In »Gestern unterwegs« setzte sich die Entwicklung aus den Journalen von Peter Handke fort, die sich schon bei seinem vorletzten Journal »Am Felsfenster, morgens« abzeichnete. Während die tagebuchähnliche Journale davor durchaus auch aphoristisches enthielten, teilweise ein bisschen jungenhaft daherkamen, zeigen sich in der von Handke vorgenommenen Auswahl insbesondere bei »Gestern unterwegs« neben den Reise‑, nein, besser: Geh-Impressionen auch die Fingerübungen zu später entstehenden Büchern. Das ist bei einem Dichter sicherlich nicht ungewöhnlich, setzt jedoch beim Leser eine gewisse Auseinandersetzung mit dem Werk voraus, ohne die solche Verweise (auf zukünftige Literatur) sicherlich nur halb so interessant sein mögen.
So kann man sich überrascht zeigen, dass Handkes (bisher weitgehend unverstandenes Buch) »Der Bildverlust« (2002 erschienen) durchaus bereits in den »Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990« (so der Untertitel des Buches) Form annahm und mehr als nur ein vages Projekt gewesen sein muss (freilich betont Handke im kurzen Vorwort [Lieber Leser!], dass einiges bereits in dem 1994 erschienenen Buch »Mein Jahr in der Niemandsbucht« aufgenommen wurde). Natürlich fallen in die Zeit Handkes »Versuche« (die sich an zahlreichen Stellen abzeichnen), der Erzähl- und Novellenband »Noch einmal für Thukydides« und sein Theaterstück »Das Spiel vom Fragen«.
Lösgelöst von diesen manchmal fast philologischen Details hat man sich im vorliegenden Hörbuch (4 CDs mit insgesamt 232 Minuten) bei Hoffmann und Campe fast ausschliesslich auf die wunderbaren Reisenotizen Handkes konzentriert. Und das alles von ihm selbst gelesen, bedächtig, in einer adäquaten Langsamkeit (die keine Trägheit ist), die die Episoden oft wie ein Gedicht rezitieren, ja zelebrieren; gelegentlich psalmodieren. (Wie schön, dass einige Male Vogelgezwitscher im Hintergrund zu hören ist.) Und ab und zu scheint Handke geradezu über eine Formulierung, ein Wort, ein Bild überrascht; manchmal erheitert und ein paar Mal fügt er etwas hinzu.
Handke, der Augenblickdenker und Gegenwartsammler mit dem Vergewisserungsblick, der rastlos Suchende mit der Sehnsucht nach Stille (und Ruhe), reist alleine durch das jugoslawische Karst, das Friaul, Triest, Griechenland, Kairo, dann nach Frankreich, Belgien, irgendwann ist er in Tokio und dann irgendwo anders in Japan durch Wälder irrend eine Buddhastatue suchend (und dann findend). Dann im Flugzeug nach Anchorage (man erinnert sich an »Langsame Heimkehr«), dann London, Lissabon/Portugal, Galizien, Baskenland; Nimes/Aix en Provence; wieder Triest, das Friaul; Versailles, London (er landete am Tag des Lockerbie-Unglücks mit der »Zubringer«-Maschine aus Frankfurt in London – eine der wenigen Male, wo Handke »zeitaktuell« wird); Schottland; Rouen/Bretagne; die Pyrenäen – und so weiter. Und immer wieder kommt er nach Jugoslawien, insbesondere nach Slowenien und es klingt nun (nachträglich) wie eine lange Abschiedsreise von seinem Arkadien, dem Land Jugoslawien, welches er, wie er einmal sagt, als Gegenland zu Hofmannsthals Deutschland.
‘Staunend unterwegs’ oder ‘Exerzitien des Schauens’ hätte man es auch nennen können. Handkes Aufzeichnungen »handeln« im landläufigen Sinne von – nichts; scheinbar nichts! Vom Fallen eines Blattes, von Spatzen (den einzelnen oder auch den Schwärmen) , der Wasserlache eines Feldwegs, den Figuren einer Kirche oder Moschee, den Kindern des Abends (Amseln), Passantenzügen, dem Fahren in Bussen oder Zügen (Handke kann nicht Autofahren); der Stille eines Ortes – mit und ohne Menschen; von so etwas wie den Glücksmomenten des Lebens und wenn sich so etwas ungeheuerliches dann »ereignet«, wenn Handke so etwas in Sprache bringt, da begreift man erst einmal, was man im allgemeinen Lärm des (sogenannten) Alltags alles nicht mehr mitbekommt und man lernt – im Idealfall – wieder das Schauen, das Ruhen (das Ausruhen können) und vielleicht sogar wieder das Staunen. (Und Handkes Beschwörung des Verbots der Sorge [an Heidegger angelehnt] – und dieser Appell an sich selbst zeigt ja auch so einiges.)
Vieles ist bei Handke auch Suche (er nennt sich einen Stöberer); im Wissen um die »Unvollkommenheit«. Einmal heisst es: ... und jetzt lass dem Phänomen wieder seine Ruhe – als verunreinige der menschliche Blick geradezu die Welt. Das Streben nach der Vollständigkeit des Mensch-Daseins – nichts weniger als das ist sein Wunsch; und es wäre fast eine Plattitüde würde man sagen, Handke wolle »eins sein« mit der Natur – nein: er will mit den Dingen wirklich sein. Ein freilich ephemeres Glück (das weiss Handke natürlich), aber eines, das unbedingt versucht werden muss (und kann). Und das Beschwören, das Tasten, das Offen-Werden für diese aufwandlosen Augenblicke, das Erzählen dieser Begebenheiten (die dann manchmal noch mit einem Datum versehen werden – sozusagen als eine Art wahres, neues, letztes Geschichtsbuch [Wann wurde das Eichhörnchen von Jägern in Mazedonien getötet? Wann zog der Spatzenschwarm davon? Wann ereignete sich die Kellnergeschichte?]), das Verbsuchen; die »Und-Gedichte« (Zweizeiler) – all dies mit der eingangs beschriebenen Handke-Stimme: Und der Leser sieht das gelesene Buch noch einmal ganz neu – durch das Hören.
Einmal heisst es: Ein (halbwegs) geglücktes Leben erkennst Du daran, dass derjenige nicht zum Popanz seiner selbst (seines Selbst) wird, sondern zittert, und zittert, kindlich, schwach, auf der Kippe, bis zuletzt. Und der letzte Satz auf der vierten CD im Hörbuch ist plötzlich nicht mehr so ganz abwegig: »…ein Regentropfen fiel in seine Oberlippenfurche. Eine Flocke streifte sie und das war das Leben. (==> Hörprobe hier: )
Von den dreieinhalb Jahren dieses Journals ist Handke bestimmt insgesamt drei Jahre unterwegs. Dieses Journal sei denn das letzte seiner Art, schreibt er. Leider – fügt der Leser hinzu. Seit 1991 ist Handke – für seine Verhältnisse – sesshaft geworden und lebt in Chaville (in der Nähe von Paris). Seine weiteren Reisebücher sind dann schon diejenigen, die vom Abgesang Jugoslawiens erzählen.
Hörbucher haben gelegentlich den Fehler, dass die Stimme des Vorlesers – meist eines Schauspielers, aber nicht nur bei ihnen – über Inhalt und Form des Geschriebenen dominiert. Stimme und Betonungen lenken ab von der Erfassung des Textes. Sei es, weil diese Vorleser sich besonders hingezogen fühlen zu dem Text und ihn noch ein bisschen herausheben wollen (was meist unnötig ist) oder einfach aus Eitelkeit, um sich selbst herauszustellen (was schrecklich ist). Von all dem hier nichts. Handke stellt sich sozusagen voll im Dienste des Wortes, des Satzes, des Begriffes, des Bildes – praktisch mit ihm verschmelzend, ohne es (das Geschriebene) zu dominieren zu wollen; ein gravitätisches Lesen.
Ach ja, und noch etwas für (oder besser: gegen) alle diejenigen, die uns von den »tollen Möglichkeiten« erzählen, Hörbucher »beim Autofahren« quasi zu konsumieren: Glaubt diesen Möchtegernlesern, diesen Literaturkritiker-Imitationen kein Wort! Wenigstens nicht hier und mit diesem Hörbuch. Aber auch sonst: Räumt dem Lesen, dem Hören, dem Schauen den Platz ein, der ihm gebührt. Nicht als Geräuschkulisse im Hintergrund soll Literatur dienen, sondern als in diesem Augenblick das Wichtigste auf der Welt. Man erschaffe sich solche Augenblicke. Und staunt dann wieder. Endlich. Recht so.
Orpheus in der Oberwelt
Kaum jemand, der derart im besten Sinne noch Intensitäten, ganzheitliche, minimal-übewältigende, augenblicks-andere Sichten vermitteln kann, dazu Staunen und Wundern und doch zu höheren Graden von Präzisionen schreiben, d.h. auch handwerklich auf einer bestimmten, fast eigenen Höhe ist, wie Peter Handke.
Ich habe immer gefunden, dass seine Journale eben im wie Unfertigen – Öffnen und Offenlassenden – eine ganz eigene Qualität haben und bestimmen, wo das entleerte, da für allen Unsinn entlehnte Wort „poetisch“ eine an seine Quellen anknüpfende Bedeutung hat: Etwas auf höhere Art Besingen, es Feiern.
Dass diese Sache heutzutage etwas quasi Exotisches geworden ist – und im Gegenzug solche Menschen wie Reinhard May et.al. als „Poeten“ sich titulieren lassen dürfen, weil sie reimend an konventionelle, d.h. mehrheitsfähige Formen anknüpfen – das ist schon merkwürdig. Vor allem da sehe ich Handke als beharrende und singuläre Gestalt. Und er ist es für uns alle!
Ja, und wie...
Handke das »Poetische« immer wieder »fassen« will; umkreist; neu definiert – nur, um es der allgemeinen Verhunzung zu entreissen. Das hat schon etwas Rührendes. Wie da jemand versucht, einen Begriff, der zur Floskel verkommen ist, wieder zu re-aktivieren. Und das nicht nur über die »Definition« bzw. das Bild, sondern durch die Tat.
Geständnis
Zu Hörbüchern konnte ich mich noch nie durchringen, ich glaube es fällt mir schwer mich länger darauf zu konzentrieren. Aber vielleicht sollte ich es einfach mal probieren.
(Zu Handke vermag ich leider nichts zu sagen.)
Rührung
Das “Rührende” stieß mir auf – obwohl ich zu wissen glaube, wie Sie es meinen.
In ganz anderem Zusammenhang las ich neulich eine Definition von Kitsch (ich meine, es war von Gumbrecht... es ist mir aber auch nicht wichtig genug, jetzt danach zu suchen): Das sei, wenn es einem Gerührten um diese eigene Rührung gehe. Ich fühlte mich gleich schuldig – wollte aber ebenso auf diese (in der Tendenz ja eher seltenen) Fälle bestehen, wo es mich schon mal aus meiner angestrengten Haltung von Unangerührtheit reißt.
Könnte man es nicht auch dem eher (Handke-)Kindlichen zuschlagen, dem Insistieren auf das Staunenswerte, das im Wundern besser Anrührende, das einen eben Be-rührende?
Aber das alles sind ja dann immer auch Gratwanderungen, und es ist schon mutiger auf dem schmalen gefährlicheren Weg sich zu bewegen („unterwegs“ zu bleiben), als in der Gewissheit der mit solchen Schuldwörtern delegierten Urteile. Was mich dann eben auch an jener Gelehrten-Definition störte: Die Unzweifelhaftigkeit des Professoralen, der sich allen Kitschverdachtes entledigt weiß (oder wissen will).
Aber: Fehlt ihm dann nicht aber auch etwas?
Nein,
es geht ihm (so lese [und höre] ich das) nicht um die »eigene Rührung«; es ist eher eine fast fortlaufende Selbstvergewisserung, die sich im Suchen zeigt. Also tatsächlich: ..das im Wundern besser Anrührende..., das ihm Be-rührende.
Das wirkt natürlich (unter Umständen) gelegentlich ein bisschen gespielt weltfremd oder naiv. Es gibt bei Handke im »Spiel vom Fragen« die Dialoge zwischen »Mauerschauer« und »Spielverderber« – das könnten auch Selbstgespräche (Vergewisserungs-Gespräche) sein. Der »Spielverderber« sieht immer nur das Negative – der »Mauerschauer« neigt zum »Kindlichen«. Irgendwann folgt dann die Selbstcharakterisierung des Schönschauers: Er sei wohl – und dies als Notwendigkeit – »gesund dumm«. In diesem Sinne wird vielleicht der sehr, sehr schmale Grat, von dem Sie sprechen, gestreift. Aber gleichzeitig zeigt es Handkes »Programm« (ein schreckliches Wort in diesem Zusammenhang).
Und es ist ein sich-diesem-Aussetzen, was ihn (den Autor) auszeichnet.
Eine schöne Würdigung, die mich zum Leser, vielleicht auch Hörer, dieses Buches machen wird.
Danke!
Handke ist ein ‘Wahrnehmungskünstler’, oder besser, weil weniger tautologisch, ein ‘Wahrnehmer’ der Welt jenseits ihrer technischen Wahrnehmungsorgane: Zeitung, Fernsehen, Internet. Oder noch deutlicher: Handke apperzeptiert* die fad gewordene Selbstverständlichkeit der Welt in einer anachronistischen Weise und bürstet sie quasi gegen den Strich... Er ist in diesem Sinne ein ‘Hinzuwahrnehmungskünstler’!
Handke hat damit bewusst die Rolle des ‘reinen Toren’ übernommen, der Begriff trägt zum Verständnis seiner Literatur ebenso bei, wie er Handkes ‘politische’ Aussagen in ein ihnen ‘gemäßes’ Licht setzt.
*(Apperzeption aus neulat. adpercipere »hinzuwahrnehmen«, von Leibniz im Unterschied zu Perzeption gebraucht für den seelischen Vorgang, durch den sinnlich Gegebenes mittels Aufmerksamkeit und Gedächtnis aufgefasst, angeeignet, ins Bewusstsein erhoben, in den Bewusstseinszusammenhang eingeordnet wird).
Toller, trefflicher und treffender Kommentar. Eine wichtige Ergänzung. Danke.
Danke gleichfalls
Sie können einen aber auch ganz schön herausfordern,Herr Keuschnig :-)
some comments on lothar’s response to FELSFENSTER
german feels difficult today since i am overworked and tired, so i am going to comment on lothar’s fine piece in english.
1] the reason handke does not know how to drive is because his color vision problems he can’t get a driver’s license. thus all those bus trips, descriptions of what passengers look like in buses [niemandsbucht] and also the walking. buses and railways or walking. you see a lot more, are left undistracted by concentrating on dangers. handke, unlike me, did not learn to ride a horse or mule. also, readers of the major yugoslav texts will note that handke needs friends to drive him around.
2] the diary notations that are most revelatory of artistic planning, changing is GESCHICHTE DES BLEISTIFTS. Perhaps still my favorite book of them all. The naked ego exhibition of GEWICHT DER WELT ceases and artistic projects, especially what would become UEBER DIE DOERFER, step into the foreground, we can see the change in modus before our eyes. one of the implications of GEWICHT, not articulated as such, was :I MUST CHANGE. well, he did, and for the better as far as I am concerned, at least for a while.
3] i am puzzled, but ready to be enlightened, by lothar’s mention (Und Handkes Beschwörung des Verbots der Sorge [an Heidegger angelehnt] – und dieser Appell an sich selbst zeigt ja auch so einiges.) since the persona of Sorger that Handke adopts for LANGSAME HEIMKEHR is caring in the best sense that sensitive priests are. caring for language first of all in the manner in which it names, or does not name; the book is a big advance on LINKHAENDIGE FRAU in sensitive description and evocation without showing of the extraordinary delicacy and sensitivity required both verbally and in sense intake. so who knows why handke tried not to be too caring: because otherwise he’d be destroyed now that, at a great remove, has become empathetic?
http://www.roloff.freehosting.net/index.html
will lead to a variety of sites devoted to the work and person of peter handke
HANDKE LINKS + BLOGS
SCRIPTMANIA PROJECT MAIN SITE: http://www.handke.scriptmania.com
and 12 sub-sites
http://www.handkelectures.freeservers.com
http://www.handke.scriptmania.com/realblog.html
[dem handke auf die schliche/ prosa]
http://handke-discussion.blogspot.com/
http://www.artscritic.blogspot.com [some handke material, too, the milosevic controversy summarized]
Danke
für Ihren Kommentar.
Es ist auch in »Gestern unterwegs« sehr viel Material zu lesen, welches sich in den nächsten Handke-Büchern (bis zum »Bildverlust«) wiederfindet. Sie haben recht, dass insbesondere im »Gewicht der Welt« sehr viel stärkerer Selbstbezug auf Handkes (private bis intimste) Befindlichkeiten zu finden ist; so etwas fehlt im »Felsfenster« und »Gestern unterwegs« fast vollkommen. Das ist aber nicht unbedingt ein Nachteil.
Handke sagte mal, dass er für die Journale nur einen Bruchteil seiner Notizen verwendet, insofern dürfte das oben beschriebene Absicht sein.
Zu seiner mehrfachen Erwähnung der »Sorge« verblüfft mich der Gedanke an »Sorger«, der Protagonist aus »Langsame Heimkehr«. Daran hatte nun ich nicht gedacht. Wie überhaupt – und durch die Auswahl zum Hörbuch wird das besonders deutlich – sehr vieles von seinen Reisebeschwörungen immer Geschichten der »Heimkehr« sind. Man hat das Gefühl, er kommt ständig irgendwo an.
Und jetzt erinnere ich mich an den »ankommenden« Gregor in »Über die Dörfer«...