Irgendwo habe ich mal gelesen, Ulrich Beck schreibe manchmal sehr schnell. Einen Essay oder ein kleines Buch in wenigen Tagen – keine Problem. Hieraus resultiert dann gelegentlich auch mal der Vorwurf des Schnellen, Voreiligen; gar eines kessen Zeitgeistsurfers. Sein neuester Essay in der aktuellen Ausgabe der »ZEIT« scheint von dieser Art zu sein. »Gott-ist-gefaehrlich« schreibt der renommierte Soziologe und stupende Risikoforscher Beck dort und formuliert fünf Thesen, die dieses arg pauschale Urteil bestätigen sollen – und enttäuschend schlicht daherkommen.
Becks erste These beschäftigt sich mit der Dualität Gläubiger und Ungläubiger. Zwar postulierten religiöse Systeme die Gleichheit aller Menschen – aber im gleichen Moment, wo diese Brücke gebaut sei, zerstöre man durch die dualistische Logik zwischen Ungläubigen und Gläubigen diese Versöhnungsgeste wieder. Und Beck möchte dem Gesundheitsminister ins Stammbuch schreiben: Religion tötet. Religion darf an Jugendliche unter 18 Jahren nicht weitergegeben werden.
Ein schönes Aperçu und stimmig mit den Dawkins’ und Hitchens’ dieser Tage. Beck sagt aber leider nicht, wem dieser fesche Appell des säkularen Trendsetters gilt. Gilt er dem Staat? Soll damit gesagt werden, dass der Staat seine Aufgabe nicht mehr länger darin sehen kann, im Religionsunterricht in den Schulen diese eine Religion sozusagen als Monopol zu verordnen bzw. zu verorten? Dann hätte er Position zu der Frage eines Ethikunterrichts als Alternative zum bisherigen Religionsunterricht an den Schulen bezogen. Einem Punkt, dem tatsächlich voll zuzustimmen ist, denn auch wenn eine normative Trennung zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik nicht existiert, so wäre doch eine eher laizistische Position seiner Institutionen wünschenswert (und damit ein Anfang gemacht). Alleine, um im interkulturellen Kontext andere religiöse und ethische Systeme vorzustellen.
Oder meint er, dass das Verbot mit religiösen Systemen in Kontakt zu kommen, auch von seiten der Erziehungsberechtigten einzufordern ist? Will Beck in das private Erziehungsmonopol (Art. 6 GG) eingreifen? Wohl kaum. Und wer erklärt dann den Kindern Weihnachten oder Ostern – oder werden diese Festtage gleich mit »säkularisiert« und der kommerziellem Vermarktung endgültig preisgegeben? Und dann die Fragen von leuchtenden Kinderaugen, was man denn in diesen grossen Gebäuden da mache, in denen einige Menschen immer an bestimmten Tagen hineingehen? Wie denjenigen erklären, die im fortgeschrittenen Jugendlichenalter am Computer bereits ganze Weltreiche befehligen oder Jagdfliegerstaffeln kommandieren, dass das, was sich in diesen ominösen Häusern abspielt, noch nichts für ihre jungen, reinen Seelen sei und die Versammlung der Gläubigen in Kirchen, Moscheen oder Synagogen damit einen konspirativen Charakter bekommt? Würde nicht gerade dann sogar eine gewisse Neugier angestachelt?
Am Anfang macht sich Beck über die Drei-Tage-Christen und den Konsum der Kirchentheaterdienstleistung lustig – aber was ist mit diesen Elfmonatsatheisten eigentlich, die ihren rationalistischen Furor immer dann spazieren führen, wenn für sie gerade mal die Sonne scheint?
Auch seine zweite These hinterlässt mehr Fragen als Antworten. Sein Versuch einer Trennung zwischen »Religion« und »religiös« ist irgendwie nicht überzeugend – und im fortschreitenden Eklektizismus der Religionen, wie er ihn für Japan beschreibt, könnte man doch als positives Element die Atomisierung der Dogmengläubigkeit zu jeder einzelnen Religion erkennen. Seltsam – diese Angst vor der Vermischung der einzelnen religiösen Bräuche hat er dann sicherlich durchaus mit den jeweiligen Exegeten des »reinen Glaubens« gemein.
Mit der dritten (Glaube sticht Verstand – ist das nicht für jede Weltanschauung immanent?) und vierten These greift Beck direkt die Argumente des aktuellen »neuen Atheismus« auf. Er erkennt eine virulente Nähe zwischen der manichäischen Welt der Religionen und des Nationalismus. Die Germanisierung des Christentums während der Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere eines aggressive[n], antreibende[n] Antisemitismus protestantischer Gemeinden, erkennt Beck nicht als Pervertierung des christlichen Menschenbildes, sondern als dessen Folge. Der Theologennationalismus während des sogenannten Dritten Reiches wird als Inspirationsquelle für den Totalitarismus der Nationalsozialisten gesehen.
Das ist – mit Verlaub – in dieser Kontinuität gesehen nichts anderes als Geschichtsklitterung. Beck übernimmt hier ungelenk (und stark verkürzend) Goldhagens These vom spezifisch deutschen »eliminatorischen Antisemitismus«, aber während Goldhagen ausgesprochen scharf die katholische Kirche (und auch den Vatikan) angreift, kapriziert sich Beck auf den Protestantismus, um in einem Befreiungsschlag gleich das ganze Christentum zu denunzieren.
Beck setzt in der – berechtigten – Negation der absolutistischen Wahrheitsansprüche der monotheistischen Religionen einfach den absolutistischen Wahrheitsanspruch seines Säkularismus. Ich hätte gerne erfahren, worin dieser besteht. Stattdessen schreibt er sich ab an der Geisselung religiöser Systeme. Am Ende wird ein wenig über Gandhis »Hinduismus« erzählt (für Beck ist Hinduismus offensichtlich homogen, was aber definitiv nicht der Fall ist und damals schon gar nicht) und stattdessen Beton für die nächste Vergötterung gerührt.
Also noch einmal die Frage: Ist Gott gefährlich? Oder sind nur diejenigen gefährlich, die Gott für ihre Zwecke usurpieren? Natürlich ist es ein einfaches Spiel, immer zu behaupten, die Religion würde »missbraucht«. Aber wird sie nicht in diesem Moment auch vom glühenden Atheisten »missbraucht«, der sie als Folie für sein wachsendes Unbehagen an der Moderne braucht? Und wie immer, wenn ein Projekt zu scheitern droht oder der Wind ins Gesicht weht, braucht es knorrige Sündenböcke, die leicht herangezogen werden können (und es den Kritikern auch oft genug leicht machen).
Wird vielleicht deshalb suggeriert, auch in Rom würde den Ungläubigen der Status des Menschen überhaupt abgesprochen? Woran macht er das dingfest? Die neue Papst-Enzyklika sagt etwas anderes. Und sogar im Koran ist definiert, wer der »Ungläubige« ist. Freilich gibt es im Islam keine einheitlichen Lesarten.
Statt das Unbehagen an der Moderne, der sozialen Vereinzelung, die Überforderungen des individualisierten, jeglicher Transzendenz »befreiten« Menschen zu beschreiben, werden die Nischen der teilweise nur noch virtuellen Gottesgemeinden dieser Welt dafür verantwortlich gemacht. Verwechselt man nicht Ursache und Wirkung? Ist Becks Beschwörung des gefährlichen Gottes nicht eher ein eifersüchtiges Schauen auf das, was im Projekt der Moderne nicht mehr zu funktionieren scheint?
Kann man die bedrohlich überschwappende Welle antiaufklärerischer Kreationisten aus den USA mit der Bannung jeglicher Religion bekämpfen? Kann, und das ist nicht rhetorisch gefragt, die Moderne die antimodernen Affekte nur seinerseits mit antimodernen Affekten, also mit strikten Verboten, schützen? Was wäre eine Gesellschaft wert, die ihre Werte nur für ihresgleichen verteidigt und die Gefahren, die durch andere Weltanschauungen drohen oder zu drohen scheinen, schlichtweg verbietet ? Und wie kann das »Projekt der Moderne«, welches offensichtlich mehr und mehr als Überforderung – auch und gerade in industrialisierten Gesellschaften – wahrgenommen wird, wieder attraktiv gemacht werden?
Ich wünschte mir eine in diesem Sinne fruchtbare Religionskritik. Religionskritik, die ihren Gegenstand nicht diffamiert, sondern wahrnimmt, ihre Vorteile erkennt, aber ihre Nachteile in einem strikt weltanschaulich neutralen Staat bekämpft.
Hiermit ist dann erst einmal von meiner Seite zum Thema Religion und Atheismus Schluss.
Religionsmonitor
Im Religionsmonitor kann man die Fragen beantworten, die vermutlich bei derjenigen letzten Umfrage gestellt worden sind, bei der die Deutschen mit 70% als »hochreligiöses Volk« geoutet wurden. Im Vorspann wurde eine Ausfüllzeit von 20 Minuten angedroht, da ich mich bei sehr vielen Frageblöcken, die sich auf meine religiösen Praktiken bezogen, einfach nur von oben nach unten durchklicken musste, war ich nach 5 Minuten fertig. Aus dem am Ende angefertigten PDF habe ich nicht erfahren, ob ich nun als religiöser Mensch im Sinne der Umfrage gezählt werde oder welche Kriterien für eine solche Entscheidung maßgeblich sind. Aber die Fragestellungen, die man durchaus mit einer gewissen Spitzfindigkeit interpretieren kann, lassen viel Raum für Beliebigkeit. Da bestimmt der Auftraggeber das Ergebnis.
Danke für den Link
Die Fragen sind teilweise reichlich allgemein gestellt und lassen tatsächlich grosse Interpretationsspielräume zu. Die Auswertung zeigt letztlich ja nur meine Antworten in der Relation zu den bisherigen Antworten der anderen. Auch das ist eigentlich nur von begrenztem Interesse. Daher frage ich mich, was damit intendiert ist.
Ich sehe das etwas anders
Endlich habe ich mir die Zeit genommen, Ullrich Becks »Zeit«-Artikel selbst zu lesen – und bin begeistert. Ich gebe durchaus zu, dass meine Begeisterung auch daher rührt, dass Beck in ähnlichen Bahnen zu denken scheint, wie ich, und dass ich seine Thesen einfach erfrischend finde, selbst wenn »intellektuell solide« Religionskritik anders aussieht. Es ist eher »Religionkritik aus dem Bauch raus«, die aber auch ihre Berechtigung hat. Ich leite aus Becks Thesen auch keinen »politischen Handlungsbedarf« im Sinne gesetzlicher Maßnahmen ab, und sehe in ihren auch keine atheistische Position – sind die »poly-religiösen« Japaner etwa Atheisten?
Beck ist, soviel ich weiß, Agnostiker,ich bin Polytheist – von daher dürften sich die Konsequenzen, die ich aus den Thesen ziehe, anders aussehen, als die Becks (die er nur andeutet). Aber gegen eine Welt ohne Religionen (die keine nicht-religiöse oder gar a‑spirituelle Welt wäre) hätte ich rein vom Gefühl her wenig einzuwenden.
Man kann natürlich
den Thesen zustimmen; aber im Detail sind sie dann gelegentlich einfach falsch. Die grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben beispielsweise mitnichten religiöse Eiferer zu verantworten. Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot – das waren alles eher Agnostiker, wenn nicht gar Atheisten (was natürlich über die Position des Agnostikers oder Aetheisten an sich nichts aussagt).
Auch wird die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus viel zu hoch angesiedelt. Sie geht viel gravierender von den Evangelikalen aus (da hat Beck sicherlich Recht). Merkwürdig auch sein Schweigen zum Judentum. Naja, »aus dem Bauch heraus« trifft es wohl. Von jemandem wie Beck will ich aber keinen Bauch serviert bekommen.
Sie schreiben: »Die grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben beispielsweise mitnichten religiöse Eiferer zu verantworten« und führen Hitler in einer Liste als »eher Agnostiker« an. Dazu möchte ich mich äußern.
Alle Veranstaltungen und Reden der Nazis wurden mit Zeremonien untermalt. Auch Ankündigungen hatten einen religiösen Klang: »Feierstunde von 13–14 Uhr. In der dreizehnten Stunde kommt Adolf Hitler zu den Arbeitern.«(zit.n. Klemperer, 1993, S.45) Diese Redewendung assoziierte Hitler als den Erlöser, der zu den Menschen kommt, und ist die Sprache des Evangeliums.
Obwohl das Christentum von den Nazis selbst abgelehnt wurde, setzte Hitler und seine Gefolgschaft die Sprache des Evangeliums ein. Die ersten Gefallenen wurden kultisch und sprachlich wie christliche Märtyrer behandelt, und auch das christlich geprägte Wort ‘ewig’ wurde im Faschismus sehr häufig angewendet. Die bei der Feldherrnhalle Gefallenen nannte Hitler »meine Apostel, (...) ihr seid auferstanden im Dritten Reich« In fast jeder Rede benutzte Hitler das Wort ‘Vorsehung’: »Die Vorsehung führt uns, wir handeln nach dem Willen des Allmächtigen.«
Die Pseudoreligiösität des Faschismus manifestierte sich somit zum einen in den christlichen Redewendungen und zum anderen in den predigtartigen Ansprachen sowie dem altarmäßigem Aufbaus des Redepults.
Sie sprechen selber von »Pseudoreligiosität« des Nationalsozialismus (und des Faschismus). Daran gibt es keinen Zweifel. Dennoch ist die Intention des Nationalsozialismus (und des Stalinismus/Maoismus) nicht auf religiöse Ideen (Transzendenz, Gott) angelegt. Es wird kein »Himmelreich« im Jenseits versprochen und der Herr, dem es zu folgen galt, war real existierend. Man betete keinen Gott an – der »Gott« war der »Führer« (oder Stalin oder Mao oder Pol Pot). Sie vertraten jedoch immanent irdische Interessen, die ideologisch mit religiösen Konnotationen garniert wurden. Das zeremonial-inszenatorische von Diktaturen hat zwar religiöse-erlöserische Züge, ist dadurch aber mitnichten eine »Religion«. (Man könnte sonst – wie teilweise geschehen – die Inszenierung zu Obamas Inauguration oder Fussball-Weltmeisterschaften als »religiös« bezeichnen.)
Hitler (auch Goebbels) bedienten sich religiöser Vergleiche, um eine gewisse Fassade aufrecht zu erhalten. Die Kirche konnte (und wollte) man nicht verbieten; der Widerstand bis weit in das Bürgertum wäre zu gross gewesen. Anders bei Stalin in der UdSSR, der die Kirche enorm drangsalierte.
Auch wenn sich Hitler zu keiner Religion bekannte, so setzte er sich doch intensiv mit den neureligiösen Schriften des Jörg von Liebenfels auseinander, der primär von der arisophischen Weltanschauung des Guido von List geprägt war.
Hitler galt als Stammleser von »Ostara«, der von Jörg von Liebenfels herausgebrachten Zeitschrift, der sich massiv für eine Entmischung der Rassen einsetzte. Dessen »religiöses« Anliegen war, eine »reingezüchtete, weiße« Menschenrasse zu schaffen, die wieder über die »übernatürlichen Fähigkeiten des ursprünglichen Gottmenschen« verfügen sollte.
Jörg Lanz von Liebenfels gründete 1907 den Neutempler-Orden oder Ordo Novi Templi, einen nach dem historischen Templerorden benannten okkulten Männerbund, der unter anderem für „Rassenreinheit“ und Rückbesinnung auf tradiertes germanisches „Männerrecht“ eintrat.
Keine Ahnung, was A. H. so gelesen hat. Hitler hatte einen jüdischen Arzt, den er fast verehrte und half, ins Exil zu kommen – ändert das etwas an seiner verbrecherischen Einstellung den Juden gegenüber? Hitler mochte Wagner-Musik – aber macht ihn das zum Musikkenner? (Das ist durchaus nicht despektierlich gemeint)
Es gibt gewisse Tendenzen, Hitler (und auch Stalin) irgendwie mit einem gewissen religiösen Glauben zu umgeben (Dawkins macht das im Gotteswahn). Die seriösen Biografien zu Hitler schweigen dazu bzw. verneinen das. Andere versuchen das vom Kopf auf die Füsse zu stellen.
Ob A.H.s Ansichten nun als religiös, pseudiregligös oder okkult bezeichnet werden können, das ändert nichts an den Verbrechen die gemacht wurden.
Es gibt ein Zitat von Trevor Ravenscroft, der 1941–1945 Kriegsgefangener in einem deutschen Konzentrationslager war, worin »der Okkultismus der Nazi-Partei unter keinen Umständen der breiten Offentlichkeit enthüllt werden sollte«. Ravenscroft war im zweiten Welkrieg Kommando-Offizier in der englischen Armee und bei einem Überfall auf das Hauptquartier von Rommel in Nordafrika in Kriegsgefangeschaft geraten und nach Deutschland gebracht. Seine Erfahrungen im Konzentrationslager veranlassten ihn später dazu, Geschichte zu erforschen und stieß dabei auf die Legende des Longinus-Speeres.
Die Legende des Longinus-Speeres dreht sich um die Waffe, mit welcher Christus am Kreuz die Seite durchbohrt wurde (Ev. Joh. 19, 34–37). Im Laufe der Jahrhunderte wurden diesem Speer einzigartige Kräfte zugeschrieben und verschiedene historische Persönlichkeiten haben sich offenbar in den Besitz dieses »Talismans der Macht« gebracht.
Dr. Stein, den Hitler während seiner Wiener Zeit kennengelernt hatte, bezeugte, dass Hitler im September 1912 in seiner Anwesenheit in der Schatzkammer der Wiener Hofburg beim Anblick des Longinusspeeres ein Erleuchtungserlebnis, eine Zukunftsvision hatte. Hitler soll damals einen »Pakt mit dem Bösen« geschlossen haben. Fortan habe Hitler sich von der Vorsehung berufen, vom Schicksal auserwählt gefühlt. (Äusserungen dieser Art sind von Hitler tatsächlich zahlreich überliefert.)
Der Rassismus, den Lanz von Liebenfels (ehemaliger Zisterzienser-Mönch, Gründer des neuen Templerordens) und die Guido von List-Gesellschaft mit der Arisophie vertraten, ist auch als sozialer Rassismus zu verstehen. (Wie schon angeführt war Hitler Stammleser der von Lanz herausgegebenen Schriften.) Es ging – und geht – den Ariosophen darum, eigentlich soziale und politische Veränderungen – in Richtung offene demokratische Gesellschaft wie in Richtung Sozialismus – abzufangen, und die ungleichen sozialen Verhältnisse zu zementieren oder noch extremer zu gestalten. Zu diesem Zweck werden Menschen aufgrund ihrer ethnisch-genetischen Abstammung abgewertet. Gegebenenfalls können „niedere Rassen« je nach politischem Bedarf „konstruiert« werden.
Das „ideale Feindbild« war nicht nur für Hitler in „bester« ariosophischer Tradition „der Jude«, gerade weil es eigentlich so wenig konkret war. Egal, ob es gegen die „Bolschewisten« oder das „internationale Finanzkapital« ging – die Juden gaben in der Nazi-Weltsicht immer einen brauchbaren Sündenbock ab.
In seinem Hauptwerk „Theozoologia oder die Kunde von den Sodomsäfflingen und dem Götter-Elektron« vertrat Lanz von Liebenfels die Ansicht, dass einst Mitgliedern der göttlichen Hierarchie, die er „Elektrozoa« nannte, auf der Erde gelebt hatten. Die „guten« „Theozoa« hätten „Menschenhochzucht« betrieben, wobei sie sich hochtechnischer Hilfsmittel bedienten; die „arische Rasse« war das Resultat ihrer Versuche. Ihre Gegenspieler, die „Dämonozoa« hätten sich mit den Tieren vermischt, woraus sich die „dunklen Rassen« entwickelt hätten, die als »niedere Rassen« oder als »Mondvölker« bezeichnet wurden. Als solche wurden später die Juden von den Nazis betrachtet und verfolgt.
Lanz sah sich in einer Zeit der Herrschaft der „Niederrassen« (um 1905) und entwickelte ein Programm zur Beseitigung dieser Zustände. Es nimmt die Rassenpolitik und Judenverfolgungen im NS-Staat vorweg. Er empfahl Prämien für „Blondehen«, Sonderrechte für Blonde, Klöster für „Zuchtmütter«, Reinzuchtkolonien, Vielweiberei für blonde Männer, „Ehehelfer« für zeugungsunfähige Männer und ähnliches. Als Maßnahmen gegen die „Minderrassigen«, empfahl er kinderlose Ehen, Propaganda von Verhütungsmitteln, Kastration, Sterilisation, Prostitution, Einstellung von Wohltätigkeiten, Sklaverei, Zwangsarbeit, Deportationen in die Wüste, Verwendung als „Kanonenfutter« im Krieg.