Bekannt wurde Otto Depenheuers Buch Selbstbehauptung des Rechtstaates durch Wolfgang Schäubles Anmerkung, es wäre seine »Nachtlektüre«. Prompt griff Gunter Hofmann in der »ZEIT« dies auf und verfasste am 9. August 2007 einen nachdenklichen, fast ein bisschen ängstlichen Artikel, was denn unser derzeitiger Innenminister für ein Buch lese.
In der Tat. Depenheuers Buch fordert den Leser in mehrfacher Hinsicht heraus. Zunächst einmal, in dem es dezidiert Fragen stellt, die abseits von idyllisierenden Staats- und Verfassungsvorstellungen legitim und in Anbetracht aktueller Welt- und Bedrohungslagen durchaus berechtigt sind. Desweiteren, weil Depenheuers Antworten – die gelegentlich bis in die Polemik gehen (hierüber wird noch zu reden sein) – für den heutigen, im Grundgesetz der Bundesrepublik gut beschützt aufgewachsenen Wohlstandsbürger (der von ihm zu gegebener Zeit mit den Vokabeln saturiert und hedonistisch charakterisiert wird) arg provokativ anmuten.
Und schliesslich wird man sich mit einer Interpretation von Staats- und Verfassungsfragen auseinandersetzen müssen, die in grossen Teilen fast direkt auf die Thesen von Carl Schmitt, diesen »scharfsinnigen Geistesverwirrer« (Udo Di Fabio), rekurrieren. Depenheuer zitiert Schmitt laufend (nicht nur im letzten Kapitel, wenn es um das Bürgeropfer geht) und seine Affinität zu Schmitts Thesen ist auffallend und wird offen eingestanden.
Das Ende der Spassgesellschaft
Worum geht es? Für Otto Depenheuer, Professor für »Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie« an der Universität zu Köln, ist der Anschlag der Heiden der säkularen Rechtsstaatlichkeit und individuellen Freiheit vom 11. September 2001 ein Fanal. Als die beiden Flugzeuge in die Twin-Towers flogen, war es mit einem Schlag vorbei mit Integration, Autopoiesis und Selbstreferentiarität. Die Spassgesellschaft verstummte, so der Befund, und hintergründige Angst machte sich breit. Scheinbar erliegt Depenheuer der »traumatischen Obszönität« (Ulrich Beck) dieser Symbolik.
Diese Anschläge (die beiden anderen, nicht derart bebilderten Anschläge vom 11.09., erwähnt er interessanterweise nicht) markieren für Depenheuer (mit Huntington als Kronzeugen) die Realität eines weltweiten Bürgerkrieges. Die brutale Gewalt des Politischen brach in die von Hedonismus und Wohlstand bis dahin geprägte, den Nationalstaat langsam auflösende, multikulturell sich gebende Welt ein. Sogar das Scheitern des EU-Verfassungsprojekts betrachtet Depenheuer als Folge der Anschläge des 11. September. Als hätte es dafür 2005 nicht andere Gründe gegeben.
Der freiheitliche Rechtsstaat, jenes Konstrukt, welches die Fähigkeit und die Bereitschaft sicherstellt, Frieden nach innen und Sicherheit nach aussen effektiv zu garantieren, ist durch diese nackte Gewalt in seiner Existenz gefährdet.
Ernstfall und Normalität
Die nackte Gewalt von Terroristen steht der staatlichen Gewalt, welche als Anfang alles, auch staatlich garantierter Ordnung gesehen wird, diametral entgegen. Indem Terroristen diese staatliche Gewalt und die Legitimität der bestehenden Rechtsordnung des Staates prinzipiell ablehnen, entsteht für den Staat eine existenzielle Krisensituation, die Depenheuer als Ernstfall bezeichnet.
Im Gegensatz zum Ernstfall steht die Normalität. Hier gibt es zwar auch Rechtsbrüche, aber diese können mit »normalen« polizeilichen Mitteln verfolgt und sanktioniert werden. Rechtsverstösse (also Kriminalität) in der Normalität stellen den Staat und sein Gewaltmonopol nicht per se infrage.
Der klassische Ernstfall für einen Staat ist der Krieg, in dem sich Armeen gegenüberstehen; normativ betrachtet ist das der Ausnahmefall. Und mit Carl Schmitt ist für ihn der Ausnahmefall nur die intensivste Form des Ernstfalls. Das klingt wie Haarspalterei und am Anfang kokettiert Depenheuer ein bisschen damit, dass Juristen nun einmal quasi als Affekt, die Ausnahme…denken. Im weiteren Verlauf zeigt sich jedoch, dass die Dichotomie Ernstfall – Normalität eine wichtige Rolle spielen wird – und nicht nur, wenn es darum geht, eine neue Gewichtung von Polizei- und Kriegsrecht vorzunehmen.
Angriffe auf die Normalität, so Depenheuer, können nicht mehr alleine von der Polizei verfolgt werden. Er plädiert für eine der jeweiligen Situation angemessene Einbindung auch des Militärs in die inneren Sicherheitsmassnahmen; ja, er schreckt nicht einmal vor dem Ausrufen des Kriegsrechts zurück. Und nachdrücklich wird im Laufe dieses Kapitels auf wenigen Seiten das Carl Schmitt-Wort Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet zitiert.
Die Definition des asymmetrischen Krieges (u. a. bei Münkler) ist ein weiterer, wichtiger Terminus in diesem Buch. Der offensive Terrorismus der Gegenwart kämpft nicht von einem Territorium aus, sondern führt seinen unsichtbaren Kampf personalisiert und entterritorialisiert. Für Depenheuer ist diese Art der Bedrohung der Ernstfall, aber noch in der Normalität. Wir befinden uns zwar nicht im klassischen Kriegszustand, aber es handelt sich zweifellos um einen substantiellen Angriff auf das Staatswesen, weil politische Überzeugungen…nicht…nach den Regeln des Staates durchgesetzt werden sollen. (Ulrich Becks Gedanke, dass, wer den Terrorismus zu einem reinen Sicherheitsproblem verkürzt und praktisch in ständiger Antizipation vor einem Anschlag lebt, den Terroristen geradezu in die Hände spielt, scheint Depenheuer fremd zu sein.)
Scharfe Polemik gegen das Bundesverfassungsgericht
Aufgrund dieser Asymmetrie konstatiert Depenheuer eine ungleiche Gegnerschaft. Das Grundgesetz, so die These, sei für diese Auseinandersetzung nicht ausreichend gerüstet. Während sich der Terrorist an keine Regularien hält (im Vergleich beispielsweise zu der immerhin theoretischen Normierung des »normalen« Krieges), bleibt der Staat zu rechtsgebundenem Handeln verpflichtet und an seine Ordnung gebunden. Dies, so Depenheuer, erleichtere den Terroristen das Handeln.
Als Präzedenzfall für eine derartige Ungleichgewichtung stellt für ihn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherungsgesetz dar. In scharfer Form konstatiert Depenheuer, das Gericht verschärfe die rechtliche Asymmetrie noch, indem es die Abschussermächtigung wegen Verstosses gegen das Recht auf Leben in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie derjenigen, die als tatunbeteiligte Menschen an Bord eines Luftfahrzeugs betroffen wären, für verfassungswidrig erklärte. Dies sei eine Einladung an Terroristen, die von nun an wüssten, sobald sie die Grenze zur Bundesrepublik überquerten, sei das Gelingen ihres Anschlags gewisser.
Depenheuer konstatiert ein Kontinuum in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts – er nennt, am Rande noch, unter anderem die Urteile zur Rasterfahndung und zur legalen Befehlsverweigerung. Der Staat sei auf dem Wege, zu einem reinen »Gedankenstaat« (Hegel) zu werden. Es bleibt, so die Argumentation, nur das ohnmächtige Schauen. Der Staat nehme den Tod der Menschen, die sich in einem Hochhaus befinden und auf die die Maschine zurast, billigend in Kauf. Diese Verfassungsintrovertiertheit, so Depenheuer, drohe in einen Verfassungsautismus umzuschlagen, der es ermöglicht, […] sich den Herausforderungen staatlicher Selbstbehauptung zu entziehen. Er nennt dieses Denken verantwortungslos und wirklichkeitsblind. Für ihn bedeutet der prinzipielle Verzicht auf Selbstbehauptung (ein Euphemismus für ‘Wehrhaftigkeit’) deren faktische Preisgabe. Folgerichtig schliesst er: Den Worten, unbedingt für die Werte des Verfassungsstaates einzutreten, sollen – im Namen eben dieser Werte – keine Taten folgen dürfen. Diese Perversion des Rechtsdenkens darf als Verrat an den Ideen und Werten freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit bezeichnet werden… [Hervorhebung von mir.]
Depenheuer ereifert sich geradezu in diesem eigentlich ziemlich exotischen Szenario (er lässt keinen Zweifel daran, dass es für ihn grundsätzlichen Charakter hat). Für ihn ist es schlichtweg skandalös, dass in diesem Fall keine Rechtssicherheit besteht. Dass das Bundesverfassungsgericht einen eventuellen Abschuss einer Maschine gar nicht verboten hat, sondern nur die Festschreibung dieses Vorgangs als Gesetz, erwähnt er gar nicht. Damit erweist er sich als Generalist, der alle potentiellen Gefahrenlagen verrechtlicht sehen möchte. Er übersieht dabei keinesfalls, dass den Terroristen mit der Todesdrohung, die Maschine abzuschiessen, nicht beizukommen ist (schliesslich mündet die Tat ja in der Selbsttötung), möchte jedoch das triumphale Gelingen der Aktion damit verhindern.
Das »Feindrecht«
Der freiheitliche Rechtsstaat ist für Depenheuer ein in vielen Entbehrungen und Kriegen erworbenes, schützenswertes Gebilde. Dieser Schluss überrascht in Anbetracht der Tatsache, dass hieraus eine Art Entwicklungskontinuum behauptet wird, welches so zumindest für die Bundesrepublik nicht existiert. Er sieht sich als Weiterentwickler eines wehrhaften Rechtsstaates, der seine Werte offensiv verteidigt. Die Asymmetrie im Angriff auf diesen Rechtsstaat versucht er mit einem zweiten Schritt aufzuheben: dem Feindrecht.
»Feind« ist, wer die politische Existenzform der verfassten Gemeinschaft aktiv negiert, die Verfassung des Staates gewaltsam ändern will, die Idee eines freiheitlich-rechtsstaatlichen Gemeinwesens, das auf Grundrechten und Demokratie, Anerkennung des Rechts und Säkularität des Gemeinwesens, d. h. auf der Trennung von Wahrheit und Recht beruht, prinzipiell ablehnt und gewaltsam zu zerstören trachtet.
Abermals steht Schmitt bei dieser Definition Pate. Wichtig ist dabei, dass mit Feind nicht einfach der »Verfassungsfeind« aus den 70er Jahren gemeint ist, dessen Gesinnung es zu sanktionieren gilt, sondern der durch sie [die Gesinnung] motivierte politische und gewaltsame Kämpfer gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Dabei definiert Depenheuer den Feind längst als islamistischen Terroristen (was in Anbetracht der immer zahlreicher dokumentierten »No-go-Areas«, in denen der rechtsradikale Mob entrechtete Zonen implementiert hat, mindestens als unvollständig betrachtet werden muss) und begibt sich – wenigstens das hätte man vermeiden können – sogar in die Niederungen Broderscher Argumentation, in dem er bereits Änderungen in der Lebensform in Staat und Gesellschaft ausmacht, und zwar von Appeasementversuchen bis zu Formen der Selbstzensur, in einer Art vorauseilendem Gehorsam des lieben Friedens willen.
Konsequent denkt Depenheuer seinen Feindrechtsentwurf weiter: Staatstheoretisch könnte der Feind des Rechtsstaates von der Rechtsordnung als Feind qualifiziert und damit ausserhalb des Rechts gesetzt werden. (Die Vokabel »könnte« ist hier ein Euphemismus). Der Feind steht (vorübergehend oder dauerhaft – das wird nicht thematisiert) eindeutig ausserhalb des Gesellschaftsvertrages – und somit dezidiert ausserhalb der Gesellschaft. Er hat das solidarische Gegenseitigkeitsverhältnis, die Achtung der gemeinsamen Rechtsordnung, einseitig beendet – nun ist der Staat berechtigt, in diesem Sinne die vorgefundene Asymmetrie auszugleichen. Der Feind ist kein Bürger mehr.
Vogelfrei
Gipfel der aphoristischen Schönschreiberei ist die Kapitelüberschrift Der Feind hors de la loi. Das bedeutet nichts anderes als: Der Feind in Depenheuers sich selbstbehauptendem Rechtsstaat steht »ausserhalb des Gesetzes« (also auch ausserhalb des Schutzes von Gesetzen). Er ist – vogelfrei.
Zwar wird klargestellt, dass auch der Feind ein Mensch bleibt und als solcher zu behandeln ist. Und der entsprechende »Feind-Status« muss in einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren ermittelt werden. Insofern würde sich dies von der Praxis des Gefangenenlagers Guantánamo abheben (wobei dieses Vorgehen durchaus als Möglichkeit betrachtet wird; genauer lässt er sich allerdings nicht aus). Aber mit dem Status des Feindes gehen entscheidende Bürgerrechte verloren. Welche das im Einzelfall sind, bleibt offen. Aber wenn man die Pläne des Bundesinnenministeriums in den letzten Monaten Revue passieren lässt, kann man sich einiges vorstellen.
Depenheuer weist darauf hin, dass der Staat jetzt schon zwar kein formelles, wohl aber materielles Feindrecht kenne. Es habe sich, so die These, eine Rechtsmaterie etabliert, die materiell das Feindrecht qualifizieren und den Fehler der Eskamotierung des Feindes aus dem Strafrecht beheben könne. Dabei ist es klar, dass der Bürger unter Umständen durch das präventiv feindlichen Gefahren vorbeugende Feindrecht Einbussen in ihrem Freiheitsstatus hinnehmen muss. Diese muss – so die These – erduldet werden, um wirksam die Feinde bekämpfen zu können.
Das strafrechtliche Feindrecht (oder auch Feindstrafrecht) reagiert auf terroristische Bedrohungslagen derart, dass die strafbarkeitsbegründenen Tatbestände weit in den Bereich der Planung, Vorbereitung und Organisation vorverlagert werden. Nicht nur um das Aufspüren des Täters nebst Sanktionierung geht es, sondern – vor allem – die Tat zu verhindern. Feindstrafrecht erweist sich als rechtsstaatlich gebändigter Krieg gegen den Terrorismus – so lautet zusammengefasst das Credo.
Aber wie eine Gesellschaft, die sich als »freiheitlich« versteht, irgendwann aussieht, die eine Art a‑priori-Stigmatisierung bestimmter religiöser und/oder ethnischer Gruppen betreibt, um ihr Feindrecht auch wirklich »zielgerecht« anwenden zu können, wird – merkwürdigerweise – nicht thematisiert. Obwohl Depenheuer anderenorts im Buch sehr wohl soziologische Aspekte aufgreift.
Und dann noch das »Bürgeropfer«
Mittels des Feindrechts will Depenheuer also die rechtliche Asymmetrie zwischen Terrorist und Staat aufheben und ein Gleichgewicht der »Parteien« wieder annährend herbeiführen. In seinem letzten Kapitel holt er zu einem weiteren, wahrhaft gruseligen Gleichgewichtungsversuch aus. In abermaligem Rekurs auf das Beispiel des auf ein Hochhaus in eindeutiger Absicht zurasenden Flugzeugs wird das Bürgeropfer entdeckt.
Das Bundesverfassungsgericht nehme, so der Tenor, durch das Verbot der gesetzlichen Regelung eines Abschusses der Maschine dem Bürger die Möglichkeit, als wahrer Verfassungspatriot ein Opfer für den Staat zu bringen. Dieses Bürgeropfer, welches wir, so der Denkansatz, ohne Probleme von unseren Soldaten, beispielsweise in Afghanistan (den Einsatz selber goutiert Depenheuer) und – im Inneren – von den Polizisten quasi verlangten, müsse – mindestens in der Theorie – jeder Bürger auch bereit sein, zu erbringen.
Die Überlegung: Die Passagiere im Flugzeug, die ohnehin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in wenigen Minuten stürben, könnten, in dem der Abschuss der Maschine erfolgt und also die Tat der Terroristen nicht »vollendet« werden kann, durch das Opfer ihre Solidarität in sichtbarer Anerkennung zum Staat zeigen.
Zunächst wird ein kurzer Abriss gegeben, wie der Opfergedanke in Deutschland historisch diskreditiert sei und im Denken nicht mehr vorkommt. Man ‘bringe’ keine Opfer mehr, sondern ’sei’ es höchstens noch (in dann freilich anderem Zusammenhang). Eindringlich versucht Depenheuer der pflichtenlosen Selbstentfaltung durch das Bürgeropfer entgegen zu wirken. Den im Prinzip richtigen Gedanken, bei Grundrechten auch so etwas wie ‘Grundpflichten’ mit zu thematisieren, pervertiert Depenheuer dabei gründlich. Man mag den Opfergedanken in künstlerisch-philosophischen Filmen wie beispielsweise Tarkowskijs berühmtem Werk »Opfer« oder Lars von Triers »Breaking the Waves« thematisieren können – aber in einer rechtsphilosophischen Schrift dem Selbstmordattentäter als Gegenpol den zum Opfer bereiten verfassungspatriotischen Bürger gegenüber zu stellen, mutet nicht nur skurril, sondern gefährlich an. Als Konsequenz wäre der Bürger auf gleicher Stufe mit dem Terroristen – hie wie dort wäre die Bereitschaft, für »eine Sache« zu sterben.
Dabei wird übersehen, dass eine der Errungenschaften von freiheitlich-liberalen Staaten unter anderem in der energischen Ablehnung von archaischen Opferriten liegt. Das bedeutet natürlich nicht, dass sich der Bürger folgenlos auf die »Vorteile« des Staates berufen kann, ohne entsprechende Bereitschaft zu zeigen, auch in einem bestimmten Fall für ihn einzutreten. Depenheuer beklagt – nicht zu Unrecht – das die Bürger in den meisten Fällen ihr »Opfer« nur noch in Form der Steuerabgaben sehen. Hieraus könne keine starke (emphatische) Bindung an den Staat entstehen, der letztlich als quasi selbstverständlich angesehen werde. Der von ihm stattdessen theoretisch eingeforderte Opfergedanke schiesst jedoch weit über das in einem aufgeklärten Staatswesen zulässige hinaus.
Rechtsautisten vs. Sicherheitspolitiker
Für Depenheuer gibt es – kurz gesagt – einerseits die moralischen Apologeten unantastbarer Verfassungsgesetze, die er gerne polemisch als Rechtsautisten bezeichnet – und andererseits die Theoretiker einer realistischen Friedens- und Sicherheitspolitik. Richtig ist natürlich, dass Rechte (auch Grundrechte) nicht um ihrer selbst willen existieren. Staaten, die blumige Freiheitspräameln in ihren Verfassungen haben, aber in Wirklichkeit diktatorische Regime sind, gibt es genug. Und ein allzu starres Festhalten an durchaus bewährte Normen darf durch bestimmte Entwicklungen hervorgerufene, vielleicht notwendige Veränderungen nicht ausschliessen. Es muss allerdings immer beachtet werden, dass – um es volkstümlich auszudrücken – das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.
In einer Fussnote betont Depenheuer übrigens, dass er den Begriff des Staates nicht als »Nationalstaat« nach ethnischen Merkmalen versteht, sondern sehr wohl globalisiert sieht, als Staatengruppen nach kulturellen Standards (was natürlich Huntingstons Kulturkampf-Szenario geschuldet ist). Und vollständig blind den Ursachen des von ihm so vehement bekämpften islamistischen Terrorismus zeigt er sich auch nicht, wenn er in einem kleinen Exkurs konstatiert, dass es neben dem von ihm propagierten Feindrecht auch einer Feindpolitik bedarf, die sich um die Ausbildung kommunikativer Strategien mit potentiellen Feinden bemüht. Den blossen Kulturimperialismus lehnt Depenheuer ab; die Verfassungsstaaten müssten ihrerseits Anschlussfähigkeit entwickeln: worauf hören die potentiellen Feinde, was können sie verstehen, welche Erzählungen können sie beeinflussen? Das ist ein entschiedenes Plädoyer für ein interkulturelles Gespräch (wobei der unlängst von Benedikt XVI. angestossene Dialog mit dem Islam als Beispiel herangezogen wird).
Prominente Antwort
Wozu aber diese Lektüre? Lohnt sie sich überhaupt – in dem Sinne, dass ein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist? Und kann man nicht wunderbar die über Jahrzehnte so trefflich erlernten Ekelreflexe als Referenz für das empörte Ignorieren heranzerren?
Man kommt nicht weiter, wenn man in die üblichen Ablehnungsmuster verfällt. Die »gute Gesinnung«, die man gelegentlich ganz gerne vor sich herträgt, muss Erschütterungen dieser Art nicht nur vertragen können sondern braucht sie geradezu als Gegengewicht zur Selbstbehauptung. Ich nenne dies Selbstvergewisserung. Die Lektüre ist ein Akt der Selbstvergewisserung der Möglichkeiten und Grenzen des freiheitlichen Rechtsstaates.
Seit einigen Tagen gibt es allerdings auf einige Punkte von Depenheuers Argumentation auch eine prominente Antwort. Sie kommt von Udo Di Fabio, Richter am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. In einem Essay in der »Welt« mit dem programmatischen Titel »Westen muss Westen bleiben« geht Di Fabio – ohne Depenheuer namentlich zu erwähnen – auf zentrale Punkte seiner Argumentation ein.
Der Essay von Di Fabio, den man nach seinem Buch »Die Kultur der Freiheit« durchaus als wertkonservativen Geist mit allerdings stark liberalen Zügen bezeichnen könnte, kommt sehr wohl nachdenklich daher. Die Bedrohung des freiheitlichen Rechtsstaates durch den Terrorismus leugnet Di Fabio nicht. Dennoch ist seine Schlussfolgerung am Ende vollkommen anders. In der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit ergreift Di Fabio emphatisch Partei für das Primat der Freiheit:
- Der freiheitliche Verfassungsstaat will allerdings nicht Frieden um jeden Preis, sondern einen Frieden im Einklang mit unseren Wertegrundlagen, den Frieden für freie Menschen. Keiner hat Anspruch auf absolute Sicherheit, so wie es keine absolute Freiheit gibt. Wer einen Pol dieser Beziehung absolut setzt, zerstört unweigerlich den anderen.
Eindeutig spricht sich Di Fabio gegen ein Militärrecht oder Ausnahmerecht im Zivilen aus. Er bezieht ausdrücklich auch internationale Rechtsordnungen, wie die Charta der Vereinten Nationen oder die europäischen Verträge mit in seine Überlegungen ein (Depenheuer ignoriert dieses Eingebunden-Sein aus durchsichtigen Gründen). Und mehr als deutlich wird Di Fabio, wenn es um die tatsächlichen Probleme in der Strafverfolgung geht:
- Politiker, die regelmäßig schärfere Gesetze über alle Regelungsebenen hinweg verlangen und Kompetenzgrenzen als lästigen Ballast beklagen, lenken manchmal davon ab, dass sie sich in ihrer Budgetverantwortung zögerlich zeigen, Polizei oder Militär personell oder sachlich angemessen auszustatten.
Und am Ende verwirft Di Fabio mit knappen, aber markanten Worten sowohl das angedachte Feindrecht wie auch das Bürgeropfer:
- Die moderne westliche Rechtsordnung ist manchmal den betörenden Sirenengesängen einer mal progressiv oder ein andermal zweckrational effektiv daherkommenden Postmodernität ausgesetzt, die uns womöglich ein neues Mittelalter der Gruppenprivilegien und Sonderrechte schmackhaft machen will. Hier hinein – wie hinter den Burgzinnen verschanzt – passt auch das Feindrecht. Es ist die konservative Tonlage im großen Chor derjenigen, die seit Jahrzehnten bei jeder Herausforderung den modernen Staat als bewährte Institution verabschieden wollen. Doch die intellektuelle Lust am antizipierten Ausnahmezustand ist kein guter Ratgeber. Sie verfehlt auch ihr erklärtes Ziel, durch harte Maßnahmen mehr Sicherheit für die Freiheit zu schaffen. Der amerikanische »Krieg gegen den Terror« wird durch die Schaffung von Sonderrecht auf Guantánamo oder durch eigenwillige Interpretationen des Völkerrechts nicht effektiver gemacht, sondern à la longue geschwächt: So kann der Westen von vornherein nicht gewinnen, er verliert in dem Maße, in dem er nicht Westen bleibt. Wer die Identitätsmerkmale der Humanität und Rechtsstaatlichkeit aufgibt, opfert sich selbst und kann in unserer Rechtsordnung schwerlich Opfer von den Bürgern verlangen.
Selbstverständlich konstatiert Di Fabio die Möglichkeit, dass der Staat in Grenzfälle geraten könnte. Vor einem »intellektuellen Spiel« mit dem Grenzfall warnt er jedoch ausdrücklich. Der in der letzten Zeit extremen Hysterisierung – und zwar auf beiden Seiten – tritt Di Fabio am Ende entgegen:
- Wer jede neue Sicherheitsmaßnahme als Weg in den Überwachungstotalitarismus brandmarkt, überzieht und verliert Glaubwürdigkeit. Wer aber die vielleicht schwindende pragmatische Alltagsvernunft durch den harten Lehrmeister des gesetzlosen Ausnahmezustandes und die Reanimation des verklärten Opfertodes zu ersetzen gedenkt, setzt – wenngleich vielleicht in bester Absicht – doch das zivilisatorische Niveau des Westens aufs Spiel.
Fazit
Depenheuer wird sich durch diese Aussagen hinsichtlich des Verfassungsautismus vielleicht wieder bestätigt sehen. Irgendwo im Buch konzidiert Depenheuer allerdings, dass eine Gesellschaft, die sich dezidiert gegen Massnahmen wie die von ihm beschriebenen, ausspreche und das »Risiko« bereit sei, Terroranschläge als quasi unvermeidbares Übel hinzunehmen – das ein solcher Wille einer Gesellschaft sehr wohl zu akzeptieren sei.
In diesem Sinn muss man wohl feststellen, dass das Gros der Gesellschaft Massnahmen, die den Rechtsstaat beschützen sollen, ihn aber gleichzeitig bis zur Unkenntlichkeit entstellen, ablehnt. Konstrukte wie Feindrecht und Bürgeropfer dürften fast uneingeschränkte Ablehnung finden. Andere Massnahmen müssen im Rahmen einer Gefahrenabwehr bzw. besseren Verfolgung von Straftaten sehr wohl erwogen und offen dem öffentlichen Diskurs ausgesetzt werden. Hier ist vor hysterischen Affekten, die einer reinen Konservierung des Bestehenden als Selbstzweck das Wort reden, eindringlich zu warnen.
Alle kursiv gedruckten Passagen sind aus dem Buch »Selbstbehauptung des Rechtsstaates« von Otto Depenheuer.
Bei solchen ausführlichen Rezensionen wäre eine PDF-Version zum Herunterladen gut. Ich werde sie mir nochmal in Ruhe ansehen, der erste Eindruck ist: Sehr interessant.
Der Mensch kann nicht alles lesen. Da bedanke ich mich für die Möglichkeit, eine ausführliche Rezension (+ interessante Links) lesen zu können.
Beachtlich finde ich die Wendung, in der di Fabio von einem neuen »Mittelalter der Gruppenprivilegien und Sonderrechte« spricht.
In deren Analyse, vor allem ihrer Rückführung auf politisch-ökonomische Interessen, sehe ich eine unerläßliche Bedingung zutreffender Gefahrenortung und ‑abwehr, in der am Ende auch die Strafverfolgung durch den demokratischen Rechtsstaat ihre Rolle spielt.
Ich las im ersten Anlauf: »Selbstenthauptung des Rechtsstaates«. Muß ich mir etwa Sorgen machen?
Nach der Lektüre wäre der Eindruck nicht ganz falsch.
Zweierlei
Ein sich immer stärker selbstbehauptender Staat wird irgendwann zu seiner eigenen Abstraktion, zu einem Selbstzweck, und damit verlöre er nicht nur seinen Sinn – der Staat ist für den Bürger da – er würde diesem letztlich sogar gefährlich werden (Nicht nur durch das geforderte Bürgeropfer, sondern auch weil immer mehr Bürger in den Rang von Verdächtigen fielen.).
Ich versuche mir gerade (ich glaube Du hast es auch angesprochen) vorzustellen wie ich – wäre ich ein Terrorist – zu solcherlei Entwicklungen stünde. Das hängt natürlich auch von »meinen« Zielen ab. Wahrscheinlich käme ich zu der Ansicht, dass meine Anschläge massive Folgen gehabt hätten, und insgeheim würden mich die Einschränkungen einerseits, die partielle Selbstaufgabe (siehe Di Fabio) andererseits freuen. Sehr wahrscheinlich würde das Feinddenken Terroristen sogar ermutigen, es wäre Wasser auf ihre Mühlen, der Westen zeigte sein wahres Gesicht.
Wie verhält sich denn die FDP in der aktuellen Diskussion, das ist doch eines ihrer Kernthemen? Dass Grüne und SPD eher ruhig sind, verstehe ich ja (Flugsicherungsgesetz).
Ulrich Beck erwähnt in seiner »Weltrisikogesellschaft« sinngemäss, dass ein Terrorist, der in der allgemeinen Hysterie um seine Wirkung weiss, den eigentlichen Akt gar nicht mehr auszuführen braucht bzw. mit bescheidenen Mitteln eine grosse Wirkung erzielen könnte.
In der Tat mag ich mir nicht ausmalen, wie ein geglückter Terroranschlag die Hysterie noch anheizen würde – insbesonder auf Seiten der Medien, die das natürlich enorm aufbauschen würden. Einen kleinen »Vorgeschmack« hatte man 1977 während der RAF-Zeit bekommen.
Danke der Nachfrage nach der FDP. Die findet in diesem Punkt – nicht statt. Es gibt den ehemaligen Innenminister Baum (ein sozial-liberaler, also nicht unbedingt Parteilinie und schon lange nur noch als Anwalt tätig), der jetzt zusammen mit anderen Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung einreichen will bzw. eingereicht hat (beim Bundesverfassungsgericht).
Meines Erachtens sagt die »offizielle« FDP nichts, weil man 2009 unbedingt mit der CDU koalieren möchte und gerade in diesem Thema keinen Dissens möchte. ich sage voraus, dass auch bei den vier Landtagswahlen 2008 dieses Thema von der FDP nicht aufgenommen werden wird. Sie haben auch schlichtweg zu wenig kerniges Personal hierfür.
»Dies sei eine Einladung an Terroristen, die von nun an wüssten, sobald sie die Grenze zur Bundesrepublik überquerten, sei das Gelingen ihres Anschlags gewisser.«
Aber ich heile doch keinen Darmkrebs, indem ich mir in den Bauch schieße!?
»Der Feind ist kein Bürger mehr.« ... »Die Überlegung: Die Passagiere im Flugzeug, die ohnehin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in wenigen Minuten stürben, könnten, in dem der Abschuss der Maschine erfolgt und also die Tat der Terroristen nicht »vollendet« werden kann, durch das Opfer ihre Solidarität in sichtbarer Anerkennung zum Staat zeigen.«
Oh Hölle, das ist ernst gemeint? Und das Buch ist nicht wegen Volksverhetzung auf dem Index?
Ich verstehe nicht, wie man mit solchen Ideen auch heute noch und in unserem Land auf Dummenfang gehen kann. Und Erfolg hat.
Inwiefern hat er Erfolg? Und: Warum soll das Volksverhetzung sein?
(Da ich nicht weiß, ob mein zweiter Kommentar ‘durchkam’, hier noch einmal ein Versuch der Erklärung.)
Als Erfolg definiere ich, wenn ein führender Politiker ein bestimmtes Buch nicht nur erwähnt, sondern sogar als seine ‘Nachtlektüre’ bezeichnet. (Wobei ich natürlich nicht weiß, ob Schäuble da mal wieder ironisch war. Wie bei der Bemerkung von der Größten Vorratsdatenspeicherung aller Zeiten.)
Und als Volksverhetzung – im Sinne von »Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, [...] zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen [bestimmte Teile der Bevölkerung] auffordert« – empfinde ich, wenn jemand nicht nur den möglichen Abschuss von gekaperten Flugzeugen vorsieht (wie Jung und Mixa), sondern diesen Massenmord an zigdutzend Passagieren auch noch zu einer der guten Sache dienenden Opfergabe verklärt, mit dem die Opfer fraglos einverstanden sein werden.
Jedenfalls habe ich das so ungefähr verstanden, ohne dieses Sach(?)buch gelesen zu haben. Leider bin weder Jurist noch Politiker, nur ein angewiderter Bürger, darum könnte es sein, dass solche in Buchform erschienenen Ideen nicht wirklich volksverhetzend sind, sondern nur unmenschlich.
Danke für die Klarstellungen
Zunächst einmal glaube ich, dass die Äusserung Schäubles nicht ironisch gemeint war. Wenn man das Buch liest, kommt einem sehr viel aus der zurückliegenden Diskussion bekannt vor. Ich vermute, dass Schäuble sich mit vielen Gedanken (er ist ja selber Jurist) in Depenheuers Buch wiederfindet. Um nicht direkt Bezug auf Carl Schmitt zu nehmen (der ja einigermassen »verbrannt« ist), ist es eleganter, Depenheuer vorzuschlagen (der jedoch ausgiebig Schmitt zitiert und übriegens auch Isensee, der ja der »Schmitt-Schule« durchaus zuzuordnen ist und Depenheuers Mentor ist).
Allerdings geht das öffentliche Einverständnis offensichtlich nicht sehr lange. Vom Feindrecht und dann später dem Bürgeropfer habe ich Schäuble noch nie reden hören (mindestens letzteres wäre auch m. E. in einer liberalen demokratischen Gesellschaft unmöglich für einen Innenminister).
Was mich an der Diskussion um den Abschuss einer auf ein Hochhaus zufliegenden Maschine am meisten überrascht, ist, mit welcher Intensität hier ein solch extremer Fall diskutiert wird. Das kann man auch hier wieder sehen. Wieso verwenden Sie das Wort »Massenmord«? Es ist rein alarmistisch. Was ist an dem Gedanken zunächst einmal verwerflich, eine Maschine abzuschiessen, deren Insassen sowieso, Sekunden oder maximal Minuten später, tot sein werden, um damit diejenigen, die in diesem Hochhaus sietzen, vor dem ebenfalls fast sicheren Tod zu bewahren? Den Gedanken, diese Maschine unter diesen Voraussetzungen abzsuchiessen, finde ich zunächst einmal nicht abwegig. In der Ethik werden mit Hilfe des sogenannten Trolley-Problems solche Szenarien immer wieder diskutiert.
Man sollte also zunächst einmal – das ist meine Meinung – nicht per se die Absichten der Diskutanten diskreditieren. Beantwortet man das moralische Dilemma dieser Lage dahingehend, dasss man für einen Abschuss dieser Maschine plädiert, so stellt sich die Frage für den Juristen (und den Politiker), ob bzw. wie man diese Problematik verrechtlicht, d. h. mit eindeutigen gesetzlichen Zuweisungen versieht. Das BVerfG hat dies eindeutig abgelehnt, übrigens – und das mit häufig vergessen – ohne die Aktion an sich zu bewerten. Es ist in der Urteilsbegründung nirgendwo davon die Rede, dass der Abschuss der Maschine an sich menschenunwürdig sei. Worauf sich das Gericht bezieht ist – und das ist m. E. richtig -, dass eine Abwägung »Menschen gegen Menschen« nicht per Gesetz dekretiert werden kann. (Hier ist auch noch einmal beschrieben, wie 1972 der damalige Bundesverteidigungsminister Leber vor einer ähnlichen Entscheidung stand.)
–
Über Depenheuers Gedanken des Bürgeropfers braucht man m. E. tatsächlich kaum diskutieren. Sie widersprechen dem Geist eines liberalen Rechtsstaates. Der Straftatbestand der Volksverhetzung ist in § 130 StGB geregelt. Das trifft auf dieses Buch nicht zu.
Ja, das man hier teilweise mehrmals Kommentare eingeben muss, trifft – leider – insbesondere für die nicht bei twoday angemeldeten User zu. Sorry.
‘S ist Krieg!
Ehrlich gesagt, will ich mich schon lange mit diesem Depenheuer befassen, finde aber nicht richtig hinein. Das kann mit der Vertracktheit der Rechtsthematik zu tun haben (derart in Grundsätzlichkeiten schwelgen ist nicht jedem gegeben), aber auch mit einem Gefühl, dass das mit all der Wohlgesetztheit der Argumente letztlich geht. Ich kann nur – analog zur RAF seinerzeit – etwas tief Verweifeltes, Irrationales, etwas Quichottisches auch bei Teroristen vermuten: Selbstaufgabe, Negierung aller Regeln, Bereitschaft zum Letzten: dem eigenen Tod. (Dazu kommen Pradiesvorstellungen, die, wörtlich genommen, einem eigentlich nur kindisch scheinen.)
Schon klar: Die Rückführung der Sachlagen auf das Eigentliche, das Recht des Staates, soll die Diskussion wieder auf den Kopf stellen, in eine rationale Perspektive heben. Aber da erschöpft sie sich dann auch rasch. (Ich habe in London einen GSD falschen Alarm erlebt: Dieses Klima von Angst und Unübersichtlichkeit macht mit einem etwas ganz anderes – man versteht, dass man selber ein Bündel von Irratio ist und zuletzt hilflos, bei allem angestrengten Verstand.)
Was mich außerdme wundertt, ist, dass – auch hier, bei den Diskussionen – Giorgio Agamben nirgends vorkommt, der all das und weiteres mehr auch mit mehr Nebendiskursen im »homo sacer« etwa schon bedacht hat und das in eine weiter gehende/sehende historische Perspektive gestellt (bis hin oder daher also vom »Römischen Recht«, das ja tatsächlich die Grundlage auch unseres Rechts ist).
Das Fatale scheint mir ein bisschen – obwohl Carlo Schmitt also immer nur fruchtbar ist – sehr deutsch-verengt auf eine Weise, die Rechtspositionen auch etwas zu »rechts« anlegt, also markig-deutsch (wobei Schäubles Disposition hinzutendieren scheint: Das Recht als Grundlage einer Gerechtigkeit / Rechtfertigung auch des einseitigen Handelns, des Durchgreifens, der bellizistischen Selbstbehauptung: Endlich wieder Krieg!) Vielleicht liege ich da aber auch falsch... ich mags kaum weiterdenken.
Die Schwäche
von Depenheuer liegt ja u. a. darin, dass er die Sache nicht interdisziplinär bespricht, sondern in seiner rechts- bzw. staatsrechtsphilosophischen Abteilung bleibt. Daher taucht natürlich Definitionsfrage, wer überhaupt wann ein Terrorist ist, gar nicht auf.
Dass ‘Terrorist’ etwas Wertendes ist, kommt Depenheuer (und vielen anderen) offenbar gar nicht in den Sinn. In der aktuellen Kosovo-Frage (die sicherlich in den nächsten Monaten eskalieren wird), kann man das sehr schön sehen. Die ehemaligen, gewendeten UCK-Kämpfer gehörten, so die Nachrichtendiktion, der Befreiungsarmee der UCK an. In anderen Fällen sind ausgewiesene Sezessionisten aber immer ‘Terroristen’ (wie bei der kurdischen PKK). Es ist immer eine Sache des Standpunkts und Depenheuer hat den schon längst eingenommen.
Auch, dass er als Gefahr (!) ausschliesslich den islamischen Terrorismus als destabilisierend für den Rechtsstaat sieht, ist interessant. Was ist mit dem organisierten Verbrechen? Destablisiert es nicht viel stärker liberale Rechtsstaaten? Fast hat man das Gefühl eines gewissen Faszinosums vor der Wirkungsmacht transzendental unterfütterter Heilsversprechen.
Zu Agamben gibt es, was mich angeht, eine einfache Erklärung: Ich ahbe viel zu wenig von ihm gelesen; mehr über ihn, aber das kann man dann nicht seriös in so etwas einflechten (abgesehen davon, dass die Besprechung dann noch länger gewesen wäre).
Ich erinnere mich nur dieses Aufsatzes hier von Assheuer (den ich eigentlich nicht besonders schätze). Vielleicht können Sie einen kurzen Abriss geben?
Ein paar Stichworte zu Girgio Agamben
Also einen Abriss geben... nein, das traue ich mir nicht zu. Ich kann nur persönlich sagen, dass dieser Mann in fast allen Lektüren ein höchst inspirierender war. (Ich messe das meist an den Verunsicherungen, die mein kleines Weltbild dann immer erleidet.)
Dazu kommt aber, dass die Thematiken bei ihm so vielfältiger angelegt sind – fundamentaler könnte man sagen, wie zugleich unendlich viel geistreicher hergeleitet bei all der komplex herbeizitierten Hellsichtigkeit – wie damit auch schwerer auf einen Punkt zu bringen.
Dieser Schwerpunkt auf das Recht, also das „Römische“ und seine Lesarten seither, unterliegt jedenfalls nicht einer solchen Verengung darauf wie bei diesen oft etwas papiernen oder Apparat-gläubigen Staatsrechtlern (oder eben deren eingenommener Perspektive).
Noch etwas fällt mir bei Ihrer Erwähnung des organisierten Verbrechens ein: Was ist mit den über-nationalen Oragnisationen, sogar denen, die das Recht je dort hernehmen, wo es ihnen am besten passt? Steuern zahlen hier, Patent einklagen in USA usw.? Dazu die de facto Rechtlosigkeit qua Dislegitimation der Entscheider, die also in Recht eingreifen (Standort-Erpressungen bis zum offenen Lobbyismus), sich ihm aber überall im Sinne ihrer Vorteile zu entziehen suchen? Das geht bis in die national operierenden Komplexe (etwa Pharmaindustrie).
Wenn man Schadensperspektiven in Zahlen aufmacht, sind die Debakel von so jemand wie Monsanto ungleich höher als die irgendwelcher Anschläge und dabei anfallenden Kollateralschaden durch Teroristen, von den „ideellen“ Schäden – Ohnmacht, Unglauben an Politik, vorauseilende Resignation etc. – ganz zu schweigen.
Tatsache aber ist auch – siehe auch Watergate bis hin zu seinen Hollywood-Kolportagen, etwa „Die Firma“ –, dass oft nur Recht Recht wieder herstellen kann bzw. überhaupt einklagbar macht. Dass ist ein grundlegendes Paradox – ein deutsches, Stichwort: Regelungswut? -, dass man alles genauer eingrenzen müsste, um anderswo mehr Freiheiten zu garantieren.
Ein weiteres Paradox: Das Recht läuft ja der Realität hinterher. Zugleich muss man ihm ausreichend Zeit lassen, um abzuwägen und nicht vorschnell mit Kanonen auf Spatzen schießen zu lassen wie unsere aktivistischen Populismus-Politiker. („Vorratsspeicherung“ – ein verräterischer Euphemismus; bis zur Kasse ist jeder ein potenzieller Dieb.)
Festzuhalten ist diese rechtliche Konstruktion, dass es also Momente gibt, den Menschen, seine bare Existenz frei, „vogelfrei“ zu setzen. (Die Parallele zu Guantanamo hinkt natürlich, aber sie ist aber auch ausreichend genug, um sie zu ziehen. Es reichte aber schon, dass die westliche Verfassungs-Vorbildnation ihre Gefangenen ausfliegt, um sie in jordanischen Hinterfinsterräumen foltern zu lassen.)
Die Macht jedenfalls, die diese Vogelfreiheit verhängen kann, ist die „böse“ Macht, sie ist die letzte. Und das sollte ein Verfassungsrechtler sich über sich selber klar machen: Er ist selber das potenziell Böse, selbst wenn er das „Gute“ will (was immer das, aus welcher Sicht aus, wäre).
Zwei Aspekte
Das Recht läuft ja der Realität hinterher.
Genau hierin liegt vermutlich für Depenheuer (und Schäuble) die Faszination eines präventiven Feindrechts. Erstmalig kann eine Tat sozusagen durch allgemeine, gesetzliche Regeln vor ihrer Ausführung verhindert werden. Bzw: Die Terroristen kommen aufgrund der Gesetzeslage gar nicht erst auf die Idee, ihre Anschläge zu verüben. In Wirklichkeit ist das die uralte Mär der Abschreckung.
(„Vorratsspeicherung“ – ein verräterischer Euphemismus; bis zur Kasse ist jeder ein potenzieller Dieb.)
Naja, eben. Deshalb ist für mich diese Entrüstung hierüber (sechs statt drei Monate Speicherung der Daten) ein bisschen hyperventilierend. Das erinnert mich tatsächlich an den Hype um die Volkszählung 1987, nach der unmittelbar der Untergang Deutschlands drohte. »Stasi 2.0« gab’s noch nicht. Tatsache war, dass Zimmermann damals als Innenminister eine Hassfigur war. Daher gehörte es zum guten Ton, dagegen zu sein. (Leute wie Prantl sind ja seit zwanzig Jahren immer zuerst einmal dagegen.)
In einigen Weblogs hat man das Gefühl, Deutschland entwickelt sich zum zweiten Weissrussland – wenn nicht schlimmer. Diese fast religiös konnotierte Hysterie verhindert in Wirklichkeit die notwendige und wichtige Diskussion, damit solche Modelle wie die von Depenheuer nämlich erst gar nicht Realität werden. Hierfür muss man sie aber erst einmal kennen, zur Kenntnis nehmen und dann argumentativ entkräften. Das geschieht viel zu wenig. In den Massenmedien existieren die Depenheuer-Modelle nicht – in der Blogosphäre zieht man es vor, sich aufzuregen.
Ich habe den Eindruck, dass man sich nicht traut ihn (Depenheuer) beim Namen zu nennen. Es kommt dann zu Formulierungen wie »Es gibt Juristen [...]«. Wie in diesem Artikel.
@Metepsilonema
Der Eindruck ist sicherlich richtig. Es ist ein rhetorischer Kniff. Indem man jemanden nicht mit Namen nennt, verweigert man nicht nur der Person, sondern auch dem »Argument« ein Stück weit den Respekt.
Mit Di Fabio als amtierender und Grimm als ehemaliger Bundesverfassunsgrichter haben sich zwei sehr prominente Juristen zu dieser Problematik geäussert.
Sehr interessant finde ich im verlinkten Artikel die Aussage von Grimm:
Indessen setzt das Grundgesetz auch der Verfassungsänderung Grenzen. Die Grundsätze der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaats sind ebenso unabänderlich wie die Garantie der Menschenwürde, die Existenz unveräußerlicher Menschrechte und die Grundrechtsbindung der gesamten Staatsgewalt. Die Rechtlosstellung feindlicher Kombattanten wie in den USA könnte in Deutschland auch mit einer Verfassungsänderung nicht erreicht werden.
Die Frage ist nur, ob es auf Dauer nicht ein wenig eindimensional argumentiert ist, ständig Art. 1 des GG herziehen zu müssen. Wer definiert Menschenwürde? NUR die Verfassungsrichter?
Am Punkt des Eingreifens der Bundeswehr im Inneren ist das schön herauszuarbeiten: Bei Naturkatastrophen (wie bpsw. der Oderflut 2002) darf die Bundeswehr eingreifen – wenn terroristische Bedrohungen (oder ähnliches, vom Polizeiapparat nicht zu leistendes) abgewendet werden sollen, nicht. Was ist mit der Menschenwürde derjenigen, die unmittelbar bedroht sind und die bspw. nur durch Ausrüstungen von Bundeswehr geschützt werden können? Ich rede jetzt nicht vom skurrilen Fall des Abschusses einer Passagiermaschine.
Ich halte die Rückführung inzwischen fast aller Gesetze zur Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht für nicht besonders glücklich. Mit ein bisschen Rechtsbewusstsein hätte man vieles überflüssige davon vermeiden können. Die politische Klasse hofft teilweise nur noch auf eine 50:50 Chance und delegieren fast alles ans BVerfG – irgendeiner wird sich schon finden, der dagegen klagt. Aber was ist, wenn das BVerfG irgendwann einmal nicht mehr die Entscheidungen trifft, die uns »gefallen«?
Grimm kann – als ehemaliger Richter – die »Drohung« aussprechen, dass Verfassungsänderungen, die mit der rechtmässigen Zweidrittelmehrheit des Parlaments zustandegekommen ist, nicht immer rechtens sind. Aber, und das sollte man wissen: Die Richter werden von der Politik bestimmt: »Gewählt werden die Richter zur Hälfte von einem speziellen Richterwahlausschuss des Bundestags und zur anderen Hälfte vom Bundesrat.« (Wikipedia) Bush hat in den USA den obersten Gerichtshof inzwischen so besetzen können, dass auch noch weit nach seiner Amtszeit sein Geist dominieren wird.
@Gregor
Warum eigentlich diese politische Bestimmung der Verfassungsrichter, der mögliche Missbrauch liegt doch auf der Hand?
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Unverständlich, oder besser: widersprüchlich ist die folgende Passage (Hervorhebung von mir):
Auf der Menschenwürde ruht die gesamte Verfassungsordnung. Sie gilt absolut. Während alle folgenden Grundrechte, selbst das Recht auf Leben, bei der Kollision mit anderen Grundrechten oder hochrangigen Verfassungsgütern einer Abwägung unterzogen werden können und dabei unter Umständen den Kürzeren ziehen, ist die Menschwürde nicht abwägungsfähig. Sie muss niemals zurückstehen, auch nicht im Kampf gegen den Terrorismus.
Denn wenn ich jemandes Recht auf Leben hintanstelle, dann tue ich doch implizit dasselbe mit seiner Würde. Jedenfalls wäre das ein seltsamer Staat der der Würde und dem Recht auf Leben nicht den gleichen Status einräumt.
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Um noch einmal auf den/die Terroristen zurückzukommen: Terrorist kann man doch nur in Bezug auf einen Staat oder eine klar strukturierte Gemeinschaft sein, die nach außen (und innen) Interessen, Wert- und/oder Rechtsvorstellungen vertritt (z.B. die sogenannte westliche Wertegemeinschaft; das wäre sogar eine Art Staatengemeinschaft). Eine locker strukturierte, stark regional organisierte »Gemeinschaft«, mehr eine »Akkumulation« von Menschen, die zwar in gewissem Austausch mit einander stehen, aber eben keine klare »Linie« nach außen und innen vertreten, gäben gar kein (interessantes) Ziel ab, denn man könnte nichts erreichen, zumindest nicht – und genau das will der Terrorist ja – einen Teil einer Gesellschaft stellvertretend für alle treffen, dabei aber das gesamte System erschüttern. Dort wo es kaum ein System gibt, kann man nichts erschüttern. Je stärker man den Staat betont, ihn abstrahiert, je deutlicher der eigene Standpunkt und die »Feinde« (also Gut und Böse) gezeichnet werden, desto eher wird man ein lohnendes Ziel, desto mehr fordert man den Gegner heraus. Das mag u.U. eine zu verfolgende Strategie sein, deeskalierend ist es sicher nicht. Die Frage ist was man erreichen will, welche Risiken man in Kauf nehmen möchte, abgesehen davon, dass man eventuell recht schnell zuvor vertretene Werte entsorgt.
Warum diese politische Bestimmung existiert, weiss ich nicht. Ich wüsste aber auch nicht, wie man das sonst lösen wollte. Und in Deutschland ist über das Verhältniswahlrecht und die unterschiedliche Besetzung von Bundesrat und Bundestag eine allzu starke Machtkonzentration wie in den USA ziemlich unwahrscheinlich.
So herrscht zwar seit 2005 sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat jeweils eine Mehrheit für die schwarz-rote Koalition, aber obwohl es unterschiedliche politische Richtungen sind (naja, ob sie soooo unterschiedlich sind?), werden wieder Paritäten eingehalten werden müssen. Das Wahlverfahren ist auch ziemlich ausgeklügelt.
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Die Passage ist in der Tat recht missverständlich (wie ich übrigens die durchgehende Verwendung des Wortes »Menschwürde« als sehr merkwürdig empfinde). Grimm meint vermutlich u. a. den »finalen Rettungsschuss« – hier darf ja getötet werden, um evtl. andere Tötungen zu verhindern. Man kann das aber auch sehr wohl uminterpretieren (das macht übrigens Depenheuer auch) und – salopp formulieren: Warum darf, was dort erlaubt ist, anderswo nicht angewendet werden?
Mir gefällt in diesem Zusammenhang das permanente Heranziehen der »Menschenwürde« nicht. Das ist mir zu beliebig. Damit kann man irgendwann alles verlangen (denke an unsere – durch mich abgebrochene – Inzest-Diskussion). Man müsste diesen Begriff definieren (bspw. mit so etwas wie dem kategorischen Imperativ).
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Zum Terroristen später.
Ketzerisch
könnte man – um Deinen Punkt aufzugreifen – natürlich fragen, ob es nicht auch gegen die Menschenwürde verstößt einen Verbrecher jahrelang einzusperren (im Gegensatz dazu verbieten wir Verhörmethoden, die die Würde eines Menschen verletzen, auch dann wenn man dadurch Leben retten könnte).
Fußnote
In einer Fußnote nimmt Depenheuer einen Gedanken seines Lehrers Josef Isensee auf, den dieser u. a. in einer Schrift mit dem Titel »Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten« ausgeführt haben soll (leider ist der Text nirgendwo online). Depenheuer schreibt in der Fußnote:
Die geradezu inflationäre verfassungsrechtliche Argumentation auf Basis der Menschenwürde dürfte deren qualitative Normwirkung auf Dauer aushöhlen. [...]: wenn nahezu alle grundsätzlichen Debatten sich an der Deutung dieses absoluten, keiner Abwägung und keinem Kompromiß zugänglichen Grundwertes entscheiden, könnte der Kampf um die Deutungshoheit des Art. 1 Abs. 1 GG zur Sollbruchstelle des Verfassungskonsenses werden.
Die geradezu affekthafte Aushöhlung, in dem irgendwann alles an der »Menschenwürde« festgemacht, sehe ich auch (Dein Beispiel ist ja ähnlich gelagert). Den zweiten Satz verstehe ich nicht: Kann es denn eine Alternative sein, sich von der »Menschenwürde« als Verfassungsgrundsatz abzuwenden?
Aber Depenheuer legt noch nach:
Im übrigen steht jede Konzeption der Menschenwürde vor der Aufgabe, die Bedingungen der Möglichkeit des staatlichen Schutzes der Menschenwürde in den Würdebegriff zu integrieren, damit nicht die Menschenwürde zum Titel ihrer wehrlosen Preisgabe wird. {Hervorhebung von mir}
Die Hervorhebung verstehe ich auch nicht ganz. Oder nur so, dass man einfach aufpassen muss, dass die Menschenwürde »nicht nur auf dem Papier« steht. Das wäre aber m. E. der Fall, wenn Depenheuers Vorschläge umgesetzt würden. Der Staat wäre zwar – in der Theorie! – »sicherer«, aber von einer Unfreiheit, die »menschenunwürdig« ist, zumindest wenn man den Massstab eines Rechtsstaates anlegt.
Hier liegt dann Depenheuers Fehler: Er will Frieden um den Preis des Krieges. Und das bedeutet letztlich: Krieg.
Der Deschner-Fall (die Androhung der Folter an den Entführer eines Kindes, um dessen Aufenthaltsort herauszufinden), auf den Du anspielst, geht in diese Richtung. Schreibt man für solche Fälle Folter fest ins Gesetz, geht ein elementarer rechtsstaatlicher Begriff verloren, denn solche Art Gesetze werden immer auch missbraucht. Dennoch oute ich mich hier (es liest eh keiner mehr mit): Ich hätte unter diesen Umständen genauso gehandelt, auch wenn ich mich nachher strafrechtlich zu verantworten gehabt hätte.
@Gregor
Ich glaube wir kratzen hier an einem fundamentalen Problem unserer westlichen, säkulkaren Gesellschaften: Die Menschenwürde lässt sich nur begründen wenn ich auf das Absolute, d.h. auf Gott rekurriere (wenn Gott uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, wir also in gewisser Weise dem absolut Guten usw. usf. entstammen, und an ihm teilhaben, dann kann man daraus wohl etwas wie Würde ableiten [wobei man sich bei dem Verhalten, das wir an den Tag legen schon fragen muss wohin sich das Absolute verflüchtigt hat]). Andernfalls ist die Menschenwürde nichts weiter als ein Postulat, oder ein Grundkonsens, ja wenn man so will, das Absolutum der Demokratie, und ihr Pferdefuß sozusagen, denn da wo eigentlich nur das Argument als Fundament alles Politischen gilt, muss dann doch etwas nicht weiter begründbares herhalten. Aber man kann es drehen wie man will: Eine Letztbegründung irgendwelcher Werte in dieser Welt gibt es nicht, es sei denn man glaubt an das Jenseitige.
Die Krux, die in Deiner Frage (»Kann es denn eine Alternative sein, sich von der »Menschenwürde« als Verfassungsgrundsatz abzuwenden?«) kumuliert, ist nicht zu lösen. Wir müssten uns von ihr abwenden, können (dürfen!) es aber nicht. Letztlich liegt unseren Verfassungen ein »religiöses« Element zu Grunde.
Man darf gewisse Dinge (Folter etc.) nicht im Gesetz festschreiben, aber ich vermute, dass sie, wenn es darauf ankommt, angewandt wird, genauso wie das Flugzeug abgeschossen werden würde. Man beugt aber mit dieser Vorgangsweise dem Missbrauch (von Seiten des Staates) vor.
Depenheuers Satz lässt mich auch etwas ratlos zurück. Vielleicht meint er damit, dass andernfalls die Möglichkeit bestünde, im Sinne der Menschenwürde, menschenunwürdiges zu tun. Das müsste verhindert werden. Im Prinzip das was Du mit »auf dem Papier« meinst.
Hm
Das mit dem »religiösen Element«, sozusagen einem religiösen oder transzendenten Urgrund, sehe ich eigentlich nicht. Es mag helfen, aber ob es Voraussetzung ist, Menschenwürde unabhängig »nüchterner« Gesetzesparagraphen begreifen zu können, glaube ich nicht. Das war übrigens das Projekt der Aufklärung.
Ein bisschen passt das hier hinein:
Wenn Du möchtest, kannst Du mal raten, vom wem das ist (googeln gilt natürlich nicht). Und – wichtiger: Stimmt es? – Kommst Du drauf, was der Verfasser in Wirklichkeit sagen will? (Sorry, das soll natürlich nicht schulmeisterlich klingen...)
[EDIT: 2007-12-05 18:42]
Dilemma
@Metepsilonema
Ich glaube wir kratzen hier an einem fundamentalen Problem unserer westlichen, säkulkaren Gesellschaften: Die Menschenwürde lässt sich nur begründen wenn ich auf das Absolute, d.h. auf Gott rekurriere ..., es sei denn man glaubt an das Jenseitige.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Menschenwürde ist unser instinktives Gefühl der Achtung von Mitgliedern einer sozialen Gruppe, die ohne dies nicht funktioniert. Das haben wir über lange Zeit gelernt und alle, die sich nicht daran gehalten haben, sind lange tot und vergessen. Das instinktive Gefühl, dass es falsch ist in moralischen Dilemmata die utilitaristische Lösung zu wählen, spricht für sich. Nicht umsonst hat sich die Methode des »wie du mir, so ich dir« als geeignetste Reaktion im Gefangenendilemma ergeben. So sehr viele das auch nicht mögen, aber mangelnde Empathie ist eine Frage der Chemie und daher schlicht eine Mangelkrankheit bzgl. der Funktionsweise der Spiegelneuronen.
@Gregor
Erst geraten, dann gegooglet. Und ja, ich stimme überein, dass die Strukturen natürlich nur Abbild der Überzeugungen sein können, wie denn auch anders. Überzeugungen ändern sich aber, worauf die Strukturen mit Latenzzeit reagieren (ähnlich dem Räuber-Beute-Zyklus). Und solche System geraten mehr oder weniger in Schwingung, im schlimmsten Fall geraten sie sogar in Resonanz.
P.S. BTW, der Verfassungsschutz mag mein NewsFox sein.
[EDIT: 2007-12-05 21:46]
@Gregor & Peter
Eigentlich wollte ich gerade schlafen gehen, aber es lässt mir keine Ruhe.
Ich weiß nicht woher oder von wem die zitierte Stelle ist, aber sie erinnert mich an den Existenzialismus (Camus?). Mag aber Unsinn sein. Ich werde versuchen mich morgen zu ihr zu äußeren. (Sie passt auch sehr gut zur Wirtschaftsdiskussion mit Köppnick.)
Ein Instinkt ist nicht intersubjektiv vermittel- oder begründbar, daher taugt er als Verfassungsgrundlage nicht.
Ich zitiere aus dem weiter oben verlinkten Zeitartikel:
»Die Menschwürde, die »zu achten und zu schützen« Artikel 1 zur »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« macht, ist nicht die Würde, welche der Einzelne durch ein gutes Leben erwerben und durch böse Taten verlieren kann. Es ist die Würde, die jeder menschlichen Person innewohnt, unabhängig von ihrem Alter, ihrer Einsichtsfähigkeit, ihrer körperlichen Beschaffenheit, ihrer Lebensführung. Diese Würde hat auch der Terrorist.
Auf der Menschenwürde ruht die gesamte Verfassungsordnung. Sie gilt absolut.«
Die von mir hervorgehobenen Sätze sind nicht weiter begründbar. Sie sind eine Annahme, ein Postulat, eine Deklaration, die ich glauben kann, aber nicht muss. Und das ist es, was ich religiös nannte (man muss das nicht). Aber ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied, ob ich nun glaube, dass der Mensch eine Würde besitzt (per se), oder ob ich glaube dass diese Würde von Gott kommt. In jedem Fall glaube ich etwas. Ich sage nicht, dass das schlecht ist, und wir haben wahrscheinlich keine andere Wahl, und tun gut daran diese Würde zu beanspruchen. Ich stelle aber fest, dass ich genausogut das Gegenteil glauben könnte (könnte wohlgemerkt).
[EDIT: 2007-12-06 00:37]
Nachtrag
zum Thema Instinkt: Menschen mit geistigen Behinderungen (aber eben nicht nur sie) besitzen diesen Instinkt nicht, oder nur eingeschränkt, aber auch für sie gilt die Menschenwürde.
So sehr viele das auch nicht mögen, aber mangelnde Empathie ist eine Frage der Chemie und daher schlicht eine Mangelkrankheit bzgl. der Funktionsweise der Spiegelneuronen.
Ist das ernst gemeint? Schon mal davon gehört, dass Eigenschaften in unterschiedlicher Intensität ausgeprägt sein können? Dass es natürliche Variation gibt? Wir sind eben nicht alle gleich. Wenn ich das konsequent zu Ende denke, dann lande ich wieder beim Zwang, dann werden die, bei denen etwas nicht stimmt, medikamentös behandelt, denn es muss ja nur an den entsprechenden Schrauben gedreht werden.
[EDIT: 2007-12-06 13:05]
Instinkt: Menschen mit geistigen Behinderungen (aber eben nicht nur sie) besitzen diesen Instinkt nicht, oder nur eingeschränkt, aber auch für sie gilt die Menschenwürde.
Du verwechselst Subjekt und Objekt. Dass jemand mit geistiger Behinderung nicht instinktiv handelt, ist nicht ganz abwegig. Die Frage ist aber wie ich einen geistig behinderten Menschen behandele (ich habe übrigens meinen Zivildienst in einem Heim für erwachsene geistig behinderte Menschen gemacht). Das erste Beispiel für dieses Verhalten verortet man momentan bei Neanderthalern in Georgien. Ein Fund zeigt einen Neanderthaler, der nicht mehr in der Lage war sich selbst zu versorgen, aber noch deutlich älter wurde. Ihm musste also altruistisch geholfen worden sein.
Ist das ernst gemeint? Schon mal davon gehört, dass Eigenschaften in unterschiedlicher Intensität ausgeprägt sein können? Dass es natürliche Variation gibt? Wir sind eben nicht alle gleich. Wenn ich das konsequent zu Ende denke, dann lande ich wieder beim Zwang, dann werden die, bei denen etwas nicht stimmt, medikamentös behandelt, denn es muss ja nur an den entsprechenden Schrauben gedreht werden.
Willkommen in der Wirklichkeit. In den USA ist z.B. der Einsatz von Aufhellern so üblich wie Zahnpasta, um den herrschenden Normen der guten Laune und Leistungfähigkeit noch gerecht zu werden.
Bei Depressionen wurde gelegentlich schon gebenchmarkt, ob Gesprächstherapie oder Chemie effektiver ist (wobei ersteres nur zweiteres bewirkt).
Chemie ist heute schon überlegen und wird es noch deutlich stärker werden. Nicht dass mir das gefällt, aber die Büchse der Pandora ist offen.
Und warum sollte die Dopamin- oder Glutamatkonzentration nicht die Bandbreite zwischen Skilehrer und Autist abdecken? Dummerweise hat dies aber nichts mehr mit der Ausgangsfrage zu tun, konnte mich aber nicht zurückhalten.
[EDIT: 2007-12-06 16:49]
@Peter
Ich will nicht das ursprüngliche Thema außer acht lassen, daher ein paar abschließende Sätze zum Thema »Chemie, Neurone & Co« (diskutiere gerne in einem seperaten Beitrag weiter, aber die Rechtsthematik ist mir jetzt mal wichtiger):
Und warum sollte die Dopamin- oder Glutamatkonzentration nicht die Bandbreite zwischen Skilehrer und Autist abdecken?
Unsere Differenzen liegen nicht im Weltbild (Reduktion neuronaler Phänomene auf Chemie und letztlich Physik), sondern darin, dass diese Sichtweise suggeriert, dass komplexe Dinge einfacher sind als das tatsächlich der Fall ist. Hier werden zwei (prominente) Neurotransmitter stellvertretend für ein Bündel komplexer Faktoren genannt (wo bleibt der Einfluss der Umwelt, neuronale Plastizität und Entwicklung, Genetik, degenerative Erkrankungen, die Funktionen der Gliazellen etc.?). In unserem Kontext geht es mir aber um etwas anderes: Sie verneinen oben den Utilitarismus, importieren ihn aber gleich wieder über die Hintertür. Sie schrieben: »Die Menschenwürde ist unser instinktives Gefühl der Achtung von Mitgliedern einer sozialen Gruppe, die ohne dies nicht funktioniert. [...] So sehr viele das auch nicht mögen, aber mangelnde Empathie ist eine Frage der Chemie und daher schlicht eine Mangelkrankheit bzgl. der Funktionsweise der Spiegelneuronen. Es interessiert mich nicht so sehr, ob das Praxis ist, sondern wie ich das rechtfertige. Sie legen nahe (korrigieren Sie mich, wenn ich Sie missverstehe), das mangelnde Empathie (und damit ein Mangel an Achtung anderen Menschen gegenüber, und damit eine – zumindest teilweise – Negation ihrer Würde) eine Krankheit ist, die man korrigieren sollte. Das ist doch genau jenes Denken, das wir weiter oben, als in hohem Maße problematisch angesehen haben.
Unser »instinktives Gefühl der Achtung« müsste sich, wenn es existiert, empirisch nachweisen lassen. Wenn es dazu Untersuchungen gibt, die Sie kennen würde das unsere Diskussion sicher befruchten, aber Spekulationen sind mir (die menschliche Geschichte ist als Hinweis dafür zu ambivalent: Altruismus und Achtung gab es zweifellos, daneben aber immer auch Mord und Totschlag) zu wenig.
Zur Subjekt-Objekt Verwechslung: Wenn ich die Menschenwürde aus einer instinktiven Handlung herleite, dann doch nur weil ich zu diesem Instinkt fähig bin und nicht weil ich entsprechend handle, (obwohl, recht bedacht ist auch das keine allzu stichhaltiger Grund). Das bringt natürlich das Problem mit sich, dass ich denjenigen Würde absprechen muss, die diesen Instinkt nicht besitzen (z.B. geistig Behinderten). Das wollen wir aber nicht, weil wir der Ansicht sind, das auch sie würdevolle Behandlung verdienen. Bleibt die Ansicht, die Sie vertreten, also, das sich aus der bloßen Handlung die Würde ableiten lässt. Das geht aber nicht, da die instinktive Handlung eine Handlung ist, die mir quasi eingeschrieben ist, die ich, ohne darüber nachzudenken ausführe. Unsere Handlung ist also keine die wir frei wählen, ganz im Gegenteil, und damit entzieht sie sich dem moralischen Urteil, sie kann keinen Wert darstellen und folglich können wir daraus auch keinen ableiten. Wir sind gezwungen die Menschenrecht zu postulieren, wie das z.B. in der berühmten Unabhängigkeitserklärung getan wurde (aber mit dem Rekurs auf Gott):
“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.(Quelle)
Ich bleibe dabei: es gibt keine Begründung für die Würde des Menschen (woher soll sie kommen, wenn der Mensch tatsächlich Produkt der Evolution ist?), genau wie für seine Rechte. Wir können daran glauben, oder eben nicht (es lassen sich sicher gute Gründe, aber keine Begründung finden). Dieser Zustand ist unbefriedigend, nicht die Rechte selbst (Man bedenke, dass ich die Grundlage der Demokratie nicht gegenüber ihren Gegnern in Form einer »Letztbegründung« argumentativ vertreten kann.).
Das ist natürlich kein rein demokratisches Dilemma, sondern eines das Wertvorstellungen im Allgemeinen betrifft.
[EDIT: 2007-12-07 12:13]
@Metepsilonema & Peter
Interessante Diskussion.
Ich weiss ehrlich gesagt nicht, was Peter genau mit »Instinkt« meint. Vielleicht ist eine Art Moral, die a priori jedem Menschen »innewohnt«, also ein universalistischer Moralkodex, der vor aller Erfahrung angelegt ist. Wenn man nun – in Abwandlung – sagen würde, Menschenwürde sei als Wert a priori in unserem Verhalten/Denken angelegt, so widerspreche ich da. Es mag rudimentäre Ansätze dazu geben, aber im wesentlichen formt sich ein Verständnis von Mitmenschlichkeit erst durch Umgebung und Erziehung.
»Wie Du mir, so ich Dir« ist in meinem Dafürhalten keine erfolgreiche Handlungsmaxime. Sie führt in der Regel zu Eskalationen. (Es kann aber sein, dass ich Dich da falsch verstanden habe; dann korrigiere bitte.)
Biologistische Argumentationen helfen mir persönlich da gar ncht weiter. Ich weiss, dass das im Schwange ist, aber es ist m. E. falsch und sogar gefährlich den Menschen ausschliesslich auf chemische Prozesse zu reduzieren (das gleiche gilt übrigens auch für höher entwickelte Säugetiere). Das könnte nämlich dazu führen, »abartige« Menschen (und damit meine ich nicht nur Behinderte, sondern auch Aussenseiter, Querdenker und/oder einfach nur schwierige Zeitgenossen) per se als biologisch defizitäre Gestalten rubriziert werden. Ich weiss, dass Du das nicht machst, aber die Gefahr ist virulent. Nicht umsonst sind viele Biologen, wenn es um moralphilosophische Fragen geht, sehr »technisch« orientiert (s. bspw. Dawkins).
Im Moment interessiert mich neben der Frage nach der »Begründung für die Würde des Menschen« als absoluten Zweck eines Zusammenlebens (sie könnte u. a. auch rein profane Gründe haben, wie z. B. das damit ein besseres Miteinander zu organisieren ist), fast noch mehr. diesen Begriff zu definieren und ihn – hierin sehe ich nämlich wirklich eine Gefahr – vor dem inflationären Gebrauch in der Alltagssprache zu bewahren. Inzwischen scheint sich nämlich eine Art Trivialisierung dieses Begriffs breit zu machen, der, wie das dann so üblich ist, nicht nur das Essentielle vernebelt, sondern es parasitär untergräbt. (Insofern passt es wirklich in die Debatte um »Gleichheit«).
Wenn man Menschenwürde unbefragt als absoluten Wert und oberste Handlungsmaxime setzt, ist es um so wichtiger, sie zu definieren, und – vor allem – auch abzugrenzen vor dem Usurpieren einer Beliebigkeitskultur, die irgendwann »Freibier für alle« als »Menschenrecht« konstituiert (ich übertreibe jetzt).
[EDIT: 2007-12-07 22:10]
Menschenrecht = Menschenwürde?
@Gregor
Die Frage bzgl. der Existenz einer universalen Menschenwürde hatte wir schon mal hier.
Ich bin immer noch der Meinung, dass die universale Menschenwürde nicht existiert. Warum? Weil der Mensch zu komplex bzw. zu vielschichtig ist, um sich gleichförmig zu entwickeln. Und das entsteht durch den Bruch seiner Entwicklungsgeschichte. Die biologische Evolution hat uns für eine Welt gerüstet, die es höchstens noch im Mikrokosmos gibt. Sobald wir die Haustür aufmachen, widerstreiten grundlegend verschiedene Mechanismen in uns.
Wie viele angeborene Verhaltensweisen (fest verdrahtet) uns steuern, ist häufig beschrieben (sehr interessant z.B. die von Desmond Morris erforschten »Putzgespräche«, bei denen Menschen analog den Entlausungsritualen bei Gorillas banale Gespräche führen, um das fehlende Wissen um die soziale Relation zu entschärfen). In einem Fußballstadion wird das nicht mehr funktionieren, dort treten Kulturtechniken zu Tage (Fußball und Kultur? Geschenkt), die auf einer ganz anderen Ebene ablaufen. Sie sind durch frühkindliche Prägung (individuelle Verdrahtung), erlernte Verhaltensmuster (bedingt änderbar) und die Normen der Gesellschaft (Randbedingungen) bestimmt.
Das eindrücklichste Beispiel, zu was für unterschiedlichen Weltbildern dies führen kann, sind die unterschiedlichen Wertesysteme zwischen z.B. Europa und Japan. Hier die Gut/Böse-Dichotomie, dort der Kanon der Ehre. Beide funktionieren, beide haben ihren Ursprung in der Biologie, aber beide haben sich kulturell völlig verschieden ausgeprägt. Und hier wird auch deutlich, warum Religion nur eine mögliche Spielart zur Bestimmung der Menschenwürde sein kann. Alles andere wäre völlig unangemessene Überheblichkeit gegenüber allen anderen Wertesystemen. Das Wertepaar Gut/Böse ist menschgemacht.
»Wie Du mir, so ich Dir« ist in meinem Dafürhalten keine erfolgreiche Handlungsmaxime. Sie führt in der Regel zu Eskalationen.
Ich nehme an, du kennst das Gefangenendilemma? Dann kennst du vermutlich auch die Version, bei der man dieses »Spiel« rundenbasiert vornimmt. Dabei hat es sich eindeutig erwiesen, dass »tit for tat« die mit Abstand geeigneste Form zum Gewinn des Gesamtsieges ist. Wie hoch die Aussagekraft für reale Gesellschaften ist, bleibt fraglich. Ich schätze Sie sehr hoch ein.
@Metepsilonema
das mangelnde Empathie ... eine Krankheit ist, die man korrigieren sollte
Es gibt heute starke Anzeichen, dass Depression und Autismus einer aus dem Ruder gelaufenen Chemie geschuldet ist. Die Frage, ob man sich gezwungen sieht dies bei vorhandenen Mitteln zu korrigieren, steht aber auf einem anderen Blatt. Ich denke, dass im Laufe der Zeit viel zu viel Esoterik in Fehlfunktionen des Gehirns gedeutelt wurde. Die kruden Theorien von Freud und Konsorten haben die Menschheit um Jahrzehnte zurückgeworfen. Sehe ich mein dysfunktionales Gehirn als ein Organ wie jedes andere, sollte medikamentös behandelt werden. Sehe ich das Gehirn als Hort einer wie auch immer gearteten Seele, weiss ich nicht ob sie dadurch Schaden nimmt (um etwas zu polemisieren).
Unser »instinktives Gefühl der Achtung« müsste sich, wenn es existiert, empirisch nachweisen lassen.
Die verbreitetste These, warum sich der Mensch dieses sauferstofffressende Gehirn überhaupt zugelegt hat, ist die Annahme, dass die Erkenntnis der Rolle von Mitgliedern in einer sozialen Gruppe enorme Resourcen verschlingt. Dazu gehört es seine eigene Rolle zu definieren und zu finden, aber auch die der anderen Mitglieder zu erkennen und zu beachten. Bei dieser Definition von Menschenwürde steckt vielleicht nicht das Moment der Güte, die von der ein oder anderen gesellschaftlichen Gruppe kolportiert wird, aber sie funktioniert.
Problematisch wird diese Definition bzgl. Mitgliedern einer (überbiologisch großen) Gesellschaft, die diese ausnutzen oder bekämpfen (um wieder auf das ursprüngliche Thema zu kommen). Hier versagt die biologische Komponente völlig und wir sind auf Kulturtechniken angewiesen, bei denen das Recht auf Leben, da singulär, der kleinste gemeinsame Nenner ist, auf den man sich zurückziehen kann. Und selbst das mag fraglich sein (ich erinnere mich an die Diskussion bei nensch über die Kannibaleninsel).
[EDIT: 2007-12-08 00:00]
Um den faden wieder aufzunehmen
Verzeihung, ich war »verhindert«.
@Gregor
Ich glaube wir sollten auseinanderhalten worum es uns geht:
a) Um das, was wir für wahr halten, also wie die Dinge »tatsächlich« sind (z.B. Reduktion von Bewusstseinsvorgängen auf die Chemie/Physik), oder
b) um mögliche Konsequenzen aus diesem Denken (ich sage bewusst möglich, da ich glaube, dass die von Dir angeführten nicht zwingend sind; möglich aber in jedem Falle).
Ich glaube, dass das Problem auch darin liegt, dass sich Naturwissenschaftler mit dem Sein (den Dingen, Lebewesen etc.) beschäftigen. Aus ihren Forschungen lässt sich nichts moralisch Gültiges ableiten. Deswegen vielleich die »technische«, methodische Herangehensweise.
Ich überlege gerade, ob eine genaue Definition der Menschenwürde ihren Sinn nicht wieder untergräbt: Wenn ich genau festlege was sie bedeutet bzw. ausmacht, dann kann ich auch klären für wen sie gilt, bzw. für wen nicht. Genauer: Wahrscheinlich kann ich keine Definition finden die z.B. auf Kinder, »normale« Erwachsene, geistig Behinderte usw. zutrifft. Wir müssen mit einer vagen Behauptung auskommen. Zugegeben: Ich tue mir selbst recht schwer, wenn ich beschreiben müsste, was die Würde eigentlich darstellt. Sie flutscht mir quasi aus den Fingern. Wagst Du einen Versuch?
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Ich wollt noch zu der von Dir oben zitierten Textstelle etwas schreiben:
Aus christlicher Sicht hat der Mensch seine Freiheit als Geschenk Gottes, als Ausdruck seiner Liebe erhalten (eine andere Lösung lässt das Theodizee-Problem eigentlich nicht). Ich glaube bei Simone Weil findet sich (auch?) dieser Gedanke: Es ist eine Liebe denkbar, die sich quasi selbst zurücknimmt, die nichts anderes will als dem anderen (dem Geliebten) seine Freiheit zu schenken. Sie wäre das Gegenteil aller Leidenschaft. Sie ist keine Gier, kein Wollen, sie will nicht beschränken oder einengen. Sie will einzig und allein die Freiheit des Anderen. So müssen wir uns die Liebe Gottes vorstellen, der im – christlichen Sinne – genau in dieser Lage ist: Er könnte uns zum Guten zwingen (er ist allmächtig!), tut es aber einzig auf Grund seiner Liebe zu den Menschen nicht. Darum ist diese Welt wie sie ist.
Der Zwang zum Guten zerstört genau das, was er eigentlich erreichen will. Und im Grunde hieße es auch, die Liebe Gottes zu missachten. Vielleicht will der »ältere Herr« uns das sagen. Ich bin mir aber nicht sicher.
Der Existenzialismus komm zu einem ähnlichen Schluss, glaube ich: Wenn man den Menschen aus seiner Existenz heraus denkt, aus seiner »in-die-Welt-Geworfenheit«, muss man eigentlich fast zwangsläufig zur Freiheit gelangen. Es ist aber keine von Gott geschenkte Freiheit, sonder mehr eine erlittene. »Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.« (Sartre).
[EDIT: 2007-12-15 01:21]
@Peter
Noch einmal zu dem Thema:
Von Freud habe ich leider (fast) keine Ahnung, aber Kritik bitte etwas sachlicher.
Zu Depressionen: Viele Antidepressiva machen süchtig und haben enorme Nebenwirkungen; ich meine nur, dass wir noch vieles nicht verstehen, und uns nicht zu voreiligen Schlüssen hinreissen lassen sollten (Ich habe nichts gegen den Einsatz von Antidepressiva, aber wir wollen doch nicht von vornherein andere Mittel und Wege ausschließen, zumindest nicht ohne Argumente.)
Die beschriebenen sozialen Verhaltensweisen setzen keine allgemeine Würdevorstellung voraus, ich sehe zumindest nicht wieso dem so sein sollte. Abgesehen davon: Wir müssten sie sonst bei sich altruistisch, oder entsprechend sozial verhaltenden Tieren [z.B. manche Affen] postulieren.
[EDIT: 2007-12-15 02:06]
Konsequenzen
Wenn wir so etwas wie Bewusstsein ausschliesslich mit bzw. über biochemische Prozessen definieren, dann haben wir das Problem der Verantwortungslosigkeit des Menschen für seine Taten. Im Rahmen des Spaemann-Buches wurde das hier in den Kommentaren diskutiert. Köppnick hat hier schöne Argumente gebracht, warum diese Erklärungen auch nicht vollständig sein können und nicht befriedigen.
Ich sehe Parallelen zwischen dem Wunsch, Gott zu beweisen (also Gott jetzt zu beweisen, im 21. Jahrhundert) und dem Wunsch, das Bewusstsein nicht biochemisch zu »reduzieren«. In beiden Fällen ist der Mensch in den letzten Jahrhunderten in der Lage, unbesetzte Räume zu analysieren und zu erforschen. »Im Himmel« sitzt kein Gott mehr; der »Himmel« kann nicht mehr physisch als Beweis herhalten, weil er erforscht ist (er bleibt nur noch Metapher). Parallel hierzu ist im menschlichen Körper auch keine »Seele« und kein spezielles »Bewusstseins-Organ« (neben dem Gehirn) auffindbar.
Beide, die Religionen und die Moralphilosophie, müssen sich nun neue »Orte« (= Definitionen) für ihre entsprechenden Theorien aussuchen. Das ist für die Religionen fast noch leichter als für die Philosophie, die droht hinter der Neurowissenschaft zu verschwinden (vgl. die Links in den Kommentaren zu Metzinger, aber auch zu den Gegnern).
Die Folgen eines neuen, »biochemischen« Weltbildes sind allerdings immens. Ein Mensch kann dann im Prinzip nicht mehr verantwortlich gemacht werden, wenn eine Tat praktisch als Stoffwechselschaden lokalisiert wird (ich übertreibe und verkürze jetzt natürlich). Um umgekehrt können mit Hilfe gentechnischer Veränderungen in Zukunft bestimmte Merkmale bei Kindern stärker betont werden – wenn man dies erst einmal zulässt. Nur: In der bisherigen Menschheitsgeschichte sind Möglichkeiten immer auch ausgenutzt worden.
Unsere Definition von Menschenwürde ist höchst ambivalent – und wir sind auch gar nicht konsequent. Einerseits sind wir – berechtigterweise – für einen möglichst umfassenden Begriff, der alle Menschen, unabhängig ihrer Hautfarbe, ihres Status, ihrer Gesundheit, usw. inkludiert. Andererseits sabotieren wir dies wieder durch Vorgänge wie Abtreibung (das Menschsein wird schlichtweg um drei Monate »verschoben«) oder PID. Andere Menschen empfinden unser gesamtes (Wirtschafts)System als würdelos oder nehmen Bezug auf die Ungleichheit innerhalb der Welt, die durch den globalen Kapitalismus hervorgerufen wird. Und wieder andere glauben, dass sie schon diskriminiert werden, wenn sie nicht bis 3 Uhr nachts feiern dürfen.
Es gibt sicher eine Menge kluger Leute, die Menschenwürde definieren können. Ich sehe in den letzten Jahren – insbesondere was die Gesetzgebung auch aus der EU heraus angeht – eine zunehmende Banalisierung und Trivialisierung dieses Begriffs. Hierin stimme ich Depenheuer zu, wenn er dies als Gefahr sieht. Ich stimme ihm nicht zu, wenn er dies auf die angegebenen Beispiele bezieht.
Im Nachlesen fällt mir noch eine sehr reduktionistische Definition ein (die aber vermutlich mehr Fragen als Antworten aufwirft): Menschenwürde ist das Primat der körperlichen, psychischen und intellektuellen Unversehrtheit. Meyers online definiert: »Menschenwürde, der Anspruch des Menschen, als Träger geistig-sittlicher Werte um seiner selbst willen geachtet zu werden. Sie verbietet jede erniedrigende Behandlung oder die Behandlung eines Menschen als »bloßes Objekt«.« Oder, wie es bei Kant heisst: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«
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Die zitierte Stelle halte ich tatsächlich fast für existenzialistisch. Es ist natürlich bedenklich, dieses Zitat aus dem Kontext zu reissen, aber interessant ist es allemal. Er nimmt dort nämlich tatsächlich Bezug auf die immer wieder neu zu erringende Freiheit und nimmt Abschied von allen Heilsbringern, die für bedingungslose Gefolgschaft das ausnahmslos Gute versprechen. Wie gesagt: von allen – also auch von seiner.
[EDIT: 2007-12-15 11:58]
Erwünschte Konsequenzen?
Wenn wir so etwas wie Bewusstsein ausschliesslich mit bzw. über biochemische Prozessen definieren, dann haben wir das Problem der Verantwortungslosigkeit des Menschen für seine Taten.
Ich lese gerade ein sehr interessantes Buch (ich werde eine Rezension schreiben), bei dem der Autor anklingen lässt, dass eine Lösung dieses Problems (kausale Weltsicht führt zur Verantwortungslosigkeit) möglich ist (frag mich aber nicht wie).
Ich versuche das was Köppnick schrieb einzuflechten und nehme ein paar Gedanken aus dem Buch vorweg:
Wir leben in einer Welt die wir für verstehbar halten, und wir müssen das annehmen, da man nur in einer verstehbaren Welt (vernünftig) handeln kann. Und wir wollen/müssen handeln. Bringen wir verschiedene Beschreibungsebenen nicht zur Deckung, dann sehen wir, dass etwas nicht stimmt. Wir sind unbefriedigt, und bohren nach. Vielleicht weil das an unserem Selbstverständnis (und dem Verständnis von Welt) nagt. Köppnick (ich lasse Religion und Quantenmechanik weg) spricht von Emergenz (wir haben damals in Würzburg darüber diskutiert). Die Frage ist, was man unter Emergenz versteht:
a) Die Entstehung neuer Eigenschaften durch »Hokuspokus«.
b) Die Entstehung neuer Eigenschaften auf eine Art und Weise die man noch nicht versteht. Es ist ohne Zweifel verblüffend wie durch die Verbindung zweier Gase (Wasserstoff und Sauerstoff) eine Flüssigkeit mit eben jenen Eigenschaften entsteht, die Leben auf dieser Erde ermöglicht. Vermutlich könnte kein Chemiker die Eigenschaften die Wasser hätte voraussagen, wenn er nur Wasserstoff und Sauerstoff kennt (aber ist a), b) oder c) der Grund).
c) Oder besteht die theoretische Unmöglichkeit (hat Köppnick schon aufgezählt) die Entstehung der neuen Eigenschaften zu erklären. Das kann aber durchaus vorläufig sein.
Es ist nicht recht einleuchtend, warum man auf den Ebenen darunter und darüber klar sehen kann, dazwischen aber nicht.
Das Machbare wird immer in die Tat umgesetzt werden, daran gibt es keinen Zweifel. Ich sehe die Gefahren, aber andererseits liegt vielleicht genau hier die Bewährungsprobe für das was wir Menschenwürde nennen. Wir könnten die biochemische, biologische und letztlich physikalische Erklärung des Menschen, als den Triumpf der Aufklärung, als die Entzauberung der Welt begreifen, und dann, erst dann sähen wir, was eine säkularisierte Würde tatsächlich zu leisten vermag. Ich möchte das aber ehrlich gesagt nicht ausprobieren. Letztlich bleibt nur ein Weg: Weitere Forschung auf diesem Gebiet zu verhindern. Oder hoffen, dass sich prinzipielle Grenzen auftun.
Bei der Menschenwürde hänge ich gerade, vielleicht fällt mir später mehr ein.
[EDIT: 2007-12-16 18:53]
Doch, der Verfassungsschutz und ich lesen noch gelegentlich mit, Gregor. Habe allerdings leider schon das meiste vergessen, was ich vor einer Woche hier gelesen hatte.
Ich finde auch, dass Daschner richtig gehandelt hat. Es wäre schön, wenn es mehr Beamte und Politiker mit dieser Zivilcourage oder auch bloß einem Bruchteil davon gäbe. Die meisten denken allerdings vermutlich zuerst an ihre Pensionsansprüche und handeln dementsprechend (nicht).
Meiner Meinung nach war die Absicht von Schäuble vor allem, solche schwierigen Entscheidungen (bzw. noch viel schwierigere) dem Verteidigungminister zu ersparen. Er will also die Verantwortung von der Exekutive auf die Legislative abwälzen und damit auf mehrere Schultern verteilen. Der Minister kann sich dann beruhigt zurücklehnen und mit Verweis auf das Gesetz den Abschussbefehl geben. Menschlich ist die Absicht von Schäuble für mich verständlich, denn in Fällen wie am 11. September ist ein tragischer Konflikt von enormem Ausmaß für den Verteidigungsminister unvermeidbar.
Trotzdem denke ich, dass das Bundesverfassungsgericht richtig entschieden hat. Die Entscheidung muss immer angesichts der einzelnen Umstände getroffen werden, ein Blankoscheck kann nicht verlangt werden. Wer mit der Möglichkeit, diese Verantwortung zu übernehmen, nicht leben kann, sollte nicht Bundesverteidigungsminister werden.
Der Satz von Depenheuer bedeutet meiner Meinung einfach, dass Täterschutz unter Berufung auf Artikel 1 nicht vor den Schutz des potentiellen Opfers gehen soll. Das ist doch das Problem vieler Gesetze (z.B. im Steuerrecht), dass theoretisch gut gemeinte Regelungen zu mehr Ungerechtigkeit führen. Der Gesetzgeber/Verfassungsrichter (bzw. Beamte im Finanzministerium) lehnt sich selbstzufrieden zurück, und die Betroffenen verzweifeln.
Menschenwürde finde ich auch einen komischen Begriff. Als Normalbürger kann man sich nicht viel darunter vorstellen, und er ist dementsprechend auslegungsfähig. Die meisten Menschen kennen Würde sowieso nur aus dem Satz »Für Geld würde ich alles tun«, aber das war Euch wohl bekannt.
Na, dann sind’s schon vier
Doch, der Verfassungsschutz und ich lesen noch gelegentlich mit
Das muss der »anonyme« Tracker sein. Sei’s drum.
Habe allerdings leider schon das meiste vergessen, was ich vor einer Woche hier gelesen hatte.
Das spricht eindeutig gegen die Kommentatoren!
Ernsthaft: Er will also die Verantwortung von der Exekutive auf die Legislative abwälzen und damit auf mehrere Schultern verteilen.
Ja, das glaube ich auch. Das war die Hauptintention. Er will einfach nicht, dass er bzw. der Verteidigungsminister irgendwann auf der Anklagebank sitzen.
Trotzdem denke ich, dass das Bundesverfassungsgericht richtig entschieden hat. Die Entscheidung muss immer angesichts der einzelnen Umstände getroffen werden, ein Blankoscheck kann nicht verlangt werden. Wer mit der Möglichkeit, diese Verantwortung zu übernehmen, nicht leben kann, sollte nicht Bundesverteidigungsminister werden.
Das sehe ich genau so.
(Ob das Punkte beim Verfassungsschutz bringt?)
Beamte sind weisungsgebunden,
daher tun sie sich mit Zivilcourage entsprechend schwer.
@Gregor
»Habe allerdings leider schon das meiste vergessen, was ich vor »einer Woche hier gelesen hatte.
>Das spricht eindeutig gegen die Kommentatoren!
Eher gegen den alzheimergeschädigten Kommentator stripe.
>Ob das Punkte beim Verfassungsschutz bringt?
Vergeben die Plus- oder Minuspunkte?
@Metepsilonema
>Beamte sind weisungsgebunden, daher tun sie sich mit Zivilcourage entsprechend schwer.
Sicher, und für das Funktionieren der Bürokratie im positiven Sinn ist diese Weisungsgebundenheit auch notwendig. Ich hätte vielleicht eher von den »Beamten in führenden Positionen« schreiben sollen. Ich hege immer noch die naive Hoffnung, dass Leute in Spitzenpositionen sich nicht nur durch stärkere Ellenbogen, sondern auch durch eine gewisse geistige Unabhängigkeit von den Mitläufertypen unterscheiden. Jedenfalls manche von ihnen.
Im Fall Daschner ist der Verstoß gegen die Weisungen/Gesetze übrigens der einzige Grund, wieso man überhaupt von Zivilcourage sprechen kann. Denn dass ein großer Teil der Öffentlichkeit (vielleicht sogar die Mehrheit) sein Verhalten IN DIESER KONKRETEN SITUATION gutheißen würde, dürfte ihm klar gewesen sein. Insofern schwamm er nicht gegen den Mainstream.
vielen Dank für diese »Rezession«, man sieht daran sehr schön wie Vokabeln aus der Staatstheorie dazu benutzt werden, den Bürgern Ängste einzureden, die wiederrum mit einer rechtstaatlichen Notwendigkeit begründet werden. Allein das Wort: Verfassungsautismus? Warum haben wir eine Verfassung? damit wir sie nicht beachten? Die Verfassung der BRD darf niemals geändert werden, solange wir in einer Demokratie leben wollen. Niemals darf man die Verfassung wg. äußeren Einflüssen ändern. Denn die wirkliche Gefahr für die demokratische Freiheit geht von den Menschen aus die die Verfassung manipulieren wollen.
Das Problem ist nur, dass dieser Diskurs für die meisten Bürger zu hoch ist, obwohl eigentlich jeder verstehen sollte, dass es niemals absolute Sicherheit noch absolute Freiheit geben wird.
Jedoch wird bei der gesamten Sicherheitsdiskussion die absolute Grundlage unserer Rechtsordnung vergessen: Der Staat ist für den Bürger da & nicht andersrum.
Daraus muss man schlußfolgern, dass der Gesamte Diskurs von Herrn Depenheuer einen Logikfehler hat. Denn er geht davon aus, dass der Staat am besten weiß was gut für den Bürger ist. Das ist mit Verlaub Schwachsinn, denn mit dieser Argumentation kann man auch eine Diktatur betreiben.
Verfassungsaktionismus
Den Begriff des Verfassungsautismus finde ich zunächst einmal interessant. In seiner Argumentation ist er durchaus korrekt. Da Depenheuer glaubt, dass der Rechtsstaat durch Terroristen bedroht ist, erscheint es ihm geraten (und auch moralisch legitim), die Verfassung dahingehend zu verändern, dass diese Bedrohung abgewendet werden kann. Umgekehrt: Stellt der Rechtsstaat (d. h. der Gesetzgeber, der eine Verantwortung für die Bürger hat) die blosse Form der Verfassung wie sie sich jetzt präsentiert (und – wie gesagt – für ihn nicht mehr entsprechend den Herausforderungen »gerüstet« ist) über die Funktionaliät (d. h. Wehrhaftigkeit, ergo: Selbstbehauptung), so hält wird diese Verfassung nur noch zum blossen Objekt der Bewunderung ohne tatsächliche »Schlagkraft«.
Wenn es so wäre, hätte er übrigens Recht. Seine Überlegung ist aber aus zwei Gründen falsch:
1. Terroristen werden sich durch noch so ausgeklügelte Verhaltensregeln des Staates nicht von Anschlägen abbringen lassen, wenn für sie – marxistisch argumentiert – ein »Mehrwert« zum Risiko besteht. Wenn es sich um Selbstmordattentäter handeln sollte, ist es eh eine Illusion zu glauben, diese Leute wären durch Gesetze von ihrem Tun abzubringen.
Depenheuers Vorschläge sind – für die Abwendung konkreter terroristischer Aktivitäten – blosser Aktionismus. Man könnte ihm also entgegenhalten, er werfe anderen Verfassungsautismus vor, während der selber ein Verfassungsaktionist ist.
2. Verändert man das Regelwerk, sprich die Verfassung, so, dass am Ende von dem vormals schützenswerten Staat nur noch wohlfeile Formulieren übrigbleiben, so hat man erst recht eine leere Hülle, die zu schützen sich kaum noch lohnen dürfe.
Dass man die Verfassung niemals ändern dürfe, ist natürlich nicht richtig. Sie wird durchaus sehr oft geändert, übrigens auch in den relativ wichtigen ersten 20 Artikeln. Meist sind dies Änderungen, die bspw. Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern regeln (hier die Änderungen anlässlich der Föderalismusreform [pdf]), usw.
Diese Art von Änderungen sind für den Kernbereich jedoch ohne direkte Auswirkung.
Staatsglaube: Lebensgefährlich
Einmal mehr wird klar, daß die Vorstellung von »Staat« – zumal in demos-kratischer Totalität – schlichtweg lebensgefährlich ist.
Tatsächlich ist natürlich nicht der »Staat« für den Bürger da – wie sollte er auch. »Staat« schreibt man sich auf die Fahne, um gewaltsam herrschen zu können: Mit staatlich-gewaltsam gesicherten Monopolen in Sachen Geld, juridischem Letztentscheidungsrecht, Tragen und Anwenden von Waffen und sogar im Bildungs- und weitgehend im Gesundheitswesen sowie der Propaganda der Medien, die als Lizenzabhängige ebenso wie die zahlreichen »Freiberufler« dem Gusto der, angeblich völkisch legitimierten, Gewaltherrscher weitgehend ausgeliefert sind. Völlig abgesehen von den beherrschten »Bürgern«, die im Grunde doch nur Bürgen sind, staatlich-zwangsbeschulte, staatlich »Gebildete«, die – an den »Staat« glaubend – weitgehend zu seinem tumben Ebenbilde degeneriert sind.
Aber Bilder sind keine Wahrheiten, ein Götze ist kein Gott. DARAN wird der »Westen« zugrunde gehen, wenn er so weitermacht. Seine säkularisierten Werte, seine institutionellen und ganz und gar nicht bloß ideellen Abstraktionen haben das Recht und die Freiheit flach gelegt. Wer von der Vertikalen zur Horizontalen säkularisiert, bringt die Dimensionen durcheinander. Die Werte der Familie beispielsweise mutieren als Sozialstaat zum Ungeheuer. Und: Aus einem Sich-Bilden ist ein kollektiver Formungsanspruch geworden: Ganz wirklich bilden eben nicht die Bürger den Staat, sondern der Staat bildet die Bürger, greift sich die Heranwachsenden, (gegebenfalls ganz physisch) und zwingt sie in seine Schulen, sondert gar durch sein Qualifikationsmonopol. Der Gipfel der Raffinesse ist das Geldmonopol: Hiermit ist eine freie Wirtschaft bereits grundsätzlich unterminiert. Und selbst die Gebühren des staatlichen Gerichtsmonopols sind in staatlichem Geld zu entrichten und verunmöglichen so viel zu Vielen den ohnehin durch staatliche Ausbildung, Besoldung und »Gebührenordnung« manipulierten »Rechtsschutz«. Die Prozeßkostenhilfe hat da nur Alibifunktion, wie ausnahmslos jeder weiß, der sich diese in Theorie und Praxis genau anschaut. Mit dem staatlichen Monopolgeld läßt sich weitgehend unbemerkt zu Gunsten der Nomenklatura herrschen und (be-)steuern, so daß Respekt vor diesem ungeheuerlichen, ja teuflichem Werk geboten erscheint. Um ein solches System ist es nicht schade, der Staatsglaube wird auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, die von ihm Geblendeten werden nachfolgenden Generationen unlöblich unverständlich sein müssen. Die »Selbstbehauptung« des Staates ist Fanal seines Unterganges. Dabei geht jedoch nur ein Hirngespinst unter, das tatsächlich die Menschen nicht brauchen. Diese können frei davon besser arbeiten, sich vertragen, handeln und sich abgrenzen oder zusammenfinden. Und schon gar nicht brauchen sie sich einem »Gott« zu opfern, der keiner ist (H.-H. Hoppe).