Dieser (virtuelle) Aussichtspunkt ist der Roman. Michael Ondaatje ermöglicht es, weit in die Ferne zu sehen – wobei hier meistens Vergangenheit gemeint ist. Am Anfang glauben wir an eine Variation zwischen den »Waltons« und »Aus der Mitte entspringt ein Fluß« (auch wenn die zeitliche Verortung eine andere ist) und wir hören schon die Geigen und Rolf Schults sonore Stimme und sieht den unnahbaren, alleinerziehenden Vater (seine Frau starb bei Annas Geburt), der hier zwei Töchter hat, Anna und Claire (wobei Claire eine Adoptivtochter ist) und zusammen mit Cooper (»Coop«) eine Farm betreibt. Und wir erleben in Zeitraffer das Heranwachsen der Mädchen und die seltenen, innigen Momente mit dem Vater, wenn man ihn in dem Niemandsland zwischen Müdigkeit und Einschlafen erwischte, jenem Dämmerzustand, wenn er auf der karierten Sofadecke die Kontrolle abgegeben hatte und seine Töchter in beiden Armen an sich gedrückt hielt.
Coop, der Knecht auf der Farm, ist nur vier Jahre älter als die beiden Mädchen, und es kommt, wie es kommen muss: Sie himmeln ihn heimlich an. Er ist ziemlich verschlossen, geht in seiner freien Zeit nur selten aus, ist ein bisschen kauzig, träumt vom Goldsuchen in den Bergen, bringt Claire fast wie nebenbei das Autofahren bei – wie ein grosser Bruder. Und dann erliegt er Annas Charme und sie beginnen ein Verhältnis; sie war 16 Jahre alt, fast nichts. Eines Tages entdeckt der Vater die beiden in flagranti und es kommt zu einer entsetzlichen Schlägerei, die Coop fast das Leben kostet und die drei für immer auseinandertreibt.
Cooper wird Berufspokerspieler und wir bekommen einen Einblick in die Welt der Pokerspieler, Kartenzinker und Trickser. Und deren Melancholie. Coop will den ganz grossen Coup landen – und schafft ihn auch. Und danach zerstreuen sich die Spieler in alle Richtungen. Inzwischen sind wir in den 90er Jahren.
Anna, in Frankreich, kümmert sich um die Werke des (fiktiven) französischen Schriftstellers Lucien Segura (es muss eine Art Forschungsauftrag sein). Sie lernt den Strassenmusiker Rafael kennen; es entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Während Ondaatje in der kalifornischen Geschichte zärtliche und schöne Momente einfängt und ihm manchmal sogar episches Erzählen gelingt, trieft jetzt ein bisschen der Kitsch (Rafael ist mit 53 im Spätsommer seines Lebens, ist jetzt verwaist, denn er hatte beide schützende Flügel [die Eltern] verloren).
Irgendwann sind wir wieder bei Cooper. Claire begegnet ihm zufällig. Sie arbeitet bei einem Rechtsanwalt, recherchiert für ihn in einer fremden Stadt und sie verabreden sich. In Rückblenden erfahren wir von Coopers neuen, frischen Liebelei mit Bridget (wirklich ergreifend, wie Ondaatje dieses Erzählen der Liebe der rauschgiftsüchtigen Frau gelingt und Coop später feststellt, dass eigentlich nicht sie die Süchtige ist, sondern er – nach Liebe). Aber auch diese Liebesgeschichte endet unglücklich (wie genau, soll nicht verraten werden) und Coop wird abermals fast tot geprügelt, als er sich weigert, einen Spieler für eine mafiaähnliche Gruppe mit Falschspielerei auszunehmen. Claire findet ihn blutüberströmt, als sie ihn sucht, weil er ihre Verabredung nicht eingehalten hat. Er überlebt, hat aber das Gedächtnis verloren; erinnert sich an fast gar nichts mehr; erkennt Claire nicht und nun zeigt Claire ihm all das, was er in der Kindheit und Jugend ihr beigebracht hat. Und gleichzeitig beginnt der Irakkrieg 2003.
Und da ist diese Geschichte unwiederbringlich aus und es beginnt Lucien Seguras’. Lucien hat im Alter das Kind Rafael getroffen, der jetzt Annas Liebhaber ist und diese Begegnung hat Rafael sein ganzes Leben geprägt. Wir erfahren nun von dem unglücklichen Dichter Segura, seinen Problemen mit seiner Frau, die sich ihm immer mehr entfremdet; seinen Töchtern, die trotz Heirat Verhältnisse mit anderen Männern haben; dem Krieg und der Diphtherie und dem Krankenlager; seiner lebenslangen Liebe zur viel jüngeren, androgynen Marie-Neige, die bis auf einmal immer nur Schwärmerei bleibt und seinen Romanen, in der er sie – nach ihrem Tod – als fiktive Figur verewigt.
Ondaatje erzähle nicht linear, sondern in Perspektiv- und Erzählwechseln, Rückblenden und Rückblenden von Rückblenden. Leider analysiert er dabei manchmal ein bisschen zu oft statt einfach nur zu erzählen. Fast scheint er zu sehr in seine Konstruktion verliebt. Figuren werden entwickelt – und wenig später wieder fallengelassen. Schöne, fast lyrische Momente wechseln mit eher altbackenem Erzählduktus. Ondaatje verwendet schöne, ruhige Pastelltöne, zum Beispiel bei der Schilderung von Luciens Liebe zur bäuerlichen Marie-Neige, der er das Lesen beibringt. Aber er macht dabei auch schon einmal einen Schnörkel zuviel, etwa wenn inmitten grösster sexueller Hingabe das sorglose Gezirpe der Zikaden das einzig vernehmbare bleibt. Da scheint sich die zelebrierte Schüchternheit der Figuren auf den Autor übertragen zu haben und das wirkt ein bisschen parfümiert.
Dass dieses Buch bei der Kritik grossen Erfolg hat, verwundert zunächst. Vielleicht liegt es aber daran, dass Kritiker gerne von leidenden Schriftstellern und leidenden Liebenden lesen. Und durch das von Ondaatje gewählte Erzählverfahren wird ein gewisser Anspruch suggeriert (oder doch eher simuliert?), der die profane Schlichtheit der Liebesgeschichten verdeckt.
Aber Divisadero wirkt angestrengt, fast überambitioniert in dem Furor, etwas ganz besonders künstlerisch und/oder gespiegelt auszudrücken. Das wirkt ein bisschen artifiziell. Ein Buch konzipiert für jeden und ein bisschen auf die Wirkung hin geschrieben – und da ist das Problem: Alle sollen angesprochen werden (und für das Bildungsbürgertum gibt es ein Nietzsche-Zitat). Der Nachteil dieses Verfahrens: Viele der schönen Bilder werden noch erklärt – damit es der Letzte begreift, was gemeint ist. Dabei werden sie jedoch leider entwertet, zum Beispiel wenn die Versehrtheit der Figuren auch noch durch körperliche Defekte unterstrichen wird. Als müsse das sein. Warum vertraut Ondaatje nicht seinem Erzählen, lässt ihm freien Lauf, statt immer mehr in Episoden zu verfallen, die schon jetzt Filmschnitten gleichen?
Ein Interesse für die Figur des Lucien, dieses lange glück- und lieblosen Schriftstellers, der erst am Ende zu schriftstellerischem Erfolg findet – allerdings mit eher trivialem (die Gedichte schätzten nur die Eingeweihten) -, der zur Lichtgestalt Rafaels wird (warum eigentlich?) oder für die zurückhaltende Marie-Neige – dieses Interesse wird nicht besonders befeuert; man liest es seltsam kalt und fast ein bisschen gleichgültig, wenn sich der nostalgische Schwermut, der in grossen Lettern aufgeboten wird, nicht einstellt. Gerne wäre man noch bei Coop und Claire geblieben. Hier trifft Ondaatje den Ton besser als in der Imagination des Ersten Weltkriegs, aber der Autor hatte es anders vor (Literatur ist kein Wunschkonzert).
Der Faden, der Luciens Lebens- und Liebesgeschichte mit der amerikanischen Jugend in der kalifornischen Provinz miteinander verbindet, ist zwar sichtbar, aber sehr dünn. Vielleicht hängt aber Ondaatje der Theorie des »Kleine-Welt-Phänomens« von Stuart Milgram an und wollte ein literarisches Beispiel hierfür geben. Aber die Klammer wirkt arg bemüht, fast ermüdet der Leser bei der Rekonstruktion – nicht, weil diese zu schwierig ist, sondern zu dominant.
Epilog zum Prolog: Wieso muss man eigentlich vor dem Roman noch eine Art Werksinterpretation abliefern mit Rekurs auf Ondaatjes Biographie und – natürlich! – auf seinen Weltbestseller, den »Englischen Patienten«? Warum kann man das vorliegende Buch nicht aus sich selbst wirken lassen, sondern klebt ihm schon vorab ein Etikett und – was noch schlimmer ist – eine bestimmte Lesart auf? Warum solche warm-ups, die bisher nur für bestimmte Fernsehsendungen vorgesehen sind, jetzt auch bei einem Buch?
Anmerkung: Der Furor zum »Epilog zum Prolog« war übereilt und meiner Naivität geschuldet. Man wies mich darauf hin, dass es sich bei meinem Exemplar des Buches um ein sogenanntes Vorab-Presseexemplar gehandelt hat. Da hat man dann diesen Text noch als Einleitung abgedruckt. Wer’s braucht...
Aus Gründen der Dokumentation bleibt die voreilige Erregung stehen; um es ein bisschen abzusetzen, wurde allerdings die Schriftgrösse verändert.