Joris Luyendijk ging mit 27 Jahren als Korrespondent in den Nahen Osten; zunächst für eine Radiostation und die niederländische Zeitung »De Volkskrant«, später dann für »NRC Handelsblad«. Er war auch kurze Zeit für das niederländische Fernsehen tätig. Vermutlich – so spekuliert er selber – hatte er den Zuschlag für die Stelle hauptsächlich wegen seines Arabistik-Studiums erhalten; Bewerbern mit primär journalistischem Hintergrund war er wohl deshalb vorgezogen worden. Luyendijk hat über diese Zeit (sie dauerte von 1998 bis 2003) ein Buch mit dem doppeldeutigen Titel »Wie im echten Leben« geschrieben, welches in den Niederlanden – trotz weniger »offizieller« Besprechungen – für Furore sorgte und mit 120.000 verkauften Exemplaren ein Bestseller wurde (was man dem Buch naturgemäss nicht vorwerfen kann).
Bericht, Beichte und Betrachtung
Wie im echten Leben (an Herrn Staun und die Damen und Herren des Qualitätsblatts »FASZ«: Das Buch heisst [immer noch] nicht »Wie im richtigen Leben«!) ist eine Mischung zwischen Bericht über die Art und Weise, wie Korrespondenten gemeinhin »funktionieren« (sollen), welchen Gesetzen sie unterworfen sind und wie sie zu arbeiten haben, einer Beichte nebst Selbstbezichtigung einige Male »versagt« zu haben (im Sinne des selbst auferlegten Wahrhaftigkeitsanspruches) und – gelegentlich ein wenig altkluger, dennoch belebender – medienphilosophischer Betrachtungen über das Arbeiten in Diktaturen und Berichten über Diktaturen von Diktaturen aus.
Sympathisch, dass Luyendijk nicht mit dem so typischen Enthüllungsspathos daherkommt und seine Dekonstruktion (auf Kosten anderer) zelebriert, sondern eher besonnen schildert. Die Selbstbezichtigungen geraten nicht zu kokett; man nimmt sie ihm ab. Es zeigt sich sein Bonus; als Seiteneinsteiger (und –aussteiger) hat er in den fünf Jahren eben nicht vollständig die Diktionen und Wahrnehmungen seiner (ehemaligen) Kollegen übernommen. Dass er sich dabei in den Augen vieler sogenannter Nachrichtenprofis eine gehörige Portion Naivität bewahrt hat, spricht dabei nicht gegen, sondern für ihn.
»Hello everybody«
Aber gemach. Diejenigen, die kritisieren, Luyendijk bringe uns nichts Neues unterschätzen entweder die Aura der Authentizität, die von Korrespondenten »vor Ort« noch immer ausgeht, oder sind einfach nur zynisch. Seine Schilderungen kratzen erheblich am Denkmal des objektiven Berichterstatters.
Schon am Anfang wird deutlich, wie ambivalent die sogenannte Wahrheit sein kann. Luyendijk besucht ein Flüchtlingslager im Sudan. Viel Ahnung hat er von der Materie nicht; er liest sich rasch ein bisschen ein. Dann sieht er Hütte um Hütte und dieses Elend der Flüchtlinge auf kleinstem Raum mit Ungeziefer und schmutzigem Wasser und lässt diese Bilder still auf sich einwirken. Er will schon im Geiste in den üblichen Mitleidston verfallen, als er plötzlich eine Hütte mit einem »Hello everybody« betritt. Und da geschah es. Auf einmal leuchteten bei allen die Augen. Die Mädchen kicherten, ein alter Mann setzte sich aufrecht hin und Kinder stupsten ihre Mutter an: Mama, da! Ein kleiner Knirps von ein, zwei Jahren machte sich von seiner Schwester los, klammerte sich mit beiden Händchen an mein Knie und purzelte hin. Die Mütter mit ihren abgemagerten kleinen Kindern brachen in Lachen aus und winkten mir zu.
Dabei geht es nicht darum, einer verkitschten Barackenromantik das Wort zu reden. Luyendijk illustriert hier, dass ganz verschiedene Geschichten über ein und dieselbe Situation möglich sind. Man kann diese Flüchtlinge als darbende, elende Gestalten schildern – oder aber als Menschen, die nie die Hoffnung aufgeben und trotz dieser katastrophalen Lage ihre Freundlichkeit nicht gänzlich verloren haben. Beides stimmt, aber meist wird nur eines berichtet.
Agenturbrei mit »Ortszeile« – die traurige Realität
Das Buch ist voll von solchen Erlebnissen, die im Laufe der Zeit immer mehr Selbstzweifel nähren. Luyendijk erlebt in seinen ersten Monaten (er hat sein Büro in Kairo), wie die Journalistik, die man von ihm erwartet, auszusehen hat: Agenturmeldungen sichten (diese Agenturreporter, Tippgeber und Fotografen bleiben im Buch allerdings ziemlich konturlos), ein bisschen aussieben, gegebenenfalls die allen Korrespondenten vor Ort mehr oder weniger wichtigen »talking heads« (lokale Wissenschaftler, Organisationsleiter, UN-Diplomaten) und »donor darlings« (z. B. westliche Menschenrechtler [nie vergessen, von wem sie bezahlt werden!] oder andere Leute, die in fliessendem Englisch eine Bilderbuchgeschichte mit all den richtigen Stichworten aufsagen) zum Thema befragen, einigen – und fertig ist der tagesaktuelle Bericht. Luyendijk beschreibt auch, dass er oft Artikel verfasste, die man genauso gut hätte mit Recherchen von Amsterdam aus schreiben können. Aber die Ortszeile zählt. Sie suggeriert Kompetenz und Wahrheit.
Früh erkennt Luyendijk, dass er nicht loszog um irgendeiner Sache auf den Grund zu gehen. Das hatten andere längst erledigt. Ich zog nur los, um mich als Moderator an einen Originalschauplatz hinzustellen und die Informationen aufzusagen. Die Redaktion in der Heimat überblickt gar nicht die Welt – so begreift er. Sie überblicken die Presseagenturen, und aus deren Meldungen traf der Redaktionsleiter eine Auswahl. Oder sagen wir: Er traf eine Auswahl aus der Auswahl der Nachrichtenbüros. Also nicht der Korrespondent entscheidet darüber, ob ein Beitrag zu [einem] Thema gemacht wird, sondern die Redaktion. Als Kriterium gilt u. a. dabei, ob etwas »breaking news«, »urgent news« oder nur »update« ist. Der Mann vor Ort kann zwar etwas vorschlagen, aber die Redaktion entscheidet, und ihr Blickwinkel ist massgeblich von der Themenauswahl durch die Presseagenturen und CNN geprägt. Und die Redaktion ist einem hohen Zeit- und Veröffentlichungsdruck unterworfen.
In den besten Momenten des Buches schaut man förmlich bei der fortschreitenden Desillusionierung des jugendlichen Reporters zu. Schnell ist der Neue in diese Maschinerie eingebettet – ohne eigentlich genau zu sagen, warum. Sein Nasrallah-Interview beispielsweise, in der Heimat als eine Art »Durchbruch« gefeiert, ist nichts anderes als ein Monolog, der aus Versatzstücken besteht, die schon –zigmal anderswo publiziert wurden; Nasrallah lässt gar keine Fragen zu bzw. beantwortet sie erst gar nicht.
Der entscheidende Punkt ist: Der Korrespondent, der also mehr Moderator ist, kann die Nachrichten, auf der seine Schilderungen beruhen, gar nicht kontrollieren und recherchieren. Er hat weder Zeit noch Gelegenheit dazu – schliesslich, und das wird ein wesentlicher Punkt in Luyendijks Argumentation – sind die Staaten der arabischen Welt allesamt Diktaturen. Selbst mit seinen arabischen Sprachkenntnissen (die ihm im Alltag aufgrund der Vielzahl der bestehenden Dialekte nicht unbedingt immer weiterhelfen – es gibt hübsche Beispiele dieser »Dialektverwirrung«) kommt Luyendijk nicht immer an die Menschen heran. Grundsätze des Qualitätsjournalismus (check und double-check, Meinung und Gegenmeinung) sind nicht einzuhalten; repräsentative Umfragen oder andere Recherchemöglichkeiten unmöglich. Was er höchstens bieten kann, ist immer nur der kleine Ausschnitt von ein paar wenigen Strassengesprächen (die Bilanz in Form von etlichen regionalen Witzen lockern das Buch manchmal notwendig auf). Dies verleitet zu voreiligen, induktiven Verallgemeinerungen.
Später erlebt Luyendijk, wie kontraproduktiv in diesem Zusammenhang das Fernsehen ist – die Menschen sagen erst recht nichts kritisches in die Kamera (die, die es tun, sind dessen dann schon wieder verdächtig als Alibis für den Geheimdienst zu arbeiten), sondern warten, bis die Geräte abgeschaltet sind. Ein Grund mehr, den selbstrecherchierten Hintergrundberichten in Printmedien einen grösseren Stellenwert einzuräumen. Oft genug jedoch werden solche Berichte in den hinteren Teil der Zeitung »verschoben« (ähnliches natürlich vom Radio und Fernsehen); sie gelten meist als zu kompliziert.
Der marokkanische Korrespondent in Den Haag
Um die Situation zu verdeutlichen, verwendet Luyendijk einen klugen Kniff. Er dreht das Setting einfach einmal um:
Nehmen wir an, ein marokkanischer Korrespondent, der weder Niederländisch noch eine andere europäische Sprache spricht, wird in Den Haag stationiert. Er zieht in eine riesige Villa in einem Haager oder Amsterdamer Edelvorort, verbringt dort seine Freizeit, lernt Leute kennen – die alle Arabisch sprechen. Seine Kinder gehen auf eine arabische Schule und seine Frau gesellt sich zum arabischen Frauenkreis. Was für ein Bild von den Niederlanden soll so ein Korrespondent bekommen? Talkshows, Wahldebatten, Reden der Königin, der Premierministers oder des Trainers der Nationalelf, das Gespräch auf der Strasse, die Tagesschau, Nachrichtenmagazine, Seifenopern, Witze und Kabarett – versteht er alle nicht. Printmedien muss er über Übersetzungsdienste verfolgen, ohne zu wissen, was die alles auslassen. Er kann nicht einfach mit irgendeinem Niederländer sprechen, sondern nur mit arabischen Ausländern, niederländischen Arabern, arabischen Niederländern, mit Arabern verheirateten Niederländern und natürlich Kollegen aus der arabischen Welt. Und dabei sind die Niederlande ein freies Land, wo die Interviewpartner nicht befürchten müssen, dass der Dolmetscher nebenher für den Geheimdienst jobbt.
Hinzu kommt noch, um im oben genannten Bild zu bleiben, das natürlich der Niederländer weder typisch noch repräsentativ für den Nord-/Mittel-/Südeuropäer ist. Will sagen – auch das beklagt Luyendijk natürlich – das die allzu vereinfachende Bezeichnung »Araber« oder »Muslim« bereits den Keim für Missverständnisse, grobe Pauschalisierungen und problematische Subsummierungen in sich trägt. Für all diese Differenzierungen und Nuancierungen bleibt im Alltagsgeschäft des Korrespondenten kein Platz. Die Redaktionen wollen griffige Schlagzeilen.
»Tee trinken«- Von der Unmöglichkeit journalistischen Arbeitens
Eng verbunden mit den politischen Diktaturen ist die überall grassierende Korruption. Neben seinen einschlägigen Erlebnissen in Ländern wie Ägypten oder Syrien ist hier der traurige »Höhepunkt« der Irak Saddam Husseins (»Wir möchten Tee trinken« war das Stichwort). Luyendijk beschreibt deutlich, wie in diesen Gesellschaften die Korruption schon fast zur Konvention gehört (nebenbei erscheint dabei der Gedanke »sauberer Geschäfte« als Wunschtraum). Die von anderen Rezensenten häufig versuchten Nivellierungen (dahingehend, dass es auch in westeuropäischen Demokratien Korruption gibt), sind in Anbetracht der beschriebenen Praktiken lächerlich. Diese beiden Punkte – Diktatur und Korruption – lassen Luyendijk auf die These kommen, dass journalistische Arbeit in der arabischen Welt schlicht nicht möglich sei, wenn man bestimmte Qualitätskriterien als Minimalstandards setzt. Diese These ist interessant, wird jedoch leider im weiteren Verlauf nicht ausreichend unterfüttert; vor allem, was hieraus für eine Konsequenz zu ziehen wäre.
Immer häufiger bekommt Luyendijk den Eindruck, Inszenierungen aufzusitzen. Dies verstärkt sich noch, als er seinen Sitz von Kairo nach Beirut (und später Ost-Jerusalem) verlegt, und vermehrt vom Heiligen Land berichtet. Eine Frau betrauert ihr Kind; eine Familie ihren Sohn – die »Horde« der Reporter und Fotografen ist immer genau dann da. Manchmal wird die Trauer »verschoben« oder »wiederholt«, wenn es nicht alle mitbekommen haben.
Und dann Erlebnisse wie solche bei einem Spaziergang durch Ramallah: Ich war schon öfter dort gewesen, aber immer nur, wenn es zu »Zusammenstössen zwischen palästinensischen Demonstranten und der israelischen Armee« gekommen war. Jetzt war die Gegend menschenleer. Zu der Zeit durfte das israelische Militär nicht in Ramallah patrouillieren und das City Inn-Hotel stand an der Stadtgrenze. Ich weiss nicht mehr, wer zuerst da war, aber plötzlich tauchten sie aus allen Himmelsrichtungen auf: israelische Jeeps, die extra aus der Kaserne angerückt kamen, palästinensische Jugendliche, die den weiten Weg aus der Schule hierhergelaufen waren. Dann kreuzten einige Zuschauer, ein Krankenwagen, ein Falafel-Verkäufer und ein Kamerateam auf. Da fingen die Jugendlichen auf einmal an, Steine zu werfen. Die Israelis feuerten in die Luft. Die Jugendlichen wagten sich näher heran, und die Israelis feuerten wieder in die Luft. Die Jugendlichen wagten sich noch näher heran, da schossen die Israelis einen von ihnen nieder: heulendes Martinshorn, skandierende Jugendliche, laufende Kameras. Und Luyendijk fragt sich, ob die Kameras da waren, weil etwas passierte oder ob etwas passierte, weil die Kameras da waren.
Szenen dieser Art gibt es reichlich im Buch. Bestimmte Situationen werden szenisch »aufbereitet«. Das populärste Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Sturz der Saddam-Statue in Bagdad durch US-Truppen im April 2003. Luyendijk vergleicht am Fernsehen einfach die beiden Perspektiven: Auf CNN wird durch das Heranzoomen der Eindruck einer feiernden Masse vermittelt. Auf Al-Dschasira herrscht ruhiges Treiben; vielleicht 200 Menschen sind auf dem riesigen Platz; dort zeigt man das neue Symbol der Besatzung: die amerikanische Flagge, die kurzzeitig auf die Statue gelegt wurde (der »Spiegel« nahm es als Titelbild).
Eine Nachricht, so stellt Luyendijk fest, ist nur eine Nachricht, wenn die Angelegenheit in Bewegung ist. Das macht es so schwer, so etwas wie Besatzung beispielsweise emotional zu vermitteln. Aber Bild geht über Ton. Ergo: Die Besatzung war nie eine Nachricht, aber jeder einzelne Anschlag.
Die Macht der Worte
Und wie so oft beginnt das Dilemma bereits in der Wortwahl. Es gibt, so die (kontrovers diskutierbare) These, keine neutralen Wörter. Waren es nun die »besetzten«, die »umstrittenen«, oder die »befreiten« Gebiete, oder doch Westjordanland oder Judäa und Samaria oder die Palästinensergebiete? Lagen dort jüdische Dörfer, jüdische Siedlungen oder illegale jüdische Siedlungen? Sollte ich von Juden, Zionisten oder Israelis sprechen? Nicht alle Zionisten sind jüdisch, nicht alle Juden sind israelisch und nicht alle Israelis sind jüdisch. Waren es Araber, Palästinenser oder Muslime? Endlos könnte man diese Kette fortsetzen. Der Wunsch, sich so neutral wie möglich zu äussern, gipfelt bei Luyendijk zum wenig zufriedenstellenden Ausdruck vom »Heiligen Land« für Israel, Palästina, Syrien und den Libanon. Und bereits am Anfang treibt es ihn dahingehend um, warum man einfach nicht in Zukunft von den Zeitungen »Das Leben«, »Der Mittlere Osten« und »Die Pyramiden« redet[en], statt von »Al-Hayat«, »Sharq Al-Awsat« und »Al-Ahram«? Und nicht von den arabischen Fernsehstationen Al-Dschasira, Al-Manara und Al-Mustaqbal, sondern von Die Insel, Der Leuchtturm und Die Zukunft? Vielleicht würde sogar die Angst ein wenig schwinden, wenn wir von »Hingabe«, der »Partei Gottes« und »Der Basis« sprechen würden, statt von Hamas, Hisbollah und Al-Qaida.
Nur Sophistereien? Träume eines Naiven, der einfach mit der rauen Wirklichkeit nicht klar kommt? Ich glaube nicht, dass das so ist. Luyendijk war insgesamt fünf Jahre in der Region und versuchte, sich vom Korrespondentensprech so lange wie möglich autark zu halten. Warum 2003 das Engagement beendet wurde, bleibt unklar; der Satz, er habe die Kündigung bereits in der Tasche gehabt, als die amerikanische Invasion des Irak 2003 losging, ist doppeldeutig. Ausdrücklich dementiert Luyendijk, dass es zu Verwerfungen zwischen seinem Arbeitgeber und ihm gekommen sei. Mehrfach aber schreibt er in seinem Buch vom Unbehagen.
Gutgeölte PR
Immer wieder und durchaus mit einer gewissen Bewunderung beschreibt Luyendijk, wie die gutgeölte israelische PR-Maschine (er vermeidet das Wort Propaganda explizit) funktioniert und notfalls Sachverhalte so darstellt, dass sie in die regierungsamtliche Argumentation passen und mundgerecht aufbereitet werden. Die »Betreuung« der Journalisten und Korrespondenten vor Ort ist vorbildlich; ausführliche Dokumentationen; Bildmappen; eloquentes Personal, welches freundlich Auskunft gibt; tolle »Arrangements« zu bestimmten Ortsterminen, usw. Im Vergleich hierzu erweisen sich die Propagandainstrumente der Ägypter, Syrer, Libanesen oder Hisbollah als geradezu stümperhaft
An zahlreichen Beispielen belegt er, wie die israelische PR inzwischen in der allgemeinen Berichterstattung kanonisiert ist – die Zahlen der zweiten Intifada beispielsweise oder die Fama, Barak hätte in Camp David 95% der »umstrittenen Gebiete« an die Palästinenser zurückgeben wollen. Ein Vorstoss der »Arabischen Liga« zur Lösung des Konfliktes wurde beispielsweise in der Presse kaum und nur marginal vermeldet.
Das stärkste Bild in seinem Buch ist das vom Sportreporter, der über einen 8:1 Sieg einer Fussballmannschaft zu berichten hat.
Als Journalist kann ich entscheiden: Wir zeigen die Tore, das war’s. Hätten die Verlierer eben besser spielen sollen.
Aber was, wenn sich herausstellt, dass der Platz abschüssig ist, ein Linienrichter mit der Siegermannschaft verwandt ist und manche Fouls nicht gesehen wurden, weil die Sieger den Schiedsrichter besser austricksen konnten? Was, wenn der Coach der Verlierermannschaft gegen den Willen vieler Fans auf der Trainerbank sitzt oder gar mithilfe des Gegners installiert wurde? Arafat jedenfalls hatte sich von Israel und dem Westen zum »Alleinvertreter der palästinensischen Volkes« küren lassen, auf Kosten demokratisch gesinnter Anführer der ersten Intifada. Europa, die USA und Israel hatten ihm jahrelang geholfen, seinen »Sicherheitsapparat« (allein das Wort!) aufzubauen, mit dem er alle anderen Trainer ins Abseits stellen konnte.
Musste ein Korrespondent nicht über dem reinen Spielergebnis stehen und zeigen, warum diese Mannschaft so schwächelt, und wie sie spielen könnte, wenn andere Spieler aufgestellt würden? Ein Journalist, der lediglich serviert, was ihm aufs Tablett gelegt wird, ergreift im Grunde die Seite der Partei, die den Nachrichtenfluss am besten zu manipulieren versteht.
Diktaturen sind im Kern schwach
Die Frage, warum die PR der Israelis so hervorragend und die der Palästinenser so miserabel ist, hat mehrere Gründe. Zum einen bedient man sich professioneller Unterstützung und kann grosse finanzielle Mittel aufbringen.
Entscheidend aber: Die verfehlte Medienstrategie war eine direkte Folge der autoritären Organisation der Palästinensischen Autonomiebehörde. Und: Für Arafat bestand die erste und einzige Priorität darin, nicht gestürzt zu werden.. Daher gibt es beispielsweise keine friedlichen Massendemonstrationen gegen die israelische Besatzung – sie könnten in Proteste gegen die eigene Führung umschlagen. Entsprechend regierungstreue Nomenklatura wurde von der politischen Führung begünstigt. Nicht Leistung oder Qualität zählen also, sondern blinde Loyalität. Am Beispiel der eloquenten und klugen palästinensischen Politikerin und Literaturwissenschaftlerin Hanan Ashrawi, die irgendwann als »zu gefährlich« befunden wurde, weil sie im Westen als eine gewisse Gegenkraft zu Arafat empfunden werden konnte und auf eine unbedeutendere Position »verschoben« wurde, illustriert Luyendijk seine These sehr schön.
Pluralistische Staatssysteme erweisen sich also dahingehend als überlegen, weil ihre primäre Ausrichtung nicht im Konservieren der Macht besteht, sondern in der Entwicklung einer bestimmten Politik für eine bestimmte, überschaubare Zeit. Der scheinbare Vorteil in bilateralen (Friedens-)Verhandlungen, dass eine Diktatur durch die Person des Diktators eine eindeutige Verhandlungsführung »verheisst«, also eine Art Berechenbarkeit, erweist sich in Wirklichkeit als Achillesverse für die Position der Diktatur. Die Stimme des Diktators ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr korrigierbar. Wenn er von einer Position abweicht, so droht sofort der Gesichtsverlust. Demokratische Regierungen können in Verhandlungen viel besser mit dem Hinweis auf entsprechende innenpolitische Rücksichten lavieren und dies aktiv einsetzen.
Diese These klingt gut, läuft aber so ins Leere. Denn der Diktator vermag ebenfalls – wenn auch in begrenztem Mass – auf noch »radikalere« Strömungen hinweisen, die, sollte man ihn zu sehr zur Kompromissbereitschaft zwingen, ihn »wegputschen« würden. Das übersieht Luyendijk – wenigstens, was die kurzfristige Argumentation angeht.
Es ist richtig, dass westliche Demokratien insbesondere im Nahen Osten (aber auch sonst) bevorzugt mit Diktatoren verhandeln und diese stützen, falls sie ihnen »wohlgesonnen« sind. Ein starker Mann lässt sich leichter kontrollieren und unter Druck setzen als ein demokratisch gewählter Regierungschef. Und Luyendijk hat natürlich Recht, dass das Primat der Aufrechterhaltung der Macht grosse Ressourcen bindet und auf Dauer sehr aufwendig ist. Ein Diktator lässt – s. o. – intelligente Köpfe kaum zum Zuge kommen, da er sie als Rivalen fürchtet und muss sich Loyalität immer mehr erkaufen. Hinzu kommt der in Diktaturen häufige »Deckeleffekt«, d. h. ethnische, religiöse oder soziale Minderheiten werden brutal unterdrückt und dies erzeugt geradezu dauerhaften Widerstand und Terrorismus; ein Phänomen, welches zwar in Demokratien durchaus auch auftritt, aber hier durch offene Formen behandelt werden kann.
Vermutlich ist aber die These, dass Demokratien Diktaturen auf Dauer überlegen sind (und zwar nicht nur ökonomisch und/oder militärisch), richtig. Sie weist weit über die hier verhandelte Thematik hinaus und wäre eine separate Erörterung wert.
Radikal andere Art von Journalismus
Luyendijks glaubt, dass im israelisch-palästinensischen Konflikt (bereits bei dem Wort »Konflikt« könnte man ja bereits wieder mit der Kritik beginnen) die »Sache« der Palästinenser medial schlecht bis vollkommen verzerrt berichtet wird. Israel sei es in den letzten Jahrzehnten geradezu perfekt gelungen, seine Sicht der Dinge mehr oder weniger als Tatsachen darzustellen. Die Kriege von 1956, 1967 und 1982, von Israel begonnen, werden heutzutage fast einhellig als Präventivschläge betrachtet; die jüdischen Siedlungen als »normal« betrachtet, die besetzten Gebiete im Südlibanon waren eine »Sicherheitszone«, in der die israelische Verteidigungsarmee »Präsenz« zeigte. Die Armee greift nicht an, sondern »kommt zum Einsatz« oder »greift ein«. »Sicherheitskräfte« führen »Operationen« durch, bei denen »Elemente« »ausgeschaltet« werden. Mordanschläge sind »präventive Militäraktionen«, zivile Opfer ein »Versehen«. Israel habe sich mit Hinweis auf den Judenhass vergangener Zeiten überzeugend als »Underdog« dargestellt, als bedrohtes, schutzbedürftiges Volk.
Den Vorwurf der unterschwelligen Instrumentalisierung des Holocaust entlehnt er von Teilen der israelischen Friedensbewegung – was natürlich in entsprechenden Kreisen trotzdem zur Folge hat, ihn als Antisemiten zu diffamieren. Aber auch mit der palästinensischen Regierung geht er hart ins Gericht. Gegen den Vorwurf, Israel gebärde sich wie die »Nazis« bezieht er in einem Kommentar heftig Stellung: Also schrieb ich, dass die Nazis in einem Monat mehr Juden ermordet haben, als Israel in einem halben Jahrhundert Palästinenser getötet hat, dass israelische Regierungen nie versucht haben, die Palästinenser auszurotten… Und ein für allemal schreibt er Arabern ins Stammbuch: Israel verstiess gegen die Regeln, aber die arabischen Dikaturen hatten nicht einmal welche.
Warum er dann allerdings noch das Schlagwort von der amerikanischen »Israel-Lobby« verwendet und die speziellen Verbindungen der USA zu Israel ein bisschen verschwörerisch aufbereitet, ist nicht ganz klar. Es wäre schlichtweg nicht notwendig gewesen. Seine Analyse ist auch so treffend genug, obwohl er im zweiten Teil, was die Besatzung und deren Auswirkungen angeht, reichlich auf Erzählungen von Palästinensern rekurriert, obwohl er an anderem Ort im Buch von der Problematik solcher oft fiktiver, tradierter Geschichten hinweist.
Seine Schilderungen über die schamlose PR-Maschine der Amerikaner im Jahre 2003 vor und während der Irak-Invasion wirkt ein wenig angeklebt. Die Rolle von Agenturen wie »Hill & Knowlton« und »The Rendon Group«, die in der Region seit Jahrzehnten für die unterschiedlichsten Auftraggeber tätig sind und u. a. die kuwaitische Propaganda 1990/91 organisierte und auch während der Jugoslawienkriege für die bosnische Seite tätig war, kommt klar zu kurz; weniger wäre hier mehr gewesen.
Manchmal ist das Buch ein bisschen unpräzise, was der Sache natürlich im Einzelfall abträglich ist. Denn gerade der Medienkritiker muss noch genauer sein. Am Ende vermerkt Luyendijk noch, dass vieles im Buch aus seinem Gedächtnis rekapituliert sei – ein kleiner Hinweis? Und wenn am Schluss vom Journalisten mit Fleisch, Blut und Vorurteilen die Rede ist, so kann (oder muss?) man das sicherlich auch als ein bisschen Selbstkritik sehen.
Luyendijks Plädoyer für eine radikal andere Art von Journalismus ist emphatisch. Er knüpft wieder an das Bild vom Fussballspiel an:
Die Medien sollten sich weder auf den Punktestand 8:1 beschränken, noch auf die Erklärung, wie eine Mannschaft so hoch hat verlieren können. Die Medien sollten lieber erklären, wie es dazu gekommen ist, dass die 22 Spieler in zwei Teams gespalten sind, und was man dagegen tun kann. […] Die Bilder, die die Medien von der Wirklichkeit verbreiten, spielen IN dieser Wirklichkeit wieder eine Rolle, und Ängste können als »self-fulfilling prophecy« wirken, aber Hoffnung und Vertrauen auch. Was würde passieren, wenn Nachrichtensendungen nicht länger auf Angstszenarien setzten, sondern auf das Alltägliche, das Hoffnung und Vertrauen schenkte? Und wie viele Menschen würden sich noch in die Luft sprengen, wenn sie wüssten, dass die Welt nie von ihrem Opfer erfahren würde, weil sich die Medien nicht darum scherten?
Noch einmal mag man das naiv nennen. Aber es entwertet die implizite Kritik an den Medien keinesfalls. Diese ist – das merkt man an der Besprechung dieses Buches in Deutschland – nicht besonders erwünscht. Medien berichten ungern über Kritik an sich selbst. Und wenn, dann werden die Haare in der Suppe gesucht (und die eigene Perücke im Topf verschwiegen). An Sonntagen zeichnet man zwar manch medienkritischen Journalisten aus, aber das dient nur der Besänftigung des schlechten Gewissens. Ansonsten zieht die Karawane weiter.
Alle kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Danke – für Ihre ausführliche Rezension.
Was mir angenehm auffällt: diese Rezension haben sie in allgemein verständlicheren Worten verfasst, als vergleichbare vorige. Ich kann dem Inhalt besser folgen, als beispielsweise Ihren politischen Analysen.
Es gibt keine neutralen Wörter. – Diesen Standpunkt teile ich mit dem Autor, auch wenn ich das ehrliche Bemühen von Journalisten und Journalistinnen um eine neutrale (objektive) Berichterstattung sehe. Besonders deutlich wird die jeweilige Färbung, wenn ich mir die Berichterstattung von einem Ereignis im österreichischen Fernsehen und im deutschen ansehe und dazu noch die Ausführungen in den Printmedien verfolge.
Heinz von Foerster formulierte es so: »Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne einen Beobachter gemacht werden.Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung.«
Ich habe mir vorgenommen, in diesem Jahr mehr »ZIB2« zu schauen, die österreichische Nachrichtensendung, die auf 3sat übertragen wird. Die Unterschiede sind manchmal frappierend.
Wenn sie die Möglichkeit dazu haben, so würde ich Ihnen sogar empfehlen, das Radioprogramm Ö1 zu hören.
Oh, das Buch ist schon zwei Jahre alt. Schade, dass ich es erst jetzt kennen lerne, bin durch Ihren Kommentar bei Stefan Niggemeier hergelockt worden. Zum Thema der Auslandskorrespondenten und dem Diktat der Redaktionen empfehle ich auch die Studie von Lutz Mükke. Ich glaube, dass sich dieser Konflikt grundsätzlich schädlich auf den »Qualitätsjournalismus« auswirkt. Bin weit davon entfernt, die Fachkompetenz (ich weiß, die ist nicht bei allen Korrespondenten gegeben) von Korrespondenten und Redakteuren über alles zu stellen, doch ist es andererseits mit der so genannten Weisheit der Redaktion nicht so weit her – und einen wirklichen Austausch von Argumenten gibt es doch nur in seltenen Fällen. Was Luyendijk da offenbar beschreibt, lässt sich auf alle anderen Fachbereiche des Journalismus herunterbrechen. Im Zweifel ist es doch meist so: Hierarchie siegt über Fachkompetenz; Geschmack/Vorlieben (der Hierarchen) über den Versuch, so wahrhaftig zu berichten, wie es einem möglich ist; Klüngelei über den Versuch, Öffentlichkeit herzustellen; oder anders formuliert: krankhafte Orientierung an »Nachrichten»agenturen und »Leitmedien« (Bild, SpOn) über den Versuch, Journalismus zu machen.
Ich weiß, das ist extrem verkürzt. Mit Beispielen, um diese Thesen zu belegen, lassen sich Bücher füllen, wie man sieht.
Ich glaube auch, dass die von Ihnen so treffend genannten »Fliehkräfte« in allen Bereichen des Journalismus wirken. Und ich finde das auch gar nicht schlimm, so lange man als Medienkonsument sich dieser Einschränkungen vergegenwärtigt. Die Korrespondenten machen sicherlich in der Mehrheit eine sehr gute Arbeit, aber sie gerieren sich manchmal zu stark als die Wissenden, obwohl sie es nicht sein können (bspw. weil es zu gefährlich ist) oder sie werden als solche dargestellt. ich finde es immer lustig, wenn ein Korrespondent in Moskau eine Stellungnahme in den Nachrichten zu einem aktuellen Ereignis zu einem tausende Kilometer entfernten Ort abgeben soll.
Das es mit der Autonomie der Korrespondenten nicht so gut bestellt ist, hat man ja an der Causa Tilgner gesehen...