Der Untertitel des Buches Was Terroristen wollen verspricht nicht zuviel: Die Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können. Louise Richardson, Politikprofessorin aus Harvard, hat sich jahrzehntelang mit Terrorismus beschäftigt und diesen wissenschaftlich untersucht. Das vorliegende Buch ist dabei sowohl eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung ihrer Untersuchungen als auch Wegweiser, wie demokratische und liberale Rechtsstaaten mit dieser Bedrohung umgehen können, die ja – auch das wird im Laufe der Lektüre deutlich – kein neuartiges Phänomen darstellt (und auch nicht einer bestimmten Kultur zugeschrieben werden kann).
Die Tatsache, dass Richardson Irin ist und auch selbst als Jugendliche mit dem Terrorismus der IRA (bzw. PIRA) konfrontiert wurde, bringt noch eine zusätzliche Facette in dieses Buch hinein (die jedoch nur sehr dezent und am Anfang erwähnt wird). So berichtet die Autorin sehr wohl, wie die Infiltration im Elternhaus, in der Schule und unter Freunden wie eine Art schleichendes Gift in ihr fortschritt und dieses für Terroristen und ihre Anhänger typische dichotomische Weltbild erzeugte. Und sie schildert ihr Erwekkungserlebnis, welches sie schlagartig »bekehrte«, als sie auf dem Dachboden ein Foto des Onkels fand, der als widerständischer Freiheitsheld in der Familie gefeiert wurde, auf dem Foto jedoch ausgerechnet eine britische Uniform trug und alle Mythengeschichten, jene erinnerte Historie, die von Generation zu Generation immer weitererzählt wurde, auf einen Schlag zu Lügen mutierten.
Was ist Terrorismus?
Zunächst einmal definiert Richardson den Begriff des Terrorismus (bzw. des Terroristen), was absolut notwendig ist, denn »Terror« und »Terrorist« finden inzwischen inflationär Verwendung – auch und gerade in den Medien und auch in vollkommen anderen Zusammenhängen (bspw. »Telefonterror« oder »Wirtschaftsterror« für Devisenspekulationen).
Terrorismus bedeutet einfach, für politische Zwecke planmässig und gewaltsam gegen Zivilisten vorzugehen. So die einfache, aber durchaus sinnvolle Definition von Richardson. Sieben Merkmale lassen sich hieraus ableiten:
Wichtig ist, dass die Regierungsform eines Staates, der Opfer von Terroranschlägen wird, nicht die Definition von Terrorismus verändert. Die These, dass ausschliesslich demokratische Staaten Opfer von Terrorakten sein können, da sie doch friedliche Formen der Opposition auf institutioneller Ebene ermöglichen, verwirft Richardson ausdrücklich. Auch einer irgendwie legitimen Art des Terrorismus, sofern er nur »unseren« Wertvorstellungen entspricht, also quasi gegen autokratische oder rassistische Systeme, muss das Wort geredet werden. Terrorismus bleibt Terrorismus, sofern die o. g. Kriterien erfüllt sind.
Hiervon macht Richardson die moralische Legitimation im Diskurs abhängig: Solange wir nicht bereit sind, einer Gruppe, deren Ziele wir teilen, dennoch das Etikett Terroristen anzuhängen, wenn sie zum erreichen dieser Ziele planvoll Zivilisten angreift, werden wir niemals in der Lage sein, eine wirkungsvolle internationale Zusammenarbeit gegen den Terrorismus zustande zu bringen.
Eine Vermischung des Begriffs des Terrorismus mit dem des »Freiheitskämpfers« lässt sie ebenfalls nicht zu. Dass Terroristen behaupten, sie seien Freiheitskämpfer, heisst nicht, dass wir ihnen das zugestehen sollten…
Grundsätzliche oder begrenzte Ziele?
In einer Matrix sortiert Richardson Ziele und Unterstützung von Terrorismus. Sie unterscheidet begrenze Ziele und grundsätzliche Ziele. Innerhalb dieser Ziele unterscheidet sie dann zwischen engerem und isoliertem Verhältnis zur Gemeinschaft.
Die sozialrevolutionären Bewegungen in Europa (z. B. die RAF oder die roten Brigaden in Italien) verfolgten »grundsätzliche Ziele«, d. h. die Zerschlagung eines ganzen politischen Systems. Ihr Verhältnis zur Gemeinschaft war eher isoliert. Richardsons These ist – vereinfacht dargestellt – dass Terroristen mit grundsätzlichen, systemzerstörerischen Forderungen dauerhaft keine grosse Resonanz in der Bevölkerung finden werden und somit mittelfristig scheitern. Ihre Matrix hierzu zeigt eine Menge dieser Terrororganisationen, von denen ein Grossteil schon nicht mehr oder kaum noch aktiv ist. Keine einzige hiervon ist direkt mit einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung aufgeführt.
Allerdings ist – das gibt Richardson zu – al-Qaida unter Umständen ein Sonderfall: Hier ist die Vermischung zwischen panarabisch-nationalistischer Rhetorik und der religiös konnotierten Argumentation neu. Richardson rubriziert al-Qaida als Organisation mit »grundsätzlichen Zielen«, was sie durchaus im weiteren Verlauf ihres Buches befragt.
Wesentlich schwieriger ist die Angelegenheit bei den Organisationen, die »begrenzte Ziele« formulieren, also beispielsweise Sezessionsbewegungen oder sogenannte Befreiungsbewegungen. Gelingt es solchen Organisationen eine enge Verankerung für ihre Ziele in der Bevölkerung zu erreichen, so ist eine Bekämpfung sehr schwierig. Als Beispiel hierfür werden unter anderem die al-Aksa-Märtyrerbrigaden, die baskische ETA, die tamilische LTTE, die kurdische PKK und der »Leuchtende Pfad« in Peru genannt.
Terrororganisationen bleiben allerdings, trotz eventueller Unterstützung in Teilen der Bevölkerung, immer in einem ungleichen Kampf die schwächere Partei. Diese Erkenntnis hat später signifikante Auswirkungen auf die Strategie zur Bekämpfung des Terrorismus.
Vehement sträubt sich Richardson dagegen, Terroristen a priori jegliche Moral abzusprechen (was sie auch exemplarisch belegt). Terroristen in die Ecke irrationaler Verrückter zu stellen, macht ebenfalls keinen Sinn. Richardson verwertet hier eigene Erlebnisse in workshopähnlichen Veranstaltungen mit »Aktivisten«. Das Engagement von Terroristen entspringt durchaus rationalen Beweggründen.
Schlüssig zeigt Louise Richardson, dass die von bestimmten Kreisen gerne vorgenommene Verwechslung von Empathie mit Sympathie eine billige, aber durchaus massenwirksame rhetorische Volte ist, um das Gegenüber, welches um Konfliktlösung bemüht ist, zu diffamieren. Die »Falken« gehen damit eine gewisse Allianz mit den Terroristen ein (und deren »Falken«). Terrorbekämpfer und Terroristen bedingen sich gegeneinander, lassen oft – trotz rationaler Gründe dagegen – nicht voneinander los, in dem sie auf ihren Standpunkten beharren. Am Ende des Buches belegt Richardson, dass etliche terroristische Konflikte durch diese Vorgehensweise nur unnötig in die Länge gezogen wurden.
Neben ausführlichen historischen Abrissen zu Terrorismus in der Geschichte untersucht Richardson natürlich auch die Ursachen. Sie kommt zu dem Schluss, dass es hier keine monokausalen Erklärungen gibt, also auch Verallgemeinerungen falsch sind. Die Ebene des individuellen Terroristen, der die terroristische Organisation und die des sie finanzierenden Staates können alle möglichen Gründe liefern. Auf gesellschaftlicher ebene sind sozio-ökonomische Faktoren wie etwa Armut und Ungleichheit mögliche Ursachen, auf transnationaler Ebene können Religion und Globalisierung welche sein.
Entfremdung vom Status quo
Unterschieden werden muss zwischen den Terroristen selber auf unterschiedlichen Hierarchieebenen und deren Sympathisanten, und zwar insbesondere was die Motive angeht. Bei den Anführern handelt es sich meist um gebildete Leute, die dem Terrorismus eine intellektuelle (und/oder religiöse) Unterfütterung geben. Richardson zitiert eine Untersuchung, die ergab, dass rund zwei Drittel von 179 al-Qaida-Mitgliedern der Mittel- bzw. Oberschicht zuzuordnen waren (Aktivisten ethnonationalistischer Organisationen stammen allerdings eher auch klassischen Arbeiterschichten).
Detailliert untersucht Richardson was Leute dazu treibt, in Terrorismus ihre Ausdrucksmöglichkeit zu finden. Sie zieht am Rande auch Elemente der youth-bulge-Theorie Gunnar Heinsohns zu Rate (den sie allerdings nicht erwähnt). Am Ende kommt sie zu dem Schluss, dass Terrorismus im wesentlichen aus einem tödlich Cocktail herrührt, der aus drei Zutaten zusammengemixt ist: persönliche Enttäuschung, eine gutheissende Gesellschaft (sie nennt dies auch Komplizengesellschaft) und eine legitimierende Ideologie. Dabei setzt Terrorismus eine Entfremdung vom Status quo voraus. Er gedeiht immer dort sehr gut, wenn sich Menschen ungerecht behandelt fühlen und sich charismatische Anführer herauskristallisieren, die diese Verhältnisse erklären, eine Gruppe organisieren und für deren Effizienz sorgen.
Religionen können eine Rolle bei terroristischen Aktivitäten spielen, müssen es aber nicht. Dies führt Richardson am Beispiel zahlreicher säkularer Terrororganisationen aus. Dort, wo religiöse Diktionen gebraucht werden, dienen sie häufig dazu Konflikte zu absolutieren. Religiös motivierte Terroristen sind häufiger bereit, grössere Opferzahlen in Kauf zu nehmen. (Wenn Gott das Publikum ist, dann muss man sich keine Gedanken darum machen, es möglicherweise vor den Kopf zu stossen.) In der Praxis vermischen sich jedoch häufig religiöse und nationalistische Motive. Ausserdem ist religiöse Motivation mitnichten auf den Islam beschränkt, was auch an Beispielen u.a. aus Europa illustriert wird.
Alle Terrorbewegungen haben zwei Arten von Zielen: Kurzfristige organisatorische und langfristige, politische, wobei Letztere einen erheblichen politischen Wandel voraussetzen. Diese Unterscheidung ist essentiell. Richardson unterscheidet hierzu die primären von den sekundären Motiven. Die primären Motive liegen in der jeweiligen politischen Zielsetzung – diese ist in den Terrorbewegungen durchaus unterschiedlich verankert (beispielsweise Sezession, Abzug einer Besatzungsmacht oder Errichtung einer anderen Staatsform). Interessant die These, dass viele primäre Ziele nur relativ undeutlich und vage formuliert sind, und hier kaum detailliert durchdachte Konzepte für die Zukunft entwickelt wurden. Das erklärt warum, nachdem ein solches Ziel erreicht wurde, oft die Ausführung vollkommen unkoordiniert und unbefriedigend verläuft – die (einstige) Terrororganisation hatte zwar einen präzises Feindbild, aber keine Vorstellung, was nach dessen Beseitigung zu tun ist.
Rache – Ruhm – Reaktion
Die sekundären Motive hingegen sind bei nahezu allen Terrororganisationen gleich. Sie bestehen aus dem, was Richardson auf die Kurzformel der drei Rs bringt: Rache, Ruhm, Reaktion.
Alle Terroristen trachten nach Rache, Ruhm und Reaktion. Das Phänomen der Rache durchzieht die Rechtfertigungen und Pamphlete aller Terrororganisationen. Bei aller empirischen Beweisführung vernachlässigt Richardson ein wenig, dass Rache besonders dort auf besonders fruchtbaren Boden fallen wird, wo Rechtsstrukturen nicht ausreichend verankert sind oder schlichtweg eine starke Korruption geltendes Recht nicht zulässt. Zu recht betont sie, dass Rachegelüsten aus Sicht der Terrorbekämpfung schwierig beizukommen ist – ausser dahingehend, nicht jenen Entschuldigungen zu liefern, die zur Gewalt greifen wollen.
Ruhm ist ein weiteres, wichtiges Motiv für Terrorismus. Die Akteure sonnen sich in der Aufmerksamkeit, die sie erlangen. Oft genug sind ihre Anschläge auch noch reichlich symbolischer Natur (das Paradebeispiel ist natürlich wieder der Anschlag auf die Twin-Towers als Symbol des Kapitalismus). Der Ruhm spielt auch innerhalb der jeweiligen Organisation eine gewisse Rolle, und zwar wenn es sich um dezentral agierende Einheiten handelt.
Richardson warnt jedoch davor, die durch die Anschläge weltweit hervorgerufene Aufmerksamkeit als Beleg für das »Funktionieren« des Terrorismus zu werten. Wenn dem so wäre, dann könnte man einfach die Berichterstattung über Terrorakte einstellen (sie zitiert Margaret Thatcher, die einmal vom »Sauerstoff entziehen« sprach). Abgesehen davon, dass dies in demokratischen Gesellschaften gar nicht möglich ist, würde dies auch wiederum Terroristen zu noch grösseren Attentaten anstacheln.
Der interessanteste Punkt, der nicht sofort auf der Hand liegt, später jedoch in der Gegenstrategie einen wichtigen Hebel bietet, bezeichnet Richardson als Reaktion. Durch ihre Aktion(en) kommunizieren Terroristen mit der Welt. Man nennt das »Propaganda durch die Tat«. Durch ihre Aktion(en) wollen sie Reaktion(en) hervorrufen. Es ist bemerkenswert – und das zeigt Richardson an vielen Beispielen – das viele Reaktionen exakt so ausfallen, wie die Terroristen es wollen – nämlich die Eskalationsspirale der drei Rs befeuern, statt zu deeskalieren. Das, wenn man so will, Geniale am Terrorismus ist […], dass er Reaktionen hervorruft, die öfter im Interesse der Terroristen sind als in dem der Opfer. Insbesondere dann haben die Terroristen in doppelter Weise ihr Ziel erreicht, wenn es ihnen gelingt, demokratische Staaten zu drakonischen Massnahmen zu verleiten, um damit die Stimmigkeit ihrer Propaganda zu belegen.
Selbstmordattentäter sind weder per se religiös noch Irre
Zu den beeindruckendsten Kapiteln des Buches gehört jenes über Selbstmordattentäter. Richardson räumt mit der These auf, dass Selbstmordanschläge religiöse Konnotationen benötigen. Ausführlich untersucht sie insbesondere die LTTE (»Liberation Tigers of Tamil Eelam« [»Befreiungstiger von Tamil Eelam«], der ethnonationalistischen Separatistenorganisation der Tamilen auf Sri Lanka) und deren quasi ritualisierten Einsätze von Selbstmordattentaten.
Anfang der 80er Jahre wurden Selbstmordattentate während des libanesischen Bürgerkrieges von säkularen Terroristen sozusagen »neu entdeckt« und in die Neuzeit transferiert. Die Anschläge von 1983 auf die amerikanische Botschaft in Beirut (80 Tote) und auf das Hauptquartier der US-Marines (241 Tote) sorgten dafür, dass sich die USA auf dem Libanon zurückzogen (die Terroristen hatten ihr Ziel erreicht und noch heute dient es der al-Qaida-Propaganda als Beleg für die »Feigheit« Amerikas). Die LTTE hatte diese Taktik übernommen. Und bis zur Eskalation der Selbstmordtaktik bei den Aufständischen im Irak hatten die LTTE mehr Selbstmordanschläge durchgeführt als jede andere Terrororganisation.
Psychopathen und ähnliche instabile Charaktere sind von den Führern für solche Aktionen ausdrücklich nicht erwünscht; sie würden die Effizienz dieses Mittels infrage stellen. Es gibt harte Auswahlverfahren, wer für eine Aktion »berufen« ist. Selbstmordattentäter sind in der Regel keine blindwütigen Fanatiker, die spontan und unbeherrscht reagieren. Ihre Aktionen sind geplant. Sie werden in ihren Organisationen entsprechend geschult und gezielt auf ihren Einsatz hingeführt. Ihre Aktionen sind effizient (d. h. – um es hart zu formulieren – billig und effektvoll) und erfüllen die drei Rs perfekt.
Im Gegensatz zu den aktuellen, islamistisch motivierten Selbstmordattentätern, ist die LTTE eine Organisation bar jeder religiösen Komponente (ähnlich wie die PKK, die auch Selbstmordanschläge, allerdings in wesentlich geringerem Ausmass, durchgeführt hat). Es handelt sich um eine rein säkulare, sezessionistische Terrororganisation. Ihre Hingabe an die Sache nährt sich aus dem Hass auf den Feind und den Wunsch, sich für dessen Übergriffe zu rächen, nicht aus dem Glauben an Gott. Und es gibt ein umfangreiches, festgelegtes Instrumentarium, in dem Attentäter (und ihre Familien) in Publikationen und Schreinen quasireligiöse Heldenverehrung geniessen.
Manichäisches Weltbild – auf beiden Seiten
Wie ist nun dem Terrorismus beizukommen? Ausführlich dokumentiert Richardson zunächst, wie die Bush-Administration nach dem 11. September auf diesen Megaschlag reagiert hat. Und sie stellt nüchtern und ohne in primitives Bush-Bashing zu verfallen fest: Es war nahezu alles falsch, was gemacht wurde.
Angefangen von der Rhetorik bis zu den Aktionen im Inneren (»Patriot-Act«) bis zu den Kriegen in Afghanistan und natürlich insbesondere im Irak – Richardson seziert die Fehler einer nach dem anderen.
Der grösste Fehler war wohl, die Metaphorik des »Krieges« einzusetzen und Terrorbekämpfung somit als rein militärische Aktion zu verstehen. Mit dem Status des »Krieges« hat man letztlich nicht nur den Terroristen als gleichwertigen Kämpfer anerkannt, ihn also auf die gleiche Stufe gestellt, sondern auch dessen Aktion wie gewünscht beantwortet. Statt den Terrorismus als einen kriminellen Akt darzustellen und ihn kriminalistisch zu behandeln, wird durch die überbordende Bildhaftigkeit eines »Krieges« das Vokabular des Gegners – inklusive des manichäischen Weltbildes – übernommen. Richardson schliesst nicht aus, dass dies auch deshalb geschah, um mit dem Instrument der »Kriegserklärung« die Exekutive mit mehr Macht auszustatten. Ein beliebter Kniff, insbesondere in politisch labilen Systemen.
Parallel zur kriminalistischen Verfolgung der Hintermänner des Anschlages hätte man die primären Motive der Anschläge mit untersuchen müssen. Welches sind die Forderungen der Terroristen? Sind diese tatsächlich so abstrus und unerfüllbar? Welche transnationalen Fehler hat die US-Aussenpolitik in den letzten Jahren begangen? Wie haben die Verbündeten ähnlich gelagerte Fälle gelöst (beispielsweise hätte man auf die britischen Erfahrungen mit der IRA zurückgreifen können)? Wie hätte man fruchtbar die Solidarität anderer Nationen mit den Vereinigten Staaten nach den Anschlägen verwenden können? All dies Versäumnisse, die heute sehr schwer oder gar nicht mehr aufzuholen sind.
Und schliesslich: Wie will man »Krieg gegen den Terror« führen? Terror ist eine Emotion. Wie will man dagegen kriegerisch d. h. militärisch vorgehen? Richardson führt aus, dass dieser »Krieg gegen den Terror« militärisch nicht gewinnbar ist und sogar zusätzliche Rekrutierungen für den Terrorismus erzeugen kann. Zwar gibt es Beispiele aus Argentinien und Chile aus den 70er und 80er Jahren, die zeigen, dass terroristische Aktivitäten, die lokal auftreten, militärisch ausgemerzt werden können. Aber das, so Richardson eindrucksvoll, ist für demokratische Rechtsstaaten nicht durchführbar. Die genannten Länder waren Diktaturen und konnten mit Mitteln vorgehen, die sich für den Rechtsstaat verbieten.
Der zyprische Nationalist Georgios Grivas meinte einmal: »Mit einem Panzer fängt man […] keine Feldmaus – das kann eine Katze besser.« Richardson: Dem Terrorismus den Krieg zu erklären und dafür eine Armee in den Kampf zu schicken, ist so etwas Ähnliches, wie mit einem Panzer eine Feldmaus zu fangen.
Mit einem Handstreich wird nebenbei auch das dümmliche Geschwätz von Herfried Münkler von den »asymmetrischen Kriegen« weggefegt. Vermutlich kennt sie weder Münkler noch dessen These, die in Deutschland in Ermangelung vernünftigen Denkens vor einigen Jahren durch voreilige Feuilletonisten und politische Kommentatoren hoffähig wurde. Richardson zeigt, dass ein solches Denken falsch und unhistorisch ist und zu kontraproduktiven Schlussfolgerungen und Strategien führt.
Die falschen Reaktionen auf die Anschläge des 11. September haben die Welt verändert
Richardsons Schluss: Es ist daher nicht ganz richtig, dass ‘der 11. September unsere Welt veränderte’, wie Präsident Bush es ausdrückte. Vielmehr war es unsere Reaktion auf den 11. September, die die Welt veränderte. Die Amerikaner erlitten einen Terrorangriff, der in seiner Grössenordnung und Zerstörungskraft ohne Beispiel war, und verloren dadurch ihr Sicherheitsgefühl und ihr Augenmass. Wobei – das ist immanent – Politik gerade darin bestanden hätte, Sicherheitsgefühl und Augenmass in der gebotenen Relation zum Terrorakt in der Bevölkerung zu erhalten, in dem analytisch das Problem angeht.
Beispiellos der Hysterisierungsgrad, der dann in der lügenhaften Argumentation über angebliche Massenvernichtungswaffen des Irak (und der Kooperation zwischen Osama bin Laden und Saddam Hussein) führte. Richardson führt beeindruckend aus, wie hysterisch und mit wenig Sachkenntnis diese Diskussion geführt wurde.
Mit diesen Erkenntnissen ausgestattet erahnt der Leser natürlich, welche Lösungsmöglichkeiten die Autorin vorschlägt. Sie sind allesamt nicht besonders spektakulär und dürften eher mittel- und langfristig zu Erfolgen führen, während für schwache Politiker fast ein Zwang zu kurzfristigem Aktionismus zu bestehen scheint. Richardson stellt sechs goldene Regeln auf:
- 1. Ein vertretbares und erreichbares Ziel erreichen.
Nicht das »Böse« gilt es zu besiegen, sondern die islamistische Militanz koordiniert zu stoppen. Ein weiteres Ziel könnte sein, den Vergeltungsimpuls einzudämmen. Hierfür sind Zwangs- und Beschwichtigungsmassnahmen parallel erforderlich. Zwangsmassnahmen – auf rechtsstaatlicher Basis – nur gegen die unmittelbaren Gewalttäter und Beschwichtungsmassnahmen, um potentielle Rekrutierungen aufzuhalten.
- 2. Nach den eigenen Prinzipien leben.
Nicht der Demokratie- und Werteexport in kolonialer Manier ist gemeint, sondern das Anwenden der eigenen Werte auf sich selber. Richardson ist der Meinung, dass Demokratien per se durch ihre liberale und offene Gesellschaft nicht anfälliger gegen Terrorismus sind. Sie bezeichnet unsere demokratischen Prinzipien nicht als Einschränkung unserer Möglichkeiten gegenüber Terroristen vorzugehen, sondern als unsere stärkste Waffe. Auf die Idee der Notwendigkeit einer »Selbstbehauptung des Rechtsstaates« kommt Richardson nicht im Traum. Fast pathetisch das Bekenntnis zu George Washington und seinem Verhalten gegenüber britischen Kriegsgefangenen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.
Entsprechend scharf geht sie mit Notverordnungen und Rechtsverbiegungen ins Gericht. Beides sei falsch und unterminiere den Rechtsstaat – das, was die Terroristen erreichen wollen. In dem man den Terroristen den Krieg erklärt habe, ihnen aber gleichzeitig den Status gemäss der Genfer Konvention verweigere, liefert man Futter für die antiamerikanische Propaganda auf der Welt. Eine Demokratie, die ihre eigenen Werte missachtet, kann naturgemäss auch keine Strahlkraft nach aussen entwickeln und büsst jegliche Legitimation ein. Wenn George W. Bush jedoch ständig die »Überlegenheit unserer Werte« preist – worin bestehen diese denn in Wirklichkeit, wenn man ihnen selber nicht traut? (Und – das erwähnt Richardson erstaunlicherweise nicht – laufend demokratische Wahlen, deren Ausgang nicht ins politische Konzept passt, schlichtweg ignoriert, andererseits jedoch die Demokratie exportieren möchte.)
- 3. Den Feind genau kennen.
Richardson plädiert für genaue und ausführliche Geheimdienstarbeit und für die Infiltration von Terrororganisationen. Zu Hause können Informationen durch die Einbindung der loyalen muslimischen Bevölkerung gewonnen werden. Diese Massnahmen müssen im Respekt vor diesen Menschen geschehen. Stattdessen werden sie potentiell pauschal zu Verdächtigen erklärt.
- 4. Die Terroristen von ihren Gemeinschaften lösen.
Terroristen benötigen zwingend die Unterstützung der Bevölkerung. Wichtig daher, stille Sympathie oder gar Rückhalt in der Anhängerschaft durch vertrauensbildende Massnahmen auszudünnen. Ziel muss es sein, dass die Unterstützung für das planmässige Töten von Zivilisten (also das, was oben als Terrorismus definiert wurde) keine Sympathie mehr bekommt.
Richardson ist keine Träumerin und vermutet sicherlich richtig, dass die Unterstützung Israels den USA in der arabischen Welt immer gewisse Probleme schaffen dürfte. Aber in dem beispielsweise bei der Bewertung von Aktionen und politischen Handlungen die gleichen Massstäbe angesetzt werden, könnte die USA in der arabischen Bevölkerung wenigstens einen gewissen Respekt zurückgewinnen.
Als ausserordentlich problematisch ist dabei die Unterstützung der doch so stark auf »Demokratie« und »Menschenrechte« orientierten Politik der USA für Diktaturen wie Ägypten oder Saudi-Arabien, die aus geopolitischen und/oder ökonomischen Gründen zu Alliierten erklärt werden. Mit Recht weist sie darauf hin, dass al-Qaida gerade diese Regime ob ihrer Selbstherrlichkeit und politischen Unterdrückungsapparate angreift und deren Führer stürzen will.
Einen interessanten Fall macht Richardson bei der Tsunami-Hilfe der USA für Indonesien aus. Vor dem Tsunami war Umfragen zufolge das Bild der USA in der Bevölkerung mehrheitlich negativ; es gab durchaus Rekrutierungen von al-Qaida, die in den bekannten Terroranschlägen mündeten. Nachdem jedoch die weitgehend bedingungslose Tsunami-Hilfe der USA angelaufen war und auch sichtbare Erfolge zeigte, änderte sich das Bild in der Bevölkerung dramatisch, wie sie durch später durchgeführte Umfragen belegt.
Mit dem Vorschlag eines gross angelegten, möglichst von anderen Nationen mit unterstützten umfassenden Entwicklungsplans (ähnlich etwa dem Marshallplan) formuliert Richardson ein interessantes Ziel, welches jedoch sehr gut durchdacht werden muss, damit es nicht als Neokolonialismus ausgelegt und missdeutet werden kann.
- 5. Verbündete suchen.
Richardson plädiert hier für eine Transnationalisierung von Geheimdiensten und Regierungen.
Dieser Punkt hat teilweise Überschneidungen mit Punkt Nr. 3. Beide Regeln haben – das soll nicht verschwiegen werden – Schönheitsfehler, die sich zum Teil in der Aussenpolitik der USA der letzten Jahrzehnte gezeigt haben und prägnant mit der Formel »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« subsumiert werden kann. Vermutlich schwebt Richardson aber so etwas wie eine gemeinsame Allianz vor, wie sie im Kalten Krieg mehr oder weniger unter den NATO-Verbündeten geherrscht hat. Das Problem hierbei ist – das wird durchaus am Rande thematisiert – das die Geheimdienste derart unkontrollierbar erscheinen und verzweigt sind, dass schon eine Koordination innerhalb der USA schwierig genug ist. Hierfür müssten natürlich Strukturen gestrafft werden.
- 6. Geduld haben und das Ziel im Blick behalten.
Die oben beschriebenen Massnahmen bedingen Zeit und Geduld und man sollte nicht bei jedem neuen Anschlag in alte Vergeltungsmechanismen zurückfallen.
Verantwortungsethik vs. Gesinnungsethik
Die Erfahrungen vieler Konflikte zeigen, dass Terrorismus ausgetrocknet werden kann, so dass Anzahl und Vehemenz der Anschläge mittelfristig dauerhaft reduziert wird – und am Ende ganz verschwindet. Dort, wo die primären, politischen Motive zumindest teilweise berechtigt sein können, müssen sie auch diskutiert werden. Sezessionen oder Befreiungskämpfe können auch immer in Kompromissen (stärkere Autonomie; Zeitplan für den Abzug von Truppen unter gleichzeitigen Massnahmen zur Festigung ökonomischer und politischer Strukturen) mindestens teilbefriedet werden.
Bei al-Qaida sieht die Autorin ein bisschen schwärzer. Hier vermischen sich transnationale Forderungen mit religiösen Implikationen. Was jedoch bisher vernachlässigt wurde, ist beispielsweise dezidierter die Differenz von islamistischem Fundamentalismus einerseits und muslimischem Nationalismus andererseits zu analysieren und für die eigenen Handlungen fruchtbar zu machen.
Richardson fragt im Buch allerdings durchaus berechtigt, warum die USA nicht Mitte der 90er Jahre ihre Truppen aus Saudi-Arabien beispielsweise in die Emirate oder in den Golf zurückgezogen haben; unmittelbar notwendig waren sie dort nicht. Wäre es so unmöglich gewesen, diese auch in gemässigten muslimischen Kreisen mit Unbehagen verfolgte Besatzung zu beenden? Aus Äusserungen führender al-Qaida-Führer hätte man zwar diesen Abzug unter Umständen mit weitergehenden Forderungen bezüglich anderer muslimischer Länder beantwortet und für nicht ausreichend erachtet – aber grosse Teile der arabischen Bevölkerung wären viel weniger sensibilisiert gewesen.
Kühl summiert Richardson am Schluss des Buches, die Bush-Administration verhalte sich der Traditionen des Landes unwürdig. Und weiter heisst es: Beim Kampf gegen den Terrorismus müssen unsere Interessen und unsere Ethik eindeutig im Einklang stehen.
Louise Richardson ist pragmatische Verantwortungsethikerin und eine Anhängerin von langfristigen, strategischen Politikzielen. Schnelle Reaktionen, die auf dem Markt für eine kurze Zeit billige Meinungspunkte bringen, sind ihr fremd, weil es sich dabei eben nicht um Politik handelt.
Die Lektüre dieses Buches immunisiert gegen Scharfmacher jeder Art und lässt die gängigen, gesinnungsethischen Moralapostel wie steinzeitliche Krieger erscheinen, die mit einer archaischen Wollust die Gewaltspirale der Terroristen willig und gerne übernehmen und ihnen in punkto Aktion und Reaktion immer ähnlicher werden. Ideen, wie beispielsweise in Afghanistan mit den gemässigten Taliban zu verhandeln, erscheinen danach weder absurd noch käme ein vernünftig denkender Mensch auf den Gedanken, die Verfechter als »Terrorfreunde« zu denunzieren. Richardsons Buch, obwohl insbesondere im zweiten Teil stark auf die USA reflektierend, ist auch und gerade für den Europäer von Interesse und von gerade unverzichtbarer Notwendigkeit. Es bietet eine Fülle von Querverweisen und weiterführenden Schriften zu einzelnen Aspekten. Es sollte als zeitgemässes Standardwerk betrachtet werden. Danach kann der Diskurs beginnen. Danach. Nicht davor.
Deine Rezension gefällt mir sehr gut. Was die Autorin für die USA herausgearbeitet hat, kann 1:1 auf Israel und unseren paranoiden Herrn Schäuble übertragen werden.
Wieder mal eine Rezension, die Neugierde weckt. Der nächste Besuch kommt Mitte Januar und hat das Buch dann hoffentlich im Gepäck. Bestellt habe ich es jedenfalls sofort.
Ein andermal hoffentlich mehr.
Zwei Dinge:
a) Sieht Richardson Terrorismus auch als soziales Phänomen? Das scheint mir ausgeklammert zu bleiben. Oder habe ich etwas überlesen? Wäre Armutsbekämpfung an manchen Orten nicht auch Terrorismusbekämpfung? Oder zumindest die Möglichkeit »Gutpunkte« zu sammeln? Die Katastrophenhilfe geht in die Richtung, ist aber eigentlich etwas anderes. Wenn wir beispielsweise an den Libanon denken: Die Hisbollah ist sozial stark verankert, das gibt ihr Rückhalt, und macht das Problem erst zu dem was es eigentlich ist. Der Rückhalt in der Bevölkerung müsste minimiert werden, lese ich, aber was tun wenn er derart verankert ist? Da hilft »Gutpunkte« sammeln auch nichts.
b) Die Sache mit der »Religion«. Ich behaupte – allerdings ohne Beweise – dass »religiöse«, quasi‑, oder pseudoreligiöse Bindungen Selbsmordattentäter (die meisten jedenfalls) in ihrem Tun befördern, oder dieses erst möglich machen. Sich für das »große Ganze« zu opfern, obwohl man »der Sache« eigentlich sein ganzes Leben dienen kann (dann doch viel effizienter) trägt deutlich irrationale Spuren. Es braucht doch irgendeine »Ideologie«, irgendetwas, das die Angst vor dem Tod nimmt, irgendeine Versprechung, etwas Erfüllendes, das die große Leere des Todes auffüllen mag! Darum auch pseudoreligiös: Nationalismus (Panarabismus) vermag so etwas zu leisten, oder denken wir an die politische Idolatrie des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus, Stalinismus), usw.
Religion ist hier ausschließlich funktional zu denken. Aber ohne eine solche Bindung jedenfalls, kann ich mir das kaum vorstellen.
Widersprechen nicht die von Dir erwähnten ritualisierten Selbstmordattentate (LTTE) der These, dass die Religion (im oben angeführten Sinne) keine Rolle spielt. Definiert Richardson Religion? Aber wenn sie ausführlich auf LTTE eingeht, müsste das zu klären sein.
Kurzum: Ist Richardsons Analyse möglicher Weise zu sehr auf politwissenschaftliche Aspekte fokussiert?
Sieht Richardson Terrorismus auch als soziales Phänomen?
Ich habe das ein bisschen verkürzend dargestellt, sonst wär’s zu lang geworden. Sie sieht keine monokausalen Ursachen. Dabei ist Terrorismus auch ein soziales Phänomen, aber nicht primär. Richardson belegt, dass beispielsweise die Attentäter des 11. September nicht »arm« oder aus armen Verhältnissen stammen. Ähnliches gilt für die Attentäter von Madrid und London, Sie zeigt, dass diese Leute nach aussen hin bestens integriert schienen.
Die Hisbollah ist sozial stark verankert, das gibt ihr Rückhalt, und macht das Problem erst zu dem was es eigentlich ist. Der Rückhalt in der Bevölkerung müsste minimiert werden, lese ich, aber was tun wenn er derart verankert ist? Da hilft »Gutpunkte« sammeln auch nichts.
Genau diese soziale Verankerung spricht sie auch an. Die Hisbollah engagiert sich sozial, hat aber auch politische Ziele, für den sie Terrorismus einsetzt. Es gilt diese politischen Ziele zu desavouieren bzw. die Unterstützung in der Bevölkerung für diese Ziele abzubauen.
Nationalsozialismus und Stalinismus haben nicht mit Selbstmordanschlägen operiert, obwohl sie quasireligiöse Erlösung versprachen.
Widersprechen nicht die von Dir erwähnten ritualisierten Selbstmordattentate (LTTE) der These, dass die Religion (im oben angeführten Sinne) keine Rolle spielt.
Nein. Mit »ritualisierten Selbstmordattentaten« meine ich das Prozedere der Aktionen an sich; es wird ausführlich beschrieben (bis zum letzten Essen mit dem LTTE-Führer). Die LTTE ist eine säkulare Organisation, die sich aus dem Hass gegen die »Besatzer« speist. Natürlich übernimmt hier der Nationalismus quasireligiöse Züge. Was er aber definitiv nicht schürt, ist eine Jenseitshoffnung oder –verheissung. Der Selbstmordattentäter weiss, dass er tot sein wird und der Ruhm seiner Tat strahlt nur auf die Familie. Richardson führt aus, dass die Organisation sich vor Bewerbern nicht retten kann und sehr grossen Zulauf hat. Die Organisation setzt das Instrument der Selbstmordattentate sehr rational ein. Daher kann man keine irrationalen, cholerischen Amokläufer gebrauchen. Die Personen, die sich dafür bereit erklären, sehen offensichtlich keine andere Möglichkeit, sich in der politischen Diskussion einzubringen, als diese einmalige Tat. (Ein gewisses Ohnmachtsgefühl ist ja auch dem westlichen Demokratieanhänger gelegentlich nicht fremd.)
Neben den Anschlägen der LTTE können auch sehr viele Selbstmordattentate im libanesischen Bürgerkrieg in den 80er Jahren als Aktionen säkularer Terrororganisationen eingestuft werden, sowie die Aktionen der PKK. Richardson wehrt sich nur gegen die Absolutierung, dass Religion unbedingt erforderlich sei. Sie ist – das ist sicherlich richtig – »hilfreich«, aber offensichtlich nicht notwendig.
Ob Richardsons Analyse zu sehr auf politikwissenschaftliche Aspekte fokussiert ist, vermag ich nicht zu sagen. Hierfür müsste man wissen, wie Du das meinst. Ihre Analysen und Handlungsanweisungen sind natürlich ziemlich »anstrengend« und fordern von den politischen Eliten des Westens ein grosses Mass an Empathie und Einsatzwillen. Das ist deutlich etwas anderes, als die korrupten »Eliten« in einigen Ländern, die vom Terrorismus bedroht sind, mit Geld und anderen Zuwendungen ruhig zu stellen oder ihnen selber die Bekämpfung zu überlassen (bspw. in Ägypten sind diese Fehler gemacht worden).
Welche anderen Aspekte sollte man zur Terrorismusbeämpfung heranziehen?
Ich sehe mein Kommentar war missverständlich.
Ich kenne es aus eigener Erfahrung, und nehme an, dass auch andere nicht dagegen gefeit sind: Kommt man aus einer bestimmten Fachrichtung, denkt man auf bestimmte Art und Weise, und arbeitet mit einer bestimmten Methodik. Man kann das kompensieren, aber die Scheuklappen wird niemand komplett los. Gerade bei Phänomenen wie dem Terrorismus, die viele Wurzeln haben, werden Fachleute – z.B. ein Islamexperte, ein Soziologe, ein Politikwissenschaftler – verschieden gewichtete Antworten geben. Daran dachte ich.
Zur Religion: Wir sind einig darin, dass institutionalisierte Religion keine notwendige Voraussetzung für Terror ist. Wenn ich aber z.B. die IRA mit LTTE (korrigiere mich bitte, falls ich falsch liege) vergleiche, dann sehe ich, dass erstere kaum, letztere aber sehr wohl Selbstmordattentate verübt haben. Ich folgere daraus, dass dem Terror der Selbstmord nicht notwendiger Weise innewohnt (ich glaube auch hierin sind wir einig). Nun frage ich mich warum das das eine Mal so ist, und dann wieder nicht. Eine mögliche Erklärung: »Energien«, Kräfte (ich finde gerade kein besseres Wort), die sonst in dem was wir als Religion bezeichnen, gebunden sind, können, wenn sie »frei« werden, anderwertige Foci finden. Zum Beispiel: säkulare Ideologien, wie den Nationalismus. Erst dann sind Menschen zu Handlungen wie dem Selbstmordattentat bereit. Da braucht es keine Psychopathen, oder Irre, es reicht vollkommen, wenn Bindungen hergestellt werden, die nicht per se vorhanden sind, die aber möglich sind, und die man als »religiös« (aber im funktionalen, nicht institutionalisierten Sinne) bezeichnen kann. Eine »Ersatzreligion«, die den Tod überhöht (das über das »bloße« Individuum hinausweist), aber nicht unbedingt Erlösung versprechen muss. Daher mein Rekurs auf den Nationalsozialismus und den Stalinismus. Der Kampf für den Führer bis zur letzten Patrone, die Hingabe von allem, »beweist« genau eine solche Bindung. Du hast selbstverständlich Recht, das gipfelte damals nicht in Selbstmordanschlägen (hätte im Land- und Luftkrieg auch nicht allzuviel Sinn), aber sehr wohl zu bedingungsloser Gefolgschaft.
[Man denke zum Beispiel an das NS-Lied »Vorwärts, vorwärts« in dem Zeilen wie »Deutschland, du wirst leuchtend stehn /Mögen wir auch untergehn.« oder »Uns’re Fahne flattert uns voran/Uns’re Fahne ist die neue Zeit/Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!/Ja die Fahne ist mehr als der Tod!« vorkommen. Untergang, Tod, Ewigkeit: da gibt es kein konkretes Versprechen, aber die emotionale Bindung ist gewiss hoch.]
Ich kann mir wie gesagt schwer vorstellen, dass man aus rationaler Überlegung zum Selbstmordattentäter wird. Ich glaube gerne, dass Selbstmordattentäter rational handeln, aber ihre Bindung, und damit ihre Überzeugung speisen sich aus einer anderen Quelle. Aber wie erklärt Richardson denn die Motive der Selbstmordattentäter? Den hohen Zulauf? Woher kommt der?
[...] Sie zeigt, dass diese Leute nach aussen hin bestens integriert schienen.
Glaubst Du, dass ein politisches Motiv, einen bestens integrierten Menschen, der zudem – wie das durchaus der Fall war – gebildet sein kann, dazu bringt zum (Selbstmord)attentäter zu werden? Die Armut fällt als Erklärung weg. Aber da muss es noch andere Faktoren geben, wie empfundene Ungerechtigkeit und Arroganz (Wirtschaft, Politik) Muslimen (muslimischen Staaten) gegenüber, vielleicht grundlegende Aspekte unserer modernen Gesellschaften, die nur ein unerfülltes, leeres Dasein ermöglichen, aber sicher auch Hass (nur woher?), das Gefühl Verlierer zu sein (oder das für andere zu empfinden), da bin ich mir sicher. Wenn man nur nach dem »trockenen«, politischen Motiv sucht, geht man fehl, das »motiviert« einfach zu wenig.
Im Falle der Hisbollah geht es mir folgendermaßen: Einmal denke ich, dass die politischen Ziele egal sind, solange die soziale Verankerung vorhanden ist, dann wieder umgekehrt. Obwohl den meisten Menschen die soziale Sicherung viel wichtiger als die Politik ist (die bracht man nicht um zu überleben).
Welche anderen Aspekte sollte man zur Terrorismusbeämpfung heranziehen?
Darüber muss ich noch nachdenken.
Generell: Richardson hat mit Sicherheit ein gutes Buch geschrieben, in diesem Sinne ist meine Kritik nicht fundamental gemeint.
Selbstmordattentate
Ich erinnere mich an einen Spielfilm über den Vietnamkrieg, in dem man einen Vietcong in einen Unterstand laufen sieht. Eine Sekunde später explodiert dieser Unterstand. Hier ist das Selbstmordattentat je nach Sichtweise eine Tat in einem regulären Krieg oder einer Widerstandsbewegung.
Vielleicht sollte man die Untersuchung des Phänomens »Selbstmordattentäter« ganz simpel als Kosten-Nutzen-Rechnung beginnen: Selbstmordattentate werden wahrscheinlich, wenn der potenzielle Attentäter den Wert seines (zukünftigen) Lebens als geringerwertig erachtet als den Wert des Nutzens / Schadens durch sein Attentat. Diese Betrachtungsweise lässt Raum für individuelle, religiöse und gesellschaftliche Ursachen. Auf jeden Fall darf man als Außenstehender nicht versuchen, moralische Bewertungsmaßstäbe zugrunde zu legen, weil der Selbstmordattentäter sich selbst ja als im Recht empfindet.
Was überwiegend zu gelten scheint: Selbstmordattentäter kommen aus Gruppen, d.h. Gruppenziele werden höher gewichtet als das eigene Leben. Das ist uns deshalb so unheimlich, weil bei uns das Individuum einen hohen Stellenwert hat und weil bei uns ein langes und im Vergleich zu anderen Gegenden bzw. Zeiten sorgenarmes Leben die Regel ist.
Die Islamisten verändern beide Seiten der Kosten-Nutzen-Rechnung: Auf der individuellen Seite wird das Selbstmordverbot des Islam durch das Versprechen eines besseren (und unendlich lange währenden) Lebens nach dem Tod überkompensiert. Auf der Gruppenseite wird behauptet, dass es der Gruppe durch das Attentat sehr viel besser als vorher gehen wird. Der Attentäter muss das a priori glauben, weil er keine Möglichkeit der Überprüfung hat. Zur Festigung dieses Glaubens wird innerhalb der Gruppe der Märtyrer-Kult zelebriert. Auch das wirkt wieder auf beide Seiten der Rechnung.
Ich zitiere aus Richardsons Buch (kursiv):
Selbstmordterrorismus ist zutiefst beunruhigend, weil er ein Mass an Fanatismus für eine Sache erkennen lässt, das uns ziemlich fremd ist...Keine Strafandrohung kann wohl eine Person beeinflussen, die bereit ist, sich selbst umzubringen. Und ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist und von Köppnick bereits angesprochen wurde: Mit der Bereitschaft, das eigene Leben zu geben, massen sich Terroristen eine moralische Überlegenheit an, die mit unserer Vorstellung von ihrer moralischen Verderbtheit nicht in Einklang zu bringen ist.
Richardson hütet sich, monokausale Ursachen für Selbstmordanschläge zu postulieren – also beispielsweise kulturelle Differenzen. Sie schränkt das sogar ein: Wenn Terroristen sich selbst töten, um andere umzubringen, ist das ein Verhalten, das vollkommen mit jenem von Soldaten durch alle Epochen hinweg übereinstimmt. Militärhistoriker haben uns schon vor geraumer Zeit dargelegt, dass es leidenschaftliche Loyalität gegenüber dem kleinen Haufen der Mitstreiter ist, die junge Männer aus den Schützenlöchern und über die Gräben treibt. Das mag überraschend erscheinen, denn wir denken bei Selbstmordattentaten an individuelle Handlungen, tatsächlich ist aber kein Fall bekannt, wo ein Terrorist einfach für sich beschloss, Märtyrer zu werden, sich Sprengstoff zu besorgen und einen Plan zu entwerfen. Vielmehr spielte bei jeder bekannten Märtyreroperation eine Gruppe eine wesentliche Rolle...Eine Märtyreroperation erfordert im Durchschnitt die Unterstützung durch rund zehn Mitstreiter. Überall auf der Welt reservieren Gesellschaften ihre höchsten Ehren für diejenigen, die für ihr Land ihr Leben gaben...
Als historische Beispiele zieht sie die Zeloten und Assassinen heran – und arbeitet auch die Unterschiede zu heute heraus.
Später heisst es: Die beliebte These, dass Selbstmordterroristen verzweifelt oder verrückt seien, wird durch sämtliche Forschungen zu diesem Thema widerlegt. Selbstmordattentäter handeln nicht allein; sie werden von einer Gruppe ausgewählt, ausgebildet, überwacht und unterstützt...Die Vorstellung, Armut treibe die Menschen zum Selbstmordterrorismus, wird ebenfalls von den Lebensläufen der Freiwlligen widerlegt – vom Ägypter Mohammed Atta mit seinem Diplom in Stadtplanung bis hin zum Briten Shehzad Tanweer, dem Sohn eines erfolgreichen mittelständischen Geschäftsmanns. Dennoch trifft es zu, dass beruflich erfolgreiche Menschen sich nicht freiwillig für Selbstmordmissionen melden, und viele von denen, die es tun, aus wirtschaftlich desolaten Gebieten wie dem Gazastreifen kommen.
Am Ende kommt sie als Motivation auf die drei Rs...
@Gregor
Überall auf der Welt reservieren Gesellschaften ihre höchsten Ehren für diejenigen, die für ihr Land ihr Leben gaben...
Das hatte ich auch gedacht und dabei Stauffenberg, den kommunistischen Widerstand im 3. Reich u.ä. im Hinterkopf, aber mir nicht getraut zu schreiben. Aber letztlich unterscheidet sich hier nur unsere Bewertung der Taten, die Dynamik der Gruppe, die Gruppenpsychologie ist ähnlich.
Ich musste auch an eine lange zurückliegende Anmerkung von Gruber denken, der damals sinngemäß gesagt hat: Da menschliches Leben endlich ist (und, meine Ergänzung, ersetzbar und reproduzierbar), wird es zu einer Ressource, die zu anderen Ressourcen ins Verhältnis gesetzt wird. Er hatte das damals im Zusammenhang des Verhaltens von Politikern zu Atomkraftwerken und deren Folgen geschrieben. Es passt aber überall, jegliches menschliches Handeln beeinflusst letztlich eigenes und fremdes menschliches Leben.
@Köppnick
Ich glaube, man braucht nicht einmal an den Widerstand zu denken. Soldatenverehrung existiert nahezu überall. (In Deutschland kollidierte das nach 1945 mit den nach und nach bekannt werdenden Einzelheiten des Vernichtungskriegs der Nationalsozialisten und deren Massaker. Da hatte man nun einerseits die »gefallenen« Sodlaten, die für das »Vaterland« gekämpft hatten und verehrt werden sollten [die soziale Komponente ist nicht ganz unwichtig dabei] – andererseits hatten sie einem, Verbrecherregime »gedient«. Man log sich jahrzehntelang mit der Legende der »sauberen Wehrmacht« in die Tasche und versuchte zu trennen, was grössenteils untrennbar miteinander verknüpft war.)
Man beachte den Euphemismus »gefallen« für getötete Soldaten. Im englischen nennt man das »killed in action«. Sie haben auf Grabsteinen ein anderes Zeichen. Sie sind nicht »einfache Tote«, sondern durch ihren EInsatz erhält ihr Sterben einen »Sinn«. Das hat zwar nicht die Dimension von Selbstmordattentaten, aber sie ist immer implizit mitzudenken.
Warum die LTTE Selbstmordattentae verübt, die IRA aber nicht hat auch mit der »Tradition« zu tun. Im antikolonialistischen Kampf in Indien (und wohl auch Ceylon) gab es auch vereinzelt Selbstmordaktionen. Einige Terrororganisationen sind vernetzt und »entdecken« neue Arten des Terrorismus sozusagen »neu«.
Im medialen Reaktionswettlauf haben Selbstmordanschläge – insbesondere, wenn sie sich gegen »uns« richten – eine sehr grosse Wirkung, da sie uns nach wie vor verstören. Die Anführer der Organisationen wissen das; Richardson führt Belege hierzu an.