Egon Bahr wird 85

Egon Bahr (c Wikipedia)

Egon Bahr (c Wi­ki­pe­dia)

Wenn man die »Tutz­in­ger Re­de« [PDF-Do­ku­ment] von 1963 von Egon Bahr heu­te liest und sie gleich­zei­tig von dem spe­zi­el­len The­ma des »Kal­ten Krie­ges« ent­kop­pelt, so kann man den Äu­sse­run­gen noch viel Nütz­li­ches ent­neh­men. Sel­ten traf ein Ti­tel so ge­nau ins Schwar­ze: Wan­del durch An­nä­he­rung. Das galt da­mals als sen­sa­tio­nell, ja re­vo­lu­tio­när. Der »Osten« galt als »Feind«; die Ade­nau­er-Ära tat ein üb­ri­ges an der Ver­fe­sti­gung die­ser pau­scha­len Welt­sicht. Und da kam je­mand, der zum vor­sich­ti­gen (und ziel­ge­rich­te­ten) Dia­log mit dem »Teu­fel« auf­rief.


Bahrs Wort, dass die Über­win­dung des Sta­tus quo da­durch ge­lingt, in­dem der Sta­tus quo zu­nächst nicht ver­än­dert wer­den soll stiess auf Un­ver­ständ­nis und Ab­leh­nung. Die Au­gu­ren hat­ten da klei­ne Wört­chen zu­nächst in der Ei­le über­le­sen. Es soll­te noch sechs Jah­re dau­ern, bis es­sen­ti­el­le Be­stand­tei­le die­ses Den­kens in die Ost­po­li­tik der so­zi­al-li­be­ra­len Ko­ali­ti­on ein­flos­sen.

Die »Tutz­in­ger Re­de« hält heu­te noch in­ter­es­san­te po­li­ti­sche Er­kennt­nis­se be­reit, die je­dem po­li­tisch Han­deln­den ins Stamm­buch ge­schrie­ben ge­hör­ten. So lässt sich Bahr über den Un­sinn von Wirt­schafts­boy­kotts aus (Es ist ei­ne Il­lu­si­on, zu glau­ben, dass wirt­schaft­li­che Schwie­rig­kei­ten zu ei­nem Zu­sam­men­bruch des Re­gimes füh­ren könn­ten.) und plä­diert mit Ver­ve ge­gen ei­ne Po­li­tik des Al­les oder Nichts, die er als hoff­nungs­los an­ti­quiert und un­wirk­lich und für ei­ne lang­fri­sti­ge Stra­te­gie des Frie­dens auch sinn­los aus­macht. Auch den Ein­wand, man ak­zep­tie­re mit po­li­ti­schen Ver­hand­lun­gen au­to­ma­tisch das Be­stehen­de, lässt Bahr nicht gel­ten. Zum ei­nen streicht er her­aus, dass es sehr wohl im­mer schon ir­gend­wo Ak­zep­tan­zen gibt und an­de­rer­seits wä­re bei kon­se­quen­ter Be­rück­sich­ti­gung die­ses Vor­ge­hens Po­li­tik als Kon­flikt­lö­sung per se un­mög­lich.

Bahr plä­dier­te für An­nä­he­run­gen (d. h. Ver­hand­lun­gen), um für die Men­schen in den ent­spre­chen­den Län­dern (ins­be­son­de­re die DDR, die er – hier Kind sei­ner Zeit -, Zo­ne nennt) Erleichterungen…in so ho­möo­pa­thi­schen Do­sen zu er­rei­chen, dass sich dar­aus nicht die Ge­fahr ei­nes re­vo­lu­tio­nä­ren Um­schlags er­gibt. Bahr be­fürch­te­te an­dern­falls ei­ne Es­ka­la­ti­on, die bis zum Atom­krieg ge­hen könn­te.

Heu­te, am 18. März, wird der Ar­chi­tekt von Wil­ly Brandts Ost­po­li­tik 85 Jah­re alt. Nicht we­ni­ge be­haup­ten, Bahr ge­büh­re der 1971 an Brandt ver­ge­be­ne Frie­dens­no­bel­preis min­de­stens zur Hälf­te. Hier­auf an­ge­spro­chen, wür­de er es ver­mut­lich mit ei­nem ein­fa­chen »Quatsch« ab­tun. Ei­tel war Bahr nie; eher be­schei­den. Er war ein glän­zen­der au­ssen­po­li­ti­scher Stra­te­ge und be­gna­de­ter Strip­pen­zie­her. Brandt hat­te das Cha­ris­ma – und Bahr ar­bei­te­te die Po­li­tik aus. In sei­nem sehr le­sens­wer­ten Buch Zu mei­ner Zeit kann man das nach­le­sen und er­fährt auch viel über die in­nen­po­li­ti­schen Stör­feu­er wi­der die Ost­po­li­tik und über das Selbst­be­wusst­sein der deut­schen Au­ssen­po­li­tik auch den USA ge­gen­über.

Zum Idol Wil­ly Brandt bleibt Bahr über den Tod hin­aus loy­al und äu­ssert sich nur sehr zu­rück­hal­tend über Brandts ge­sund­heit­li­che Pro­ble­me, die von Zeit zu Zeit die Re­gie­rungs­ar­beit fast ver­un­mög­lich­ten. Zum Bin­nen­ver­hält­nis Brandt – Schmidt – Weh­ner nimmt er al­ler­dings kein Blatt vor dem Mund; vie­les spricht da­für, dass Bahrs Sicht der Rea­li­tät sehr na­he kommt.

Schach­spie­ler ha­ben ein Wort da­für, ei­nen ma­te­ri­el­len Vor­teil zu Gun­sten ei­nes stra­te­gi­schen Vor­teils an­zu­bie­ten, wo­bei der stra­te­gi­sche Vor­teil am En­de mehr die Ent­schei­dung über den ma­te­ri­el­len her­vor­bringt: Man bie­tet ei­nen »ver­gif­te­ten Bau­ern« an. Mit je­dem neu­en Ver­trag, den Bahr mit den ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten aus­han­del­te, wuch­sen die In­ter­de­pen­den­zen zwi­schen West und Ost. Der Pro­zess gip­fel­te 1975 in der (ur­sprüng­lich von der So­wjet­uni­on vor­ge­schla­ge­nen) »Kon­fe­renz für Si­cher­heit und Zu­sam­men­ar­beit in Eu­ro­pa« und dem Be­schluss des so­ge­nann­ten »Korb 3«, der es­sen­ti­el­le Ver­bes­se­run­gen auf dem Ge­biet der Men­schen­rech­te in Eu­ro­pa brach­te – Wan­del durch Zu­sam­men­ar­beit! Aus der KSZE ent­stand dann spä­ter die OSZE.

Merk­wür­dig ist, dass der Er­folg der Po­li­tik des Wan­dels durch An­nä­he­rung of­fen­sicht­lich der­art in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten ist, dass sie kaum Aus­wir­kun­gen für heu­ti­ge po­li­ti­sche Kon­flikt­lö­sun­gen hat. Die Zahl der Kon­flik­te, die drin­gend zu lö­sen wä­ren, sind ja nicht un­be­dingt we­ni­ger ge­wor­den: Na­her Osten; Iran; Dar­fur; Nord­ko­rea, etc. Heu­te scheint es zur Tu­gend zu ge­hö­ren, erst ein­mal mit Ma­xi­mal­for­de­run­gen und –dro­hun­gen kon­struk­ti­ve Ver­hand­lun­gen zu er­schwe­ren oder gar im Vor­feld zu des­avou­ie­ren, um sich vor den ent­schei­den­den po­li­ti­schen Schrit­ten so lan­ge wie mög­lich her­um­zu­drücken.

Gä­be es mehr Po­li­ti­ker wie Egon Bahr – die Welt sä­he an­ders aus. Mit wort­ge­wal­tig-kom­pli­zier­ten Theo­rie­ent­wür­fen hat er nie be­ein­druckt; die »Tutz­in­ger Re­de« blieb da fast ein­ma­lig. Bahr war ein Mann des Han­delns, des Ver­han­delns; das Ziel fest im Au­ge, und da­her in Gren­zen im­mer kom­pro­miss­be­reit. Nach der Ver­hand­lung war für ihn im­mer vor der Ver­hand­lung; was man jetzt nicht um­set­zen konn­te, wur­de spä­ter ver­sucht. Er hat Gro­sses ge­lei­stet. Sein Ur­teil zu po­li­tisch-stra­te­gi­schen Fra­gen ist heu­te noch wert­voll. Und es ist schön, ihn ab und an im Fern­se­hen in gu­ter Ge­sund­heit und gei­sti­ger Fri­sche se­hen zu dür­fen. Dies mö­ge ihm noch lan­ge er­hal­ten blei­ben.

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  1. 1961 be­such­te ich Egon Bahr in Ber­lin – er war Re­dak­teur im Rias. Ich woll­te in der DDR »Wi­der­stand« lei­sten...
    Ich war da­mals fast 19 Jah­re alt, leb­te in Ost­ber­lin, war in ei­nem stber­li­ner port­ver­ein, dem SC Ein­heit Ber­lin, 1958 und 1959 DDR-Jun­gend­mei­ster im Hü­den­lauf – ging aber in West­ber­lin zur Ober­schu­le, stand kurz vor dem Ab­itur.
    Egon Bahr frag­te mich zu­nächst, ob ich un­ten beim Pfört­ner mei­nen rich­ti­gen Na­men ge­sagt hat­te. Ich ant­wor­te­te mit »Ja« und hat­te mich da­mit für mein An­sin­nen oh­ne­hin dis­qua­li­fi­ziert.
    Er riet mir aber auch sonst mit ver­nünf­ti­gen Ar­gu­men­ten ab. Die glo­ba­le Ent­wick­lung wer­de Be­we­gung in die Po­li­tik brin­gen, man sol­le sich nicht sinn­los op­fern...
    Al­ler­dings ging die po­li­ti­sche Be­we­gung erst ein­mal in die »fal­sche« Rich­tung. We­ni­ge Mo­na­te spä­ter, am 13. Au­gust 1961, wur­de die De­mar­ka­ti­ons­li­nie in Ost­ber­lin mit be­waff­ne­ten Kräf­ten und mit Sta­chel­drahl ab­ge­sperrt – ich dis­ku­tier­te hef­tig an den Ab­sper­run­gen und wur­de drei Jah­re ein­ge­sperrt.

    Wür­de gern noch ein­mal mit Egon Bahr re­den. Im Rias Ber­lin ist er ja nicht mehr...

    Mit freund­li­chen Grü­ßen
    Ro­land Ex­ner