Wolfgang Kraushaar legt mit seinem Buch »Achtundsechzig – Eine Bilanz« eine kritische Würdigung der deutschen utopistischen Studenten- und Gesellschaftssubkultur von ungefähr 1967 an vor. In einem ausführlichen Prolog dokumentiert er zunächst die Wurzeln der studentischen Proteste Mitteleuropas in der US-amerikanischen »Beat-Generation«-Bewegung ausgehend von den Literaten Burroughs, Kerouac und Ginsberg Mitte der 50er Jahre über die »Flower-Power«- und Hippie-Ära, die dort Mitte der 60er Jahre als zunächst gesellschaftliche Protest- und sexueller Befreiungsbewegung und – pauschal betrachtet – Kapitalismusverweigerung aufkam (und bereits im Herbst 1967 versandete) bis zum politisierten Anti-Vietnam-Protest und der militanten »Black Power«-Gruppierung Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre.
Diese ersten rund 40 Seiten zeigen, dass der intellektuelle und studentische Protest, der sich Ende der 60er Jahre in Deutschland (aber auch anderen europäischen Ländern wie Frankreich und Italien) zeigte, nicht ohne Vorgeschichte war, wobei Kraushaar nicht explizit darauf eingeht, wieviel Inspiration importiert wurde. Der weitere Verlauf des Buches zeigt, dass es neben dem Vietnamkrieg-Protest, einer Neudefinition des Sexuellen (stark angelehnt an Wilhelm Reich, der zum Guru wurde) und dem später reichlich praktizierten Drogenkonsum kaum Parallelen gab. Das oft spielerische der amerikanischen Hippiebewegung beispielsweise war den zumeist bierernsten und fränkischen Akteuren, die von einer protestantisch geprägten Moralität speziell in Deutschland durchdrungen schienen, ziemlich fremd.
Wie muss man nun heute, rund vierzig Jahre nach »1968« (und dreissig Jahre nach Ende des »Deutschen Herbsts« – der in diesem Buch nur eine untergeordnete Rolle spielt) die Gruppierungen und Veränderungen bewerten? Kraushaar macht am Anfang drei Deutungsmuster aus:
Erstens: Von wertkonservativen Politikern wird behauptet, die fundamentale Kritik an Staat und Institutionen, Familie und Rollenmustern sei ein gefährlicher Irrweg gewesen und habe die Gesellschaft in ihrem Zusammenhang bedroht. […]
Zweitens: Von sozialdemokratischen Zeithistorikern wird erklärt, die Achtundsechziger seinen nichts anderes als unfreiwillige Katalysatoren einer umfassenden Modernisierung gewesen. Die meisten…Veränderungen wären Ausdruck eines tiefgreifenden, ohnehin unabwendbaren, von ihren Akteuren jedoch nicht intendierten Strukturwandels gewesen.
Drittens: Von Seiten einiger der ehemals wichtigsten Akteure wird nun behauptet, dass es ihnen vor vierzig Jahren in Wahrheit um eine nationale Revolution gegangen sei, die sich gegen die USA und die Sowjetunion und damit gegen die westlichen wie östlichen Besatzungsmächte gerichtet habe.
Eine »nationale« Revolution?
Kraushaar geht am Ende des Buches auf dieses dritte Deutungsmuster ein. Tatsächlich gibt es mit Horst Mahler, Bernd Rabehl und Reinhold Oberlercher aber auch Rainer Langhans, Manfred Lauermann und Peter Furth prominente Achtundsechziger, die heute rechtsnationale bis faschistoide Gesinnungen (bis hin zu Mahlers Rechtshegelianertum) hegen und dabei versuchen, die damaligen sozialrevolutionären Aktionen umzudeuten.
So war zwar Rudi Dutschke ein Verfechter der nationalen Einheit Deutschlands (also das, was gemeinhin Wiedervereinigung genannt wurde) als Kernziel deutscher Politik, aber eine Umdeutung Dutschkes und/oder von »Achtundsechzig« generell in »Nationalrevolutionäre« käme einer Geschichtsklitterung gleich. Dutschkes deutschlandpolitische Reflexionen, die er anfangs aus Angst vor negativen Sanktionen durch die Weggefährten unter einem Pseudonym veröffentlichte, sah Westberlin als »Transmissionsriemen« der Einheit. Die Wiedervereinigung, die Dutschke vorschwebte, sollte allerdings weder unter kapitalistischen noch unter nationalen Vorzeichen stattfinden – einzig und allein die Arbeiterbewegung in West- und Ostdeutschland [konnte] der Akteur in dieser Mission sein.
Ausführlich legt Kraushaar am Anfang seine Bedenken hinsichtlich der Subsummierung »Achtundsechziger« dar. Er spricht von eigentlich untauglichen Bezeichnungen, macht soziale Konstruktionen aus, fächert Karl Mannheims Generationentheorien kurz auf und spricht vom Begriff »Achtundsechziger« als nachträgliche Überzeichnung und Marotte, die sich zwar besser für rhetorische Gefechte eigne, aber das Phänomen allzu stark simplifiziere. Zu Recht betont Kraushaar die Heterogenität der (sogenannten) Achtundsechziger und weist darauf hin, dass es bestenfalls 10.000 Aktivisten gab (und die nur in den Zeiten der höchsten Mobilisierung). Diese Einwände benennend, bleibt er schliesslich – ein wenig überraschend, aber sicherlich auch, um die Lesbarkeit des Buches zu gewährleisten – beim Begriff der »Achtundsechziger«.
Durch den Dschungel von Erklärungsmustern kommt der Autor zum Ergebnis, dass es sich bei der Achtundsechzigerbewegung um eine im Kern antiautoritäre Revolte handelte. Diese Deutung, am Anfang des Buches vorgebracht, wird am Ende resümierend bestätigt – die eine oder andere Facette aus der geschichtlichen Entwicklung noch hinzufügend.
Kraushaar zeichnet die Grundkonzeptionen der Achtundsechziger nach (nebst knapper historischer Darstellung), zeigt ihre Entwicklungen und Transformationen und rubriziert ihre Bedeutung für die Bundesrepublik (bis heute). Er ist, wie er schreibt, bemüht, die Kakophonien…und Dissonanzen des Erinnerns, seien sie verklärender oder auch verteufelnd, auszublenden, was auch gut gelingt.
Gradualisten vs. Maximalisten
Als die beiden Grundtypen der Achtundsechzigerbewegung setzt Kraushaar die Gradualisten und die Maximalisten der Gesellschaftsveränderung. Die Gradualisten entschieden sich in ihrer überwiegenden Mehrzahl, in eine der beiden als reformorientiert geltenden Parteien…einzutreten und sich dort zu artikulieren, während die Maximalisten zwischen Ausser- und Antiparlamentarismus, einige sogar einem veritablen Antiinstitutionalismus changierten. Arg verkürzend könnte man behaupten, dass im Laufe der Zeit die meisten Maximalisten zu Gradualisten mutierten. Anhand von Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer werden diese Metamorphosen wunderbar vorgeführt. Wobei Cohn-Bendit – ähnlich dem Igel – immer schon wieder weg war, wenn (der »Hase«) Joschka müde einen weiteren Schritt Richtung Institutionalisierung machte.
Die »übriggebliebenden« Maximalisten verzettelten sich entweder in esoterisches oder in politisches Sektierertum. Es gibt sehr kluge Beschreibungen im Buch von den unterschiedlichen Weltfluchten, die schon im Winter 1968/69 einsetzten – von den K‑Gruppen-Gründungen (beispielsweise KPD/ML, KPD/AO oder dem totalitären KBW, in dem sich besonders viele Pol Pot-Anhänger fanden) bis zur Hinwendung zu Psychosekten wie Hare Krishna, Bhaghwan oder anderen skurrilen esoterischen Vereinigungen (AAO; ZEGG).
Sowohl die K‑Gruppen wie die Psychogruppen waren Zerfallsprodukte einer in ihren Hauptzielen als gescheitert angesehenen Protestbewegung…In den Politsekten kam das objektive Moment in verselbständigter Form zum Vorschein, in den Psychosekten das subjektive. Erstere zogen aus, um die alleinige revolutionäre Kraft, das Proletariat, wiederzuerwecken und auch anzuführen, Letztere begaben sich auf die Suche nach dem befreiten Subjekt, das es…freizulegen galt. Beide verlangten nach Führungsfiguren, denen quasireligiöse Züge zugeschrieben wurden (am Rande thematisiert Kraushaar den christlichen Glauben Dutschkes).
Das setzte sich übrigens auch im späteren Terrorismus von RAF und RZ fort (beide nennt er terroristische Sekte[n]); exemplarisch in der Figur des Andreas Baader, wobei eine gewisse Verblüffung ob der heute eher rustikal wirkenden Ausstrahlung aufkommt. Kraushaar stellt bei Baader eine Mutation vom narzisstischen Dandy in der Anfangszeit (Baader und Ensslin als Bonny und Clyde) bis zum gescheiterten, sich selber richtenden und seinen Tod inszenierenden Desperado am Ende.
Schnell mutierte die als antiautoritäre Revolte apostrophierte Bewegung zum autoritären Antiautoritarismus – auch und gerade dort, wo man sich betont »antiautoritär« gab, wie beispielsweise in den »Kinderläden« und den (anfangs maoistisch angelegten) »Kommunen«, jenen Spielwiesen, die die Familie als »repressiv-neurotischen Zwangsverband« sahen, die Rolle der Eltern auslöschen und die »ödipale Grundstruktur in der bürgerlichen Kleinfamilie« aushebeln wollten, in dem u. a. Kinder bereits frei ihre Sexualität »ausleben« sollten.
Natürlich wettert Kraushaar in seinem Buch nicht im Abrechnungsfuror eines Götz Aly. Dennoch macht es Vergnügen, seine wohl dosierten (und manchmal gut versteckten) Spitzen zu lesen. Der Eifer der Rotgardisten der chinesischen Kulturevolution diente einigen Achtundsechzigern wie beispielsweise Peter Schneider, damals ein glühender Verfechter, der im Buch ausführlich zitiert wird (allerdings auch seine spätere Kehre Erwähnung findet), als Vorbild. Hinzu kamen die Projektionen in die »Befreiungsbewegungen« Vietcong und PLO/Fatah und das, was Richard Löwenthal seinerzeit als »romantische[n] Rückfall« bezeichnete: eine politische, rückwärts gewandte, die »alten Affekte einer antiliberalen und antiwestlichen Romantik« bedienende Gegenmoderne.
Ökologie statt Sozialismus
Spätestens Ende der 70er Jahre kommt es zu einem Paradigmenwechsel von der jahrelang betriebene[n] Kritik der politischen Ökonomie hin zu einer radikalen und zur insgeheimen Apokalyptik neigenden Ökologie- und Technikkritik – die Grünen wurden »geboren«. War Westberlin das Zentrum der APO und Achtundsechziger gewesen, kamen etliche Protagonisten der »Grünen«-Bewegung aus der »Sponti«-Szene in und um Frankfurt, ohne die es keine Grünen, die sich zunächst primär als »Anti-Atomkraft«-Bewegung formierten, gegeben hätte.
Zunächst als primär ausserparlamentarische Opposition mit maximalistischen Positionen (den sogenannten »Fundis«), aber später dann übernahmen die Gradualisten – »Realos« – das Ruder und vollzogen (endgültig) den Marsch durch die Institutionen.
Kraushaars griffige Formulierungen sind bei diesem eher als Basiswerk konzipierten Buch naturgemäss nicht immer befriedigend. Bei genauerem Hinsehen werden natürlich sehr wohl Parallelen zwischen den Achtundsechzigern und den Grünen deutlich – und nicht nur dahingehend, weil sich einige ehemalige K‑Gruppen-Mitglieder dort eingerichtet hatten. So war die Kapitalismuskritik beispielsweise bei den »Fundis« ein Kernelement (neben der stark antiamerikanischen Ausrichtung). Und dass Technikkritik ein grundlegendes neues Phänomen in modernen Gesellschaften war, kann auch nicht behauptet werden. Sie war nur in der Wirtschaftswunderzeit verschüttet gewesen. Erst später – als die »Realos« bei den Grünen dominierten – wurde der Kapitalismus nicht mehr grundlegend in Zweifel gezogen.
In zwei wesentlichen Punkten änderten die Grünen allerdings das Bewusstsein: Zum einen wurde der Sozialismus als gesellschaftliche Leitvorstellung fast vollständig aufgegeben und durch eine neue, ökologische Sicht ersetzt. Zum anderen wurde der Antiparlamentarismus der (Post-)Achtundsechziger aufgegeben. Dieser Punkt war ein radikaler Bruch der ehemaligen »Ideale«, die sich seinerzeit nicht nur in den drei grossen »Antis« (Antikapitalismus, Antifaschismus und Antiimperialismus) äusserten, sondern auch einem virulenten Antiparlamentarismus das Wort redete, der schnell bei einigen Protagonisten in Autoritarismus umschlug. Warum Kraushaar dann von der Reintergration der Post-Achtundsechziger-Strömungen in das parlamentarische System durch die Parteigründung der Grünen spricht, ist mindestens verwirrend. Für manche war es – nach eher exotisch anmutenden Ausflügen in K‑Gruppen-Sekten – der erste Versuch einer zielgerichteten Institutionalisierung.
Politische Erfolge?
Kraushaar streift Gewaltbereitschaft und Terrorismus nur am Rande, macht ein bisschen nebulös zu Dutschke am Horizont den bewaffneten Aufstand aus, beschreibt die latente Absage an das Vermittelnde, eine tiefsitzende Kompromissfeindlichkeit einiger Protagonisten und analysiert exemplarisch an Ulrike Meinhof, einer anerkannten und engagierten linksintellektuellen Journalistin, den Übergang zur Gewalt. »Vom Protest zum Widerstand« – so betitelte Meinhof in der Zeitschrift »konkret« im Mai 1968 ihre Kehre. Es war – ein Irrweg.
Obwohl Kraushaar zeigt, dass die Gewaltbereitschaft am Anfang durchaus vorhanden war (beispielsweise die Sympathie gegen für den Anschlag auf das Springer-Hochhaus), möchte er verhindern, dass Achtundsechzig und RAF (und RZ) synonym betrachtet werden bzw. eine Entwicklung von der APO zur RAF als Fatum konstruiert wird. Sein Fazit fällt daher, mindestens auf politischer Ebene, weniger negativ als ursprünglich angenommen aus. Drei wesentliche Erfolge werden herausgearbeitet:
- Zum einen waren die Achtundsechziger erfolgreich in der Bewusstseinsmachung und öffentlichen Mobilisierung der Problematik der von der Grossen Koalition beabsichtigten Notstandsgesetze. Kraushaar attestiert –im Gegensatz zu Aly‑, dass man durch den ausserparlamentarischen Druck das Schlimmste verhindert habe und die Regierung zu Kompromissen getrieben habe. Kraushaar schreibt allerdings selber, dass nach der parlamentarischen Verabschiedung der Notstandsgesetze die Gruppen, die sich hiermit intensiv auseinandersetzten, schnell zersplitterten. Das wäre dann schon am 30. Mai 1968 gewesen.
- Desweiteren sieht er einen Erfolg der Studentenrebellion in der Bekämpfung der 1968 virulent auftretenden NPD, die seinerzeit nicht nur in vielen Landtagen eingezogen war, sondern auch drohte, bei der Bundestagswahl 1969 über 5% zu kommen. Detailliert behandelt er den Vorgang beim NPD-Wahlkampf 1969 in Kassel, bei dem ein Leibwächter, der in Diensten der NPD stand, zwei Demonstranten angeschossen hatte. Dies hatte zur Folge, dass die NPD medial in ein schlechtes Licht kam und habe – so Kraushaars These – zum Scheitern bei der Bundestagswahl 1969 beigetragen (es gab immerhin 4,3% der Stimmen). Warum allerdings potentielle Anhänger der NPD ausgerechnet durch den Studentenprotest von einer Stimmabgabe zurückgeschreckt sein sollen, leuchtet nicht ganz ein.
- Unbestritten bleibt: Hätte es die NPD 1969 in den Bundestag geschafft, wäre die sozial-liberale Koalition nicht möglich gewesen. Aber Kraushaar sieht auch ein Verdienst der Achtundsechziger darin, dass sie das politische Klima für die SPD/FDP-Reformregierung mitgeschaffen habe. Dieser Schluss erscheint reichlich kühn. Denn zum einen führt Kraushaar an, dass der grosskoalitionäre Aussenminister Willy Brandt, der dann 1969 Bundeskanzler wurde, kein einziges Wort zum Vietnamkrieg der Amerikaner gesagt hatte und zum anderen steht dagegen, dass die Achtundsechziger in ihrer grossen Mehrheit Antiparlamentarier waren. Das Parlament galt vielen als »Quatschbude« und Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien. In diesem ablehnenden Klima gedeiht kein parlamentarischer Aufbruch.
Hinzu kommt: Eine SPD/FDP-Regierung war vor der Wahl gar nicht zu prognostizieren. Die reine Addition der Sitze hätte eine SPD/FDP-Koalition schon seit 1961 ermöglicht. Jahrzehntelang galt die FDP aber als fester Koalitionspartner der CDU. Der Bruch der Regierungskoalition mit der CDU 1966 und die Hinwendung der CDU zur SPD setzte einen Reformprozess in der FDP in Gang, der Männer wie Walter Scheel und Werner Maihofer in die Führungsgremien der Partei kommen liess. Dieser Schwenk Scheels war in der FDP, die lange eine eher rechtsnationale Partei war, nicht unumstritten und kostete ihr bei nachfolgenden Landtagswahlen zunächst erhebliche Stimmen.
Die Achtundsechziger ignorierten Brandt
Die Möglichkeiten politischer Reformen durch die sozial-liberale Koalition wurden von den Achtundsechzigern nicht erkannt, geschweige denn wahrgenommen. Als Willy Brandt »mehr Demokratie wagen« wollte und mit der Ostpolitik Weltfriedenspolitik versuchte, kümmerte man sich lieber um die eigenen Orgasmus-Probleme, interpretierte die »Mao-Bibel«, betrieb die »Destruierung der Privatsphäre«, feierte den neuen »Sozialismus« des Massenmörders Pol Pot oder hegte klammheimliche Freude mit Mördern. Und statt die Schmutzkampagnen der »Bild«-Zeitung und anderer Springer-Medien gegen Brandt und seine Politik kritisch zu kommentieren, pflegte man lieber die wundgewordene Revoluzzerseele (während sich andere auf den Weg machten).
Bereits vorher verweist Kraushaar auf den latenten Antisemitismus grosser Teile der Achtundsechziger (er spricht vom Selbstbetrug der Linken, was die Immunität in Bezug auf Antisemitismus angeht), der in der Heroisierung der palästinensischen Befreiungsbewegungen mündete und zeitweilig zu gewalttätigen Aktionen gegen jüdische Einrichtungen führte. (Kraushaar hat den gescheiterten Bombenanschlag im jüdischen Gemeindehaus zu Berlin-Charlottenburg vom 9. November 1969 [sic!] detailliert in einem gesonderten Buch untersucht und recherchiert. Rädelsführerisch tätig war hier mit Peter Urban allerdings ein V‑Mann des Westberliner Amtes für Verfassungsschutz.)
Seine Deutung, dass die Kinder aus dem Land der Täter nach dem israelischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 nunmehr befreit [schienen] von der ihnen offenbar lästig gewordenen Verpflichtung, wegen der von ihren Eltern begangenen, mitgetragenen oder zumindest geduldeten Verbrechen eine demütigende Haltung einzunehmen, kommt der Deutung Alys zur Thematik sehr nahe. Beide sehen im Antizionismus den Antisemitismus lauern »wie das Gewitter in der Wolke« (Jean Améry); eine These, die irgendwann einmal genauer diskutiert werden müsste.
Milde Bilanz
In Kaushaars Bewertung im soziokulturellen Bereich der Achtundsechziger fliessen deren illiberalen Züge durchaus ein. Der Autor konzidiert, das eine Bewertung problematischer ausfällt, als er dies früher bereits einmal gemacht habe. Die These von der »Aufarbeitung« und Bewusstmachung der nationalsozialistischen Verbrechen durch die Bewegung will er nicht ganz aufgeben – sie fällt allerdings ein wenig pflichtschuldig aus und genauer betrachtet war sie [die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit] eine Errungenschaft der Prä-Achtundsechziger, wobei Kraushaar hier ein wenig kryptisch vor allem jene SDS-Mitglieder meint, die vor dem eigentlichen Ausbruch der Revolte bereit waren, sich der unaufgearbeiteten Vergangenheit zu stellen.... Namen fehlen – nur ein Flugblatt von 1966 wird zitiert. Die institutionelle Aufarbeitung, die schon eingesetzt hatte, berücksichtigt er ebenfalls nicht.
Zwar bezeichnet Kraushaar die Achtundsechzigerbewegung – Joschka Fischer zitierend – eine »Freiheitsrevolte«. Und in dem sie den Liberalismus als heuchlerisch denunzierte und libertär-anarchistische Formen ausprägte, scheint dies nicht ganz falsch. Jedoch war die Verwandlung der antiautoritären Strömungen der Achtundsechzigerbewegung in ein Bündel verschiedener Emanzipationsbewegungen von einer grundsätzlichen Ambivalenz gezeichnet, die ihre subjektverändernden Errungenschaften mitunter wieder verspielte.
Und weiter dann: Die Befreiung von Herrschaft entgrenzte sich zunehmend und büsste ihr Wozu ein. Da es den emanzipatorischen Zielsetzungen an einem gesellschaftspolitischen Adressaten mangelte, verwandelten sie sich mehr und mehr in reine Wunschvorstellungen und glitten so in intrapsychische Bedürfnisvalenzen ab, die sektenartigen Psychogruppen…grossen Zulauf bescherten. Der Glaube, »das bürgerliche Subjekt revolutionieren zu können«, ohne politisch Einfluss nehmen und zugleich die Gesellschaft verändern zu müssen, führte zu einer Degeneration des emanzipatorischen Aufbruchs.
Als fast einzige Ausnahme macht Kraushaar die Frauenemanzipationsbewegung aus, die dem uneingestandenen Patriarchalismus der männlichen Achtundsechziger, welche die sexuelle Befreiung nur als Ausweitung ihrer promiskuitiven Kampfzone definieren wollten, schnell überwanden und sich erfolgreich gegen alle Strömungen in der Gesellschaft institutionell verankerte.
Der vieldiskutierten Fama des Verlustes der Sekundärtugenden durch die Achtundsechziger wird eine Veränderung bzw. Ersetzung der soziokulturellen Werte von Pflicht, Treue, Ehre, Gehorsam, Vaterlandsliebe hin zu Gleichheit, Kollektivität, Mitbestimmung oder soziale Gerechtigkeit gegenüber gestellt.
»Achtundsechzig – eine Bilanz« kann als solide Grundlage für eine eingehende und detaillierte Beschäftigung mit der Materie empfohlen werden, ist aber auch wegen seiner kleinen Exkurse sehr lesenswert. Wunderbar beispielsweise die kleine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses, jener »Urzelle des Geisteslebens«, die Kraushaar von der Romantik bis zur Neuzeit mit einer gehörigen Portion Ironie skizziert. Und in der Mitte gibt es dann noch vierzig Abbildungen, die bei einigen Zeitgenossen vielleicht dann doch wehmütige Erinnerungen aufkommen lassen.
Alle kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Zwei Fragen
Was beinhalten denn die vierzig Abbildungen in der Mitte des Buches?
Aus welchem Grund kommen gerade jetzt so gehäuft Reflexionen über die 68er Zeit? Weil die damals Beteiligten jetzt in ihre Rentnerzeit kommen oder weil irgend etwas in der heutigen Gesellschaft es erzwingt?
Antworten
Was beinhalten denn die vierzig Abbildungen in der Mitte des Buches?
Bilder von Protagonisten (aus den USA, dann aus Deutschland), aus Filmen (»Easy Rider«),natürlich das Ohnesorg-Bild, wie er von einer Studentin umsorgt wird (dann allerdings später stirbt), Dutschke, ein verzweiflnder Habermas, ein paar Plakate der damaligen Zeit, Demobilder und – das letzte Bild – ein »Spiegel«-Titelbild von Baader.
Aus welchem Grund kommen gerade jetzt so gehäuft Reflexionen über die 68er Zeit?
Hier gibt es m. E. zwei Gründe. Erstens ist das 40 Jahre her (obwohl die 68er eigentlich 67er heissen müssten – siehe Ohnesorg). Zum anderen – das spielt die fast noch wichtigere Rolle – weil allgemein vermutet wird, die 68er treten »politisch« ab. Im allgemeinen gilt das Ende von rot-grün als diese Markierung (obwohl bspw. Schröder nie ein 68er war).
Damit hängt zusammen, dass einige jetzt »abrechnen« (ein bisschen ist bei Aly der Fall, während Kraushaar sich seit Jahren damit beschäftigt). Ich hatte eigentlich noch vor, Kai Diekmann zu lesen, aber das tue ich mir dann doch nicht an. Erst einmal bin ich für mich durch.
Wieder einmal befeuert Ihre Rezension meine Lust auf ein Buch und da unsere Kinder nächste Woche hier ankommen, werden sie’s wohl mitbringen. Gefühlsmäßig glaube ich, Ihrer Besprechung folgend, dass Kraushaars Beschreibung der 68er meinem persönlichen Erleben jener Zeit mehr entspricht, als die z.B. Darstellung Götz Alys, dessen Buch Sie ja ebenfalls vorgestellt haben. Es ist sicher falsch, aber ich lese halt lieber, womit ich mich persönlich identifizieren kann. Ich bin gespannt.
Aly hat eine ganz andere Intention als Kraushaar, der auf dem Gebiet der neueren deutschen Zeitgeschichte eine Kapazität ist. Alys Buch ist mehr oder weniger eine Abrechnung (auch mit sich selbst).
Schön, dass Ihnen meine Besprechung Leselust bereitet. Ihr Urteil nach der Lektüre würde mich sehr interessieren.
Fazit? Immer noch zu viele unterschiedlich schillernde Facetten...
Habe mir gerade – zufällig auf Phoenix gefunden – die “Aschaffenbruger Gespräche” mit dem ZDF-Guido (Knopp) angetan.
Nach meinem Gefühl ist es so, dass sich in den Einschätzungen der üblichen Verdächtigen da eigentlich nichts verändert hat, aber auch noch nicht so viel mehr deutlicher geworden ist, als mit den Jahren eh.
Ich ertappte mich dabei, sogar Schönbohm zustimmen zu können in seiner Irritation, dass ’68 doch auch der Prager Sozialismus niedergewalzt wurde, und dass das niemand von den den anderen (Ditfurth, Aly, Baring, Ströbele) in seiner Eingangs-Selbsteinschätzung auch nur gestreift hatte. (Ich war damals zu jung, Schüler, aber erinnere mich, dass mich DAS mehr empört hatte, als etwa die Knüppeleien der Berliner Polizei usw.)
Ich kann nicht auf alles eingehen, was mir beim Zuhören so in den Kopf kam, vielleicht ist mir auch – überraschend vieles, aber das wieder nur nach dem Gefühl – zu viel noch präsent.
Ich finde Aly hat doch einiges für sich, auch wenn seine Generalthese überspitzend daher kommt... während die “gefestigteren” Positionen teilweise etwas klischeehaft und unüberzeugender daherkommen: Die Geschichten über die Geschichte hat sich da teils zu sehr verfestigt.
Mein Fazit wäre (ohne Kraushaar, außer in einigen seiner Aufsätze näher zu kennen), dass es ein Fazit noch nicht gibt. Das alles ist viel zu nah und hat den Diskurs bis heute zu lebendig durchdrungen, als dass man es abschließend würdigen könnte. (Gut, will ja auch keiner... aber die Stimmen kommen doch sehr gewichtig daher.)
Diese Diskussionsrunde
hatte ich auch wenige Minuten an, aber als Frau Ditfurth (die ich schon im publizistischen Nirwana wähnte – bis sie dann ihre Geschichtsklitterungen zu Ulrike Meinhof aufnahm) dann loslegte, war meine Schmerzgrenze erreicht. Übrigens zu früh. Im Vergleich zur Diskussion auf 3sat gestern um 21 Uhr (u. a. Aly, Theweleit, Franziska Augstein [die 1968 vier Jahre alt war und ausdrücklich sagte, »keine Erinnerung« an ’68 zu haben – was sie nicht daran hinderte, Aly zu verreissen]) war das wohl noch Gold. Theweleit, der im besten Revoluzzer-Jargon Aly versuchte, niederzureden (die Moderatorin war thematisch UND journalistisch völlig überfordert), kann man sich heute noch als SDS-Funktionär vorstellen. Widerlich.
Vermutlich haben Sie recht: Eine abschliessende Bewertung oder Analyse (und sei sie nur »halb-abschliessend«) ist kaum möglich und wohl auch nicht gewollt. Dies vor allem, weil die Protagonisten von damals noch zu sehr Meinungsführer sind – und befangen in ihrer Sicht, die das Urteil heute noch trübt.
Ergänzung
Hier eine bessere, journalistische Zusammenfassung dieses Gesprächs, darin doch ein paar »Positionen« deutlicher werden (auch wenn ich sie nicht wirklich erheblich finde).
Wichtiger sind dann vielleicht die atmosphärischen Anmerkungen? Auch die haben mich eigentlich nicht sehr beeindruckt... liegt vielleicht doch an mir.
Ich hatte mich schon gewundert, weil Aly gestern so ruhig wirkte – ich hatte ihn eher als ein bisschen cholerisch in Erinnerung. Das Brüllen in der anderen Diskussionssendung hatte ich nicht mitbekommen...
ein ueberbleibsel von 68
A brief note on one of the left-overs of 68, the Verlag der Autoren, whom I once represented in this country, the USA, for a few years. I happened to be around Suhrkamp at the time that Carl Heinz Braun who led the Theater Verlag, and some other editors, made themselves independent with a socialistically and democratically constituted outfit that is still around. I tried something along the same lines with Urizen Books, but of the principles of that outfit I was the only one who really wanted that; and the great majority of the authors also didn’t really care; they just wanted to get published. Unseld was rather clever: he could have made the break-out and founding much more difficult – because the authors, after all, had contracts with Suhrkamp, signed by him personally. Instead he offered VDA 100,000 DM to help them off the ground. I forgot whether that was accepted. so if there is a moral here, it is that once the financial heart ticks, then a certain amount of democratic socialistic non-authoritarianism is quite possible. Handke, too, joined VDA initially but then left and joined in the hip to Unseld who would help make him the # 1 that he wanted to be. this did not go over very big with Karl Heinz Braun, Handke’s own explanation to me that »die sind Fascisten« sounded to me like an admission of guilt for being a faithless bastard; on the other hand, we cannot really know anything definitive until we know the the financial arrangements between Suhrkamp and Handke and how these may have forced him , i.e. advances on films, etc. Handke’s portrayal of Unseld in LINKHAENDIGE FRAU & NIEMANDSBUCH is quite devastating!
http://www.verlagderautoren.de/verlag/index.html