In der aktuellen Ausgabe der »Zeit« ist ein Aufsatz des italienischen Philosophen Paolo Flores d’Arcais auf Jürgen Habermas’ Aufsatzsammlung »Zwischen Naturalismus und Religion« mit dem wuchtigen Titel »Elf Thesen zu Habermas« erschienen.
Weniger die Kritik als der Zeitpunkt überrascht. Schliesslich ist Habermas’ Buch vor mehr als zwei Jahren erschienen. Die von Flores d’Arcais vorgebrachten Vorwürfe, Habermas würde die Moderne zu Gunsten einer verstärkten Religiosität opfern sind auch nicht neu. Warum also jetzt? Es dürfte kaum anzunehmen sein, dass der Autor bisher keine Zeit hatte, das Buch zu lesen. Vielmehr erscheint die Gelegenheit in Anbetracht des derzeit publizistisch vehement vorgebrachten »neuen Atheismus« günstig. Das Thema ist en vogue, die Bastionen der Religionen werden sturmreif geschossen und warum nicht quasi als Nebeneffekt gleich einen führenden Repräsentanten der europäischen Linken attackieren.
Unabhängig davon, ob nun Habermas tatsächlich in grundsätzlicher Art einen Ruck zur Transzendenz vollzogen hat (das deutschsprachige Feuilleton neigte dazu, dem seinerzeit zu widersprechen), kann man exemplarisch anhand »These 7« d’Arcais’ Argumentation als reichlich überzogen aufzeigen:
Habermas’ Aussage »Faire Regelungen können nur zustande kommen, wenn die Beteiligten lernen, auch die Perspektiven der jeweils anderen zu übernehmen« ist irrig. Warum sollten wir lernen, ausgesprochen antidemokratische Sichtweisen zu übernehmen, also uns zu eigen zu machen? Warum sollten wir uns auf den Standpunkt des Nazis, des Rassisten, des Fundamentalisten stellen?
Flores d’Arcais irrt – und das muss schon mit einigem Willen zum Irrtum verbunden sein – wenn er unterstellt, Habermas meine, dass die jeweils andere Perspektive in dem Sinne zu übernehmen sei, dass sie adaptiert, d. h. zugeeignet werden soll. Das ist sicherlich nicht der Fall. Aber im Rahmen von Habermas’ Modell (Idealzustand) des »herrschaftsfreien Diskurses« ist eine gewisse Einfühlung für die Thesen des anderen durchaus notwendig. Hier darf natürlich Empathie nicht mit Sympathie verwechselt werden. Und an den diskursethischen, zugegebenermassen reichlich theoretischen Imperativ, dass »nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)“ sei in diesem Zusammenhang erinnert.
Zwangssäkularisierung als Zugang zum Diskursraum?
Das löst natürlich keinesfalls das Problem, wie mit notorischen Diskursverweigerern umzugehen ist. Und eigentlich ist die Diskusethik im Modell von Apel und Habermas selbst als blosses Verhandlungs- bzw. Verhaltensmodell den hohen Ambitionen nie gerecht worden. Aber per se die Moderne (wie immer man diese nun definiert) als Ausschlussgesellschaft für abweichende Strömungen zu verstehen, ist nichts anderes als autoritär. Bezogen auf Nazis oder Rassisten mag dies noch nachvollziehbar sein, und im Zweifel ist dann das Votum der Mehrheitsgesellschaft (mit allen Ambivalenzen allerdings – siehe unten) der »Zustimmung aller Betroffenen« vorzuziehen. Religiös argumentierende oder auch nur sich religiös gebende Diskursteilnehmer jedoch erst dann in die Moderne einzulassen, wenn diese ihren religiösen Vorstellungen (auch und vielleicht gerade, was moralische und ethische Fragen angeht) entsagen, sie also quasi in einem Zulassungsverfahren erst durch eine Zwangssäkularisierung in die (Diskurs-)Gesellschaft einzulassen (bei Flores d’Arcais hat man sogar den Eindruck, dass ein Laizismus oktroyiert werden soll), ist ein zutiefst antidemokratischer Impuls.
Dieses Denken ist – das muss man der Fairness halber sagen – bei Flores d’Arcais nicht neu. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 mit dem alarmistischen Titel »Ist Amerika noch eine Demokratie?« schreibt er: Anhänger der liberalen Demokratie sind laizistisch, säkularisiert und pragmatisch. Eine interessante Aufzählung. Weiter heisst es – durchaus emphatisch: Eine liberale Demokratie muss die Macht aller Individuen sein.. Vehement setzt er sich für Kontrollinstitutionen der Machtausübung ein. Eine nicht eingebundene, kontrollierte, sozusagen gefesselte Macht droht – so der weitergehende Schluss – irgendwann in eine Diktatur des Konsenses, in freiheitsfeindlichen Populismus umzuschlagen.
»Die Diktatur des Konsens«
Über die Ambivalenz (und auch Widersprüchlichkeit) dieser These müsste man separat diskutieren. Mir gefällt der Begriff der Diktatur des Konsenses nicht. Die Friedhöfe der Welt wurden über Jahrhunderte gefüllt von Herrschern, die den Konsens verachteten und ihre eigene Doktrin absolut setzten. Im 20. Jahrhundert brauchte man hierfür nicht mal mehr die Religionen, die entweder zum erbärmlichen Zuschauer (und somit indirekt wieder zum Täter) oder selber Gegenstand der Repression wurden.
Über die weitere Fortsetzung der Argumentation, ob nun Amerika noch eine Demokratie ist oder nicht, möchte ich nicht eingehen. Nur soviel: Der Spagat zwischen der Negation eines irgendwie gearteten organischen Volkes – was er (richtigerweise) ablehnt – und seines Konstrukts eines Ensemble[s] der streitenden Individuen, in dem auch Minderheiten ihre adäquate Position bekommen, dürfte schwer gelingen. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen zeigt sich Flores d’Arcais übrigens nicht abgeneigt, als eine Art »gutmütiger Diktator« überall dort »korrigierend« einzugreifen, wo er Freiheitsrechte in seinem Sinn eingeschränkt sieht. Dem Teufelskreis, Freiheit durch partielle Einschränkung anderer »Freiheiten« zu befördern, vermag er auch hier nicht zu entgehen.
Zurück zur Habermas-Kritik. Wie will man aber das Religiöse (bzw. religiös argumentierende Bürger) in die Moderne bzw. in eine der Moderne verpflichtete, liberale, demokratische Gesellschaft einbinden, wenn man unterstellt, dass sie aufgrund ihrer Religiosität diesem Projekt a priori feindlich gesonnen sind? Bewegt man sich dann nicht in exakt jener Gesinnungskontrolle, wie sie beispielsweise vom Christentum und deren Institutionen jahrhundertelang selber praktiziert wurde?
Flores d’Arcais begibt sich damit auf die Argumentation der aggressiv daherkommenden Atheistenbewegung, die für sich aus der Geschichte eine Art ausgleichende Gerechtigkeit ableitet. Das ist ungefähr so, als wolle ein Vater seinem Kind nun auch einmal die Strafen auferlegen, die er von seinen Eltern bekommen hat.
Umgekehrt ist es natürlich richtig, dass die Gegner (man könnte sie auch – martialischer – als »Feinde« bezeichnen) der Demokratie eben diese Liberalität nicht zu dessen Aushebelung verwenden dürfen. Aber erreicht man dies durch den nivellierenden Gestus, beispielsweise alle religiösen Bürger von vornherein als Fundamentalisten zu brandmarken und vom Diskurs, also der Teilhabe auszuschliessen? Welcher Art wäre dieser Liberalismus, der – übertragen auf ein Gemälde – nicht nur den Rahmen dieses Gemäldes vorgeben will, sondern auch gleich noch die Motive und die Farbenkonstellation?
Der kleinste gemeinsame Nenner
Und wie seltsam mutet es an, wenn Flores d’Arcais meint, dass alle – ob sie ein religiöses Empfinden haben oder nicht – den Anspruch auf ethische Wahrheit aufgeben sollen. Hieraus folgert er: Im Streit um Werte müssen wir uns auf den kleinsten gemeinsamen demokratischen Nenner des Verfassungspatriotismus beschränken. Interessant, dass Flores d’Arcais den Begriff des Verfassungspatriotismus, den Habermas zwar nicht erfunden, aber massgeblich weiterentwickelt hat, verwendet. Weiter heisst es: Für alle anderen ethisch-politischen Wahrheiten gilt: Sie haben das volle Recht auf Artikulation, und sie dürfen selbstverständlich Leben und Verhalten motivieren. Aber als ein Argument im öffentlichen Diskurs gelten sie nicht.
Besonders weit kommt man mit dieser »Norm« allerdings nicht, insbesondere wenn es um moralische Problemstellungen geht. Auch bleibt unklar, wer die Verfassung konstituiert, auslegt und welche Werte ihr zugrunde liegen. Eine Verfassung entsteht nicht im luftleeren bzw. wertefreien Raum. Sollte sie zu allgemein gehalten sein, kann die Identifikation und Akzeptanz des Bürgers hierunter leiden.
Wir haben mehrfach feststellen müssen, dass die profane »Übertragung« westlicher Vorstellungen beispielsweise auf bzw. in andere Kulturen nicht den gewünschten Effekt bringt, wenn diese nicht ausreichend verankert und mit Bestehendem kombiniert werden. Unter Umständen wird dem Westen sogar Kulturimperialismus vorgeworfen. Hinzu kommt: Rechtsgrundsätze, die nicht eine mindestens rudimentäre Verankerung im sozialen oder kulturellen Zusammenhang einer Gesellschaft haben, bleiben hohl und werden immer unterlaufen werden. Und grundsätzliche moralische Probleme löst Flores d’Arcais mit einem Rekurs auf den kleinsten gemeinsamen…Nenner auch nicht.
Liberal = anything goes
Vielleicht ist aber die Aussage Das Wesen der liberalen Demokratie besteht in der Souveränität der Bürger, sich selbst das Gesetz zu geben wörtlich zu nehmen. Hier zeigt Flores d’Arcais eindringlich, dass ihm an einer irgendwie gearteten sozialen Struktur von Individuen nicht gelegen ist. Bürger, die sich selbst das Gesetz…geben und hierzu die Ermächtigung implizit haben, sind fast nur in einem sozial-anarchischen Raum vorstellbar, der, das ist zumindest historische Erfahrung, geradewegs in eine atomisierte, entstaatlichte Clan- bzw. Stammesgesellschaft mündet (bestes Beispiel ist Somalia). Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Flores d’Arcais den Begriff des Liberalismus offensichtlich als schrankenloses »anything goes« definiert – in diesem Sinne den wirtschaftsliberalen Ökonomen, die im entfesselten Markt die Erfüllung sehen, entsprechend.
Liest man sich Flores d’Arcais’ Aufsatz genau durch, so geht es weniger um die Dekonstruktion von Habermas als Person, sondern er steht als Repräsentant einer als altmodisch empfundenen philosophischen Linken. Sein Angriff auf Habermas’ Vorbehalte hinsichtlich der Neuorientierung des Freiheitsbegriffs durch die Neurowissenschaften, ist arg stümperhaft und wirkt aufgesetzt. Es ist arg dneunziatorisch, jemanden aufgrund dezidierter Kritik an der Verwissenschaftlichung der Welt quasi den Stempel des reaktionären Wegbereiters der Restauration der Theologie zu schelten.
Warum das Kind mit dem Bade ausschütten?
Flores d’Arcais treibt die Angst vor der Infiltration wissenschaftsfeindlicher und fundamentalistischer Religionsgruppen um, wie sie teilweise bereits in den USA massiv in die Gesellschaft eingedrungen ist. Diese Angst teilt er beispielsweise mit Dawkins. Sie ist nicht unberechtigt. Aber deswegen religiöse Bürger unter Generalverdacht zu stellen, ist falsch.
Habermas’ versucht (beispielsweise im Dialog mit Ratzinger) die gemässigten religiösen Kräfte mit in den säkularen Staat einzubinden und sie für ihn zu gewinnen. Das Projekt des reinen Verfassungspatriotismus scheint ihm auf Dauer für die Masse nicht attraktiv genug. Das Wort der »Erlebnisarmut« würde er sicherlich nicht benutzen, trifft aber wohl zu: Der Rechtsstaat wird entweder nur noch als Bedrohung betrachtet (siehe das aktuelle Thema der inneren Sicherheit) und/oder – manchmal gleichzeitig – als Korrektiv für die Verrechtlichung privater Lebensentwürfe aufgefasst. Er soll sich so weit wie möglich aus dem Privatleben des Bürgers zurückziehen – gleichzeitig jedoch durchaus Infrastruktur und andere Hilfen auf Bedarf zur Vefügung stellen. Diese in weiten Kreisen verbreitete Mentalität führt eher zu weniger Bindung und Empathie den Instanzen des Rechtsstaates gegenüber.
Habermas will keinesfalls die staatliche Trennung von Religion und Kirche aufheben (von einem tatsächlich säkularen Staat ist Deutschland – bedauerlicherweise – noch weit entfernt). Er will aber die Religion als »Steinbruch«, vielleicht als eine Art Vitalitätsspritze verwenden. Und schliesslich muss der gläubige Bürger, der ja – streng genommen – nur Gott über sich sieht, an die Werte und Rechtsnormen des Staates herangebracht und für dessen Befolgung gewonnen werden. Ein Punkt, der in Anbetracht der Islamdiskussion (Islamkonferenz) in Deutschland nicht ganz unwichtig ist. Diese Leute einer zwanghaften »Religionsreinigung« zu unterziehen und sie damit zu treuen Staatsbürgern zu vergattern, ist für Habermas nicht möglich. Und da hat er recht.
FORTSCHREIBUNG 29.11.07
In der aktuellen Ausgabe der ZEIT (Nr. 49 v. 29.11.07; S. 68) äussert sich Habermas (entgegen meiner Annahme) in einem kurzen Artikel mit dem Titel »Babylonisches Stimmengewirr«. Der Artikel ist derzeit nicht online. Ich zitiere kurz:
»Ich selbst neige dazu, die politische Kommunikation im öffentlichen Raum für jeden Beitrag – in welcher Sprache auch immer er vorgebracht wird – offen zu halten. Die Zulässigkeit nicht-übersetzter religiöser Äußerungen in der Öffentlichkeit lässt sich nicht nur im Hinblick auf Personen begründen, die weder willens noch fähig sind, ihre Überzeugungen und ihren Wortschatz in profane und sakrale Anteile aufzuspalten. Es gibt auch einen funktionalen Grund dafür, dass wir die polyphone Komplexität der öffentlichen Stimmenvielfalt nicht vorschnell reduzieren sollten. Der demokratische Staat sollte weder Individuen noch Gemeinschaften davon abhalten, sich spontan zu äußern, weil er nicht wissen kann, ob sich die Gesellschaft nicht andernfalls von Ressourcen der Sinn- und Identitätsstiftung abschneidet. Warum sollten säkulare Bürger im potentiellem Wahrheitsgehalt von Glaubensäußerungen nicht eigene, seien es verborgene oder unterdrückte Intuitionen wiedererkennen können?«
Er tritt jedoch dezidiert für eine »Trennung von Staat und Kirche« ein, wenn es um »Institutionalisierte Beratungs- und Entscheidungsprozesse auf der Ebene der Parlamente, Gerichte, Ministerien und Verwaltunsgbehörden« geht. Hierfür sei, so Habermas, »eine Art Filter« zwischen beiden Sphären erforderlich. »Dieser Filter darf nur säkulare Beiträge aus dem babylonischen Stimmengewirr der öffentlichen Kommunikation passieren lassen«.
Weiter heisst es:
»Mögliche Wahrheitsgehalte religiöser Beiträge können nur dann wirksam in verbindliche Entscheidungen der Politik einfliessen, wenn irgendjemand sie aufgreift und in eine allgemein zugängliche Argumentation übersetzt.«
Politikentscheidungen müssen »alle Bürger verstehen können«, so die theoretische Maxime. Einer Gesetzgebung, die auf »religiöse Argumente beharrt« drohe in Tyrannei umzuschlagen.
Skeptisch äussert er sich auch dazu, wenn beispielsweise die Kirchen versuchen würden, über Appelle an »das religiöse Gewissen« Einfluss auf die Gesellschaft nehmen zu wollen und hierdurch die Säkularisierung unterhöhlen wollten.
Die Antwort bleibt m. E. hinter der Erwartung zurück. Insbesondere wie die Sphäre der politischen Willensbildung (der öffentliche Raum) und dann nachher der institutionelle Raum (‘Prozessebene’) derart scharf getrennt werden sollen, lässt Habermas offen.
Im Dezember-Heft der ‘Blätter für deutsche und internationale Politik’ wird mehr zu lesen sein. Hoffentlich auch online.
Zu 1
Eine etwas längere Fassung des Artikels hätte dem einen oder anderen Punkt gut getan (etwa an Stelle des Fotos). Aber Du hast Recht: Flores d’Arvcais wirkt, ich sage mal, sehr energisch, zu sehr auf sein Ziel fixiert.
Die Forderung
Vielmehr gelte es darüber hinaus »für den religiös unmusikalischen« Bürger, »das Verhältnis von Glauben und Wissen aus der Perspektive des Weltwissens selbstkritisch zu bestimmen«. Mit anderen Worten: Er soll seine atheistische Sicht aufgeben. Ziel sei die »Einübung in einen selbstreflexiven Umgang mit den Grenzen der Aufklärung«, die in eine »Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne« münden soll.
ist durchaus legitim, da der Atheismus auch nur im Glauben fußt (zumal Habermas’ Forderung mit »Er soll seine atheistische Sicht aufgeben.« stark zugespitzt wiedergegeben wird). Habermas versucht, so verstehe ich es, ohne sein Buch gelesen zu haben, die Selbstreflexivität (Selbstkritikfähigkeit) der Moderne zu erhalten bzw. wieder zu entfalten.
Eine Erwiderung von Habermas wäre interessant.
Naja,
das Bild hätte man weglassen können. Aber gelegentlich wird mir ja der Vorwurf gemacht, meine Beiträge seien zu lang... ;-)
Zum Thema: genau um die Selbstreflexivität der »Moderne« geht es m. E. Habermas (ich habe sein Buch auch nicht gelesen, halte aber nach allem, was ich darüber gehört habe, eine Konversion Habermas’ zum Katholizismus für ziemlich ausgeschlossen).
Das Aufgeben der atheistischen Sicht ist eine theoretische »Forderung«, die von den gemeinhin verhärteten Fronten wegführen soll. Wie gesagt, die Aufsätze sind mindestens zwei Jahre alt – die aktuelle Atheismuswelle kann Habermas nicht gekannt haben.
Für das Wesen des »Diskurses« (mir fällt ausser »Gespräch« nichts halbwegs treffendes ein) ist es wohl wichtig, nicht im Vorfeld Bedingungen zu knüpfen, die Gegenstand des Meinungsfindungsprozesses sind.
Die Entgegnung von Habermas würde mich auch interessieren. Vermutlich wird sie aber nicht stattfinden.
Gegen d’Arcais Fazit
Anstatt das entscheidende Problem der gegenwärtigen Demokratien anzugehen, nämlich ihr Gerechtigkeitsdefizit, ruft Habermas die Religionen zu Hilfe, gleichsam als Zuschlag für die Seele, das Gefühl und die Solidarität. Dadurch weicht er dem entscheidenden Problem aus: dem Kampf für die Demokratie in der Demokratie. Dem Kampf gegen die Macht des Privilegs und des Konformismus. – d’Arcais
Das Gerechtigkeitsdefizit scheint d’Arcias maßgeblichstes Problem der Demokratie zu sein. Warum entwickelt er dann nicht längs dieser Idee den Widerspruch zu Habermas Argumentationen und überführt ihn, diesem Defizit mit seinen Thesen den Weg zu bereiten? Nun, da es kaum möglich sein wird. Habermas bemüht sich um eine Kultur des Diskurses. Anstelle der Sprachlosigkeit stellt er das Verständnis anderer Gruppen, allerdings eben nicht um jeden Preis:
“Toleranz können wir nur gegenüber einer aus guten subjektiven Gründen abgelehnten Überzeugung üben, und zwar in der Weise, dass diese kognitive Ablehnung gleichwohl keine praktisch “unüberwindliche” Abneigung nach sich zieht.
Die Erwartung von Toleranz mutet uns zu, eine auf kognitiver Ebene fortbestehende Nicht-Übereinstimmung, die aus Gründen der Konsistenz nach der Auflösung von Widersprüchen drängt, […]« – Habermas
D’Arcais Fazit verpufft m.E. im Bedeutungslosen. Zu konstruiert erscheint mir der Gegensatz zwischen Habermas Versuch gesellschaftliche (religiöse) Strömungen in den verfassten Staat zu integrieren (durch Kommunikation Gleichberechtigter) und der Forderung des Kampfes der Demokratie in der Demokratie.
Die Macht des Privileg und des Konformismus ist nicht mit Verfassung und Mehrheitsentscheid allein zu brechen. Beide Mittel, die d’Arcais hochhält sind zu beugen (Man nehme Tagespolitik oder lerne aus der Geschichte). Was die Werte der Gesellschaft und ihrer Verfassung speist, das ist der Gedanke den Habermas in seinen Aufsätzen entwickelt und das ist der Punkt, den d’Arcais nicht berührt.
D’Arcais setzt – verkürzt gesagt – dem, was er »Moderne« oder »liberale Demokratie« für absolut. Er unterzieht dem, wie bereits oben gesagt wurde, keiner Reflexion mehr und auch keiner Begründung. Das man in wesentlichen Details, was die Ausgestaltung der Gesellschaft angeht, sehr wohl anderer Meinung als er sein könnte, ist für ihn praktisch gleichbedeutend mit »Ketzertum«; atheistischer Natur, sozusagen.
Zum einen ist es das so wie sie sagen, zum anderen trennt er jeden Strang, der zur Verständigung beitragen ab (auch das deuten sie in ihrem Kommentar an). Im Gurnde reagiert er, wie es Habermas erwartet, indem dieser von den Sekularen Verständnis gegenüber den Religiösen fordert. Ich denke Habermas hat die Zeichen der Zeit richtig gedeutet und eine Fundametalisierung der »Vernunft« befürchtet, wenn man so will. Indem er die Kriterien der Toleranz, die man gemeinhin von den Religiösen zugunsten der Moderne einfordert, auf die Sekularen anwendet, zeigt sich die Analogie beider Bewegungen. Die bioglogistische oder naturalistische Anschauung steht in ihrer totalitären Haltung, auch und gerade was die Berufung auf Tatsachen angeht, der Religiösen in nichts nach.
Das nur als Ergänzung und um den Gedanken für mich selbst zu fassen.
#2 – Klassisches Missverständnis
Ich meinte nicht Deinen, sondern Flores d’Arvcais Artikel, und das Foto in der ZEIT.
Zugespitzt könnte man sagen, dass Flores d’Arvcais eine Verabsolutierung der Moderne betreibt, während Habermas einen Schritt hinter seine Position machen kann. Ersteres kann schnell ins Ideologische kippen, bzw. ist das vielleicht schon.
Später hoffentlich mehr.
@Metepsilonema
Ich glaube, Flores d’Arcais springt auf zwei Züge auf: Den des sich religiös gebenden Atheismus und, was ich auf Dauer für gefährlicher halte, den einer Art diktatorischer Demokratie (»Demokratur«), wie sie zuletzt (als »Export« erfolglos) von den Neokonservativen in den USA propagiert wurde (freilich mit der Religion in Gepäck – was den kreis wieder schliesst).
@Gregor
Vielleicht gibt es noch andere Gründe für die Habermas’sche Sicht der Dinge. Offensichtlich mangelt es unseren Gesellschaften an integrativer Kraft, wie man z.B. an den sogenannten »homegrown terrorists« sehen kann, ja mehr noch, die Moderne und die mit ihr erfolgte Individualisierung bringt ein unbefriedigendes Lebensgefühl mit sich: Entfremdung, Leere, Kälte. Hartmut Böhme schreibt in seinem Buch »Fetischimus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne« (das ich leider noch immer nicht fertig gelesen habe):
»Während Modernisierungsprozesse die formale Integration der Gesellschaft zu leisten vermögen, bieten sie keine gehaltvollen Identifikationen, welche die Moderne in attraktiver Evidenz erfahren lassen. Viele Menschen, Gruppen und Subkulturen haben zur Modernisierung ein distanziertes, utilitaristisches Verhältnis, das entsprechend instabil ist.«
Er spricht von einander widersprechenden Verhaltensweisen, vom Wechsel zwischen modern und vormodern, »funktionale Arbeitseffizienz« und »kollektive Ekstasen«, und kommt weiter unten zu dem Schluss:
»Demokratie bedarf der Kulte, diese aber bedürfen nicht der Demokratie.«
Wenn das stimmt, und ich glaube dafür spricht einiges, dann brauchen wir die Selbstreflexivität der Moderne mehr denn je. Es müssen alle Teile der Gesellschaft am Gespräch teilnehmen, und nicht nur bestimmte, sonst ist der Zerfall vorprogrammiert.
Die klare und einheitliche Alternative, die den als fragmentiert und einsam erfahrenen westlichen Gesellschaften oftmals gegenübergestellt wird, ist der Islam.
Das Buch klingt interessant.
Leute wie Flores d’Arcais kontern das Argument, dass die Moderne die Selbstreflexivität benötigt, um ihre Attraktivität wieder zu steigern (schönes Wort, das mit den »gehaltvollen identifikationen«) unter Umständen damit, dass sie die Grundprinzipien dieser Moderne nicht mehr diskutieren wollen, sondern für eindeutig definiert halten (bspw. ‘laizistisch, säkular und pragmatisch’).
Wo wir Diskussions- bzw. Diskursbedarf sehen, ist für seinesgleichen alles schon erledigt. Es wird schwierig, die Notwendigkeit der »Befragung der Moderne« derart zu organisieren, dass (1.) allgemein gültige und akzeptierte Grundlagen geschafft werden und (2.) diese Grundwerte dann als absolut zu setzen, ohne auf den permanent kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen.