rossum bedient Vorurteile
Ich kenne das Buch auch nicht, jedoch Van Rossums »Tagesshow«- Feature im »Deutschlandfunk«. Ein wichtiger Punkt, den Rossum an der »Tagesschau« kritisiert, ist etwas, was ich als »Gesinnungsjournalismus« bezeichnen würde. Das Bizarre ist aber, dass Van Rossum genau diesen Gesinnungsjournalismus – wenn auch mit einer anderen, »richtigen«, Gesinnung – zu fordern scheint.
Schon Rossums Feature erscheint mir zu überzogen und zu effekthascherisch für eine kritische Analyse der »Tagesschau« zu sein – ich könnte mir das allerdings gut als Einstieg in eine vertiefte Diskussion über die Fragwürdigkeiten des »Tagesschau«-Journalismus vorstellen.
Zu den zu recht kritisierten Punkten gehört m. E. das schon oft kritisiert (und seinerzeit besonders treffend von »Rudis Tageshow« parodierte) »Ausgewogenheits-Spiel«, bei dem jede beteiligte Seite mal kurz was in Mikro sagen darf, durch das sich der Akzent bei politischen Themen vom Sachproblem weg hin zum »Parteienstreit« verschiebt. Die vom Gesetzgeber geforderte politische »Ausgewogenheit« als Formelkompromiss. Ein weiteres echtes Problem ist das der »Hidden Agenda«, des »Gesinnungsjournalismus«, der fehlenden Neutralität – im Falle der »Tagesschau« ist es eine ausgesprochen »staatstragende« Agenda.
Daneben gibt es aber schon im Feature blanke Polemik – etwa, wenn eine Meldung über eine Marssonde mit einer fehlenden Meldung über »wieder so etwa 30.000 Kinder irgendwo auf unserem Planeten ihr kleines Leben in einer stinkenden Pfütze aushauchten« kontrastiert.
(Ich versuche, die von Gregor gestellte Frage zu beantworten: »Aber welchen Effekt erhofft sich der Autor davon?« – In diesem Falle vermutlich soll es polemischer Hieb gegen die Themenauswahl der Tagesschau, in der die Meldung über die Raumsonde nur als »Ablenkung« von der »wirklich wichtigen« Themen erscheint. Allerdings wirkt die Polemik an dieser Stelle m. E. billig, denn es gibt zwischen der Raumsonde und den verhungernden oder an Krankheiten sterbenden Kindern und der Raumsonde keinerlei sachliche, geschweige denn ursächliche Verbindung – sie bewegt sich gefährlich Nahe am Biertischspruch »Raketen zum Mars schicken, das könn ´se, aber was gegen (beliebigen Missstand einsetzen) tun, das könn’ se nicht«.
Ich habe nach Gregors Kritik den Eindruck gewonnen, dass Van Rossum sein überspitztes, aber als Diskussionsbeitrag brauchbaren Hörfunkfeature mit viel gefälliger Polemik zum Buchumfang aufgebläht hat – ohne allzu viel sachlich begründete Kritik über die schon im Feature genannte hinaus beizufügen.
Die teilweise euphorische Aufnahme erkläre ich mir damit, dass Van Rossum sehr oft das Weltbild des »heimlichen Mainstream« bedient – z. B. ist in Deutschland (wenn man den Demoskopen glauben darf) die Ansicht, dass Israel der Staat sei, von dem die größte Gefahr für den Frieden ausginge, sehr weit verbreitet. Noch weiter verbreitet ist die Vorstellung, »man« dürfe in Israel nicht öffentlich kritisieren, weil sonst sofort »die Antisemitismuskeule« zuschlagen würde. Also wird jemand, der Israel unter die »größten Menschenrechtsverletzer« einreiht, breite Zustimmung und Lob für seinen (angeblichen) Mut einheimsen.
Ganz allgemein habe ich den Eindruck, dass der Erfolg Van Rossums darauf beruht, dass er verbreitete Vorurteile und Klischees bedient, und zwar jene, die die ebenfalls oft an Klischees und Vorurteile appelierenden »Leitmedien« nicht abdecken.
„Ich habe nach Gregors Kritik den Eindruck gewonnen, dass Van Rossum sein überspitztes, aber als Diskussionsbeitrag brauchbaren Hörfunkfeature mit viel gefälliger Polemik zum Buchumfang aufgebläht hat – ohne allzu viel sachlich begründete Kritik über die schon im Feature genannte hinaus beizufügen.“
Genau dies ist auch mein Eindruck, wie gesagt, ohne das Buch gelesen zu haben. Allerdings halte ich eine gewisse Polemik angesichts der im Feature dargestellten fortwährenden Selbstbeweihräucherung des Tagesschau-Chefredakteurs Kai Gniffke für zumindest verständlich.
Ich kenne wiederum das
Hörfunk-Feature nicht (werde es mir nach meinem Urlaub zu Gemüte führen). Ansonsten: Völlig d’accord.
Die Diskussion um die Präsentation von Nachrichtensendungen (nicht nur der »Tagesschau«) ist notwendig – aber nicht in diesem Stil. Sie bedient nur »Biertischparolen«. Genau so ist es.
#1 – steppenhund
»Die« Medien ersetzen die römischen Zirkusspiele? Ich glaube das nur bedingt. Und natürlich gibt es »Objektivität« – mindestens die Annäherung daran. Anders müsste man alles aufgeben, oder?
Und natürlich gibt es »Objektivität« – mindestens die Annäherung daran. Anders müsste man alles aufgeben, oder?
Ist das nicht ein bisschen naiv? Ist Objektivität nicht nur ein Hilfskonstrukt, um uns in die Umwelt einzubetten, die schon interkulturell nicht haltbar ist? Ich würde die Medien (und damit die öffentliche Meinung) nicht als Ersatz für die Zirkusspiele ansehen, sondern eher als das sinnstiftende Fundament, dass früher die Kirche darstellte.
@Peter
Naiv? Vielleicht. Aber als Axiom muss Objektivität mindestens in der Theorie angestrebt werden. Das ist in etwa so wie mit der Wahrheit. Wollte man Wahrheit per se für unmöglich halten, so wäre jeder Satz überflüssig, da er nie ohne den Anspruch der Wahrheit möglich wäre.
Indem Objektivität als Möglichkeit angenommen wird, erscheinen Verstösse erst relevant. Davon gibt es genug; auch und gerade bei den (halbwegs) seriösen Medien.
Der Vergleich mit dem sinnstiftenden Fundament gefällt mir sehr gut. Dahingehend wäre die »Tagesschau« (oder »heute«) eine Art Predigt, auf die sich dann so etwas wie Meinungsbildung aufbauen kann.
Die Nachrichten sollten sich nur ihrer Apodiktik, die sie von Predigten nicht weit entfernt rückt, entledigen, um nicht mit permanent mit These und Antithese auch gleich das Urteil mitzuliefern. Und das geschieht implizit häufiger als man denkt.
@Gregor & Peter
Karl Popper hat ein Konzept von Objektivität in der Wissenschaft vertreten, das sich problemlos verallgemeinern lässt: Nicht ein Wissenschaftler ist objektiv, oder muss objektiv sein (er kann also ruhig seine Thesen vertreten), sondern erst Kritik und Argument aller Wissenschaftler gewährleisten etwas wie Objektivität. Ähnliches kann man sich auch bezüglich der medialen Objektivität vorstellen: Verschiedene Sichtweisen, Recherchen und Problemlösungsvorschläge ergeben gemeinsam etwas wie Objektivität (klar ist natürlich, dass man sich dem Ideal nur annähern kann).
@Metepsilonema
Verschiedene Sichtweisen bei Nachrichtensendungen – das wird im Zweifel schwierig. Zu unterscheiden ist die rein faktische Objektivität (also das, was sich empirisch nachprüfen lässt) und die Objektivität bezogen auf eine möglichst »neutrale« Darstellung von politischen, sozialen oder ökonomischen Sachverhalten.
Der Maßstab, den Sendungen wie die »Tagesschau« an sich selbst legen geht vom ersten wie selbstverständlich aus und propagiert das zweite als Ziel. Dabei ist es m. E. nicht hilfreich zu sagen, man kann gar keine Objektivität bzw. Neutralität erzeugen. Das ist in etwa so, als würde ich sagen, man wird nie ganz sauber, also brauch ich mich erst gar nicht waschen...
Ziel eines kritischen Buches über Nachrichtensendungen könnte sein, dem Zuschauer zu ermöglichen, die un-neutralen, nicht-objektiven Voraussetzungem, von denen die Nachrichten ausgehen, transparent zu machen. Damit meine ich gar nicht so hochtrabende Begriffe wie »Eurozentrismus«, der natürlich in sehr vielem, was wir über andere Kulturen sagen, mitschwingt. Viel wichtiger wäre es zu zeigen, in welchen Kleinigkeiten bereits die Parteilichkeit inkludiert ist. Dadurch wäre der Leser im Idealfall in die Lage versetzt, sehr viel kritischer das Vorgelegte zu befragen (ohne es in Bausch und Bogen zu verdammen) und würde fast automatisch die von Dir angesprochenen verschiedenen Sichtweisen in Anspruch nehmen.
@Gregor
Um das Implizite explizit zu machen: Ich dachte eher an Printmedien als ich meinen Kommentar schrieb, und vergaß, dass Buch wie Artikel ja auf Nachrichtensendungen fokussieren: Da sieht die Sache tatsächlich anders aus, denn Texte besitzen nicht die Flüchtigkeit, die Bildern und Sequenzen innewohnt; auch ihre Eindrücklichkeit ist zumindest anders gewichtet.
Ich glaube aber, dass sich sowohl die faktische, wie nicht-faktische Objektivität in Wort und Schrift äußern, und sie insofern diese letzte Ebene, die den Prozess der Objektivierung erst ermöglicht, gemeinsam haben. Man darf auch nicht vergessen, dass Faktizität oft theorieabhängig ist, und die empirische Prüfung niemals zweifelsfrei ist bzw. auch der Interpretation bedarf (bedürfen kann).
@Metepsilonema
Ähnliches kann man sich auch bezüglich der medialen Objektivität vorstellen: Verschiedene Sichtweisen, Recherchen und Problemlösungsvorschläge ergeben gemeinsam etwas wie Objektivität (klar ist natürlich, dass man sich dem Ideal nur annähern kann).
Wenn national oder international kontroverse Themen auftreten, erlaube ich mir öfter den Spass, einen Rundgang (dank Internet) auf dem Jahrmarkt der Nachrichten und Leitartikel. Eine wie ich finde sehr lehrreiche Vorstellung.
Ein sehr prägnantes Stimmungsbild gab es z.B. am Tag der Festnahme von Klaus Zumwinkel. Während sich die meisten Zeitungen in der Attitüde der Empörung suhlten, rief die linke Presse fast schon zum Systemwechsel, der vor der Tür steht (stehen muss, stehen müsste), auf. Die konservativen Zeitungen zeigten ein nicht geschlossenes Bild, da selbst dort einige ihrem Unmut Luft machten, aber auch zu relativieren versuchten.
Das Handelsblatt hat mit der Liste 25 Maßnahmen, wenn der Ermittler vor der Tür steht allerdings den Vogel abgeschossen. Dort wurden so hilfreiche Tipps gegeben, wie der Hinweis angeforderte Dokumente immer selbst zu holen, damit nicht ein Zufallsfund für weiteres Unbehagen sorgt. Kein Wort über eine Verletzung der Ethik oder auch nur die Strafbarkeit der Handlungen.
Ich sehe keine Möglichkeit dieses Spektrum auch nur annähernd unter einen Hut zu bekommen, geschweige denn auf ein axiomatisches System runter zubrechen. Das sind für mich Parallelwelten, deren Interessen nur durch Macht und nicht durch Diskurs durchzusetzen sind. Und wer die Macht hat...
@Peter
Jeder der feststellt, dass es keine Objektivität gibt, oder keine Wahrheit, braucht einen allgemein gültigen Maßstab um genau das festzustellen, und damit wird flugs wieder das etabliert, was vorhin verneint wurde. Um festzustellen, dass Berichte von Machtinteressen geleitet sind, dass die Unwahrheit gesprochen, oder wirre Meinungen geäußert werden, verrät, dass hier sehr wohl eine Idee, ein Begriff von Objektivität existiert, und zwar relativ konkret.
Ich glaube auch nicht, dass Machtinteressen u.ä. der Möglichkeit von Objektivität widersprechen, denn sie existieren unabhängig von dieser; natürlich können Interessen Wahrheit und Objektivität unterminieren, und bis zur Unkenntlichkeit entstellen, aber das verneint noch nicht die Möglichkeit einer Annäherung (mehr kann es auch nicht sein) an diese Ideale.