In der aktuellen Ausgabe der ZEIT wird die seit einigen Wochen dort angestossene Debatte über den Stellenwert der Regie / des Regisseurs im modernen Musiktheater durch einen Beitrag des Dirigenten Christian Thielemann mit dem Titel »Schoenes-Bett-der-Partitur« fortgeschrieben: Werktreue, nicht Werknibelungentreue
Auch wenn die Diskussion (übrigens vor der Absetzung der Neuenfels-Inszenierung der Oper »Idomeneo« begonnen) schwerpunktmässig auf das Musiktheater fokussiert ist, so kann doch auch für das Sprechtheater etliches übernommen werden.
War noch anfangs von der fast unabänderlichen Notwendigkeit einer kreativen und somit neuen Auseinandersetzung mit den kanonisierten Werken die Rede, so kommen jetzt die Verfechter einer eher werktreuen Inszenierung (dieser Begriff wird noch zu definieren sein) zu Worte. Thielemanns Beitrag ist dabei in doppelter Hinsicht wertvoll: Er redet nicht pauschal wider eine neue und moderne Ausrichtung der Inszenierung und betont die Verdienste, die ab den 70er Jahren durch das »Regietheater« (einen Begriff, den er – zu recht – als Pleonasmus ausmacht) ausgegangen sind. Gleichzeitig arbeitet er aber auch heraus, dass derartige Herangehensweisen heute selber verbraucht und antiquiert wirken. Ab ungefähr Mitte der 80er Jahre (eine neue Regiegeneration versuchte die Vorbilder noch zu übertreffen) – waren (sind?) Regisseure offensichtlich immer mehr der Meinung, nur durch immer heftigere Skandale ein Publikum gewinnen zu können. Dies gilt übrigens sowohl für die Musik- als auch für die Sprechtheater (für letzteres kann ich dies aus eigener, oft leidvoller Anschauung, bestätigen).
Was Thielemann nun umtreibt, ist, dass hierüber sowohl die ursprüngliche Intention des Stückes verloren geht und auch der Blick des Zuschauers auf die Musik, die Worte, »zu Gunsten« der Oberfläche auf der Strecke bleibt. Er schreibt:
Natürlich habe ich mich als Künstler mit den verschiedenen Valeurs der Stücke auseinander zu setzen, und natürlich zeitigt das höchst unterschiedliche Ergebnisse. Aber es darf nicht sein, dass die Musik nichts mehr wert ist. Viele Regisseure, das hat mich meine Erfahrung gelehrt, haben kein Vertrauen in die Musik. Weder in ihre Kraft noch in ihre Klugheit.
Man ersetze »Musik« durch »Worte« und / oder »Sprache« – und hat auch das Dilemma des heutigen, deutschen Stadttheater-Inszenierungswahnsinns des Sprechtheaters gleich mit dazu. Weiter schreibt Thielemann treffend:
Inspiriert und infiziert vom Schauspiel, trachtete man danach, die eigene Kunstleistung, die »Interpretation« über den Grad des jeweiligen Eingriffs in ein Werk zu legitimieren, über seine Übersetzung.
Wie das genau zu verstehen ist, erschliesst sich dem Leser in der gleichen Ausgabe der ZEIT, vier Seiten weiter. Dort bespricht Gerhard Jörder zwei Inszenierungen des Deutschen Theaters in Berlin. Er kann dabei nur mühsam seine Langeweile und Gleichgültigkeit verbergen; er sucht – wie es sich für einen guten Kritiker vielleicht gehört – beispielsweise aus der Splatter-Inzenierung von Michael Thalheimers »Orestie« (nach Aischylos oder von Aischylos?) noch irgendetwas wie »Botschaft« zu entdecken. Das Szenenbild (rechts) spricht Bände: Blutüberströmt und (fast) nackt sitzt Klytaimestra über weite Teile des Stückes dort (Schauspieler ist tatsächlich ein harter Beruf bei solchen Regisseuren). Das Blut schwappt bis ins Parkett (die Zuschauer dort wird’s freuen!). Die Versuche Jörders, diesen Schwachsinn irgendwie mit Sinn zu unterfüttern, sind ehrenwert. Am Ende schwadroniert er etwas von der Einsamkeit des modernen Menschen, die Thalheimer zeigen wollte. Die Frage muss aber sein: Warum schreibt er denn dann nicht ein eigenes Stück, sondern massakriert ein Werk, welches über 2500 Jahre alt ist und dessen Autor mit der heutigen Einsamkeit des Menschen rein gar nichts zu tun hat?
Die andere Inszenierung, die von Jörder besprochen wird, stammt von Dimiter Gotscheff (den ich in Düsseldorf mehrfach erlitten habe; insbesondere die schreckliche »Woyzeck«-Inszenierung): »Die Perser«. Wortreich und wieder durchaus lesenswert »rettet« Jörder die Inszenierung halbwegs: gute Schauspieler; ein paar schöne Momente. Aber: Muss ich dafür ins Theater gehen und diese narzisstischen Therapieübungen labiler Regisseurspieler ertragen? Und, sehr pointiert gefragt: Sollte sich die ZEIT, sollten sich andere Medien überhaupt mit derart langweiliger, exaltierter Wort- und Sprachlosigkeit beschäftigen?
Sind mir die aparten Oberflächenreize (Jörder) genug? Erfahre ich diese nicht ungleich besser im Kino oder in der Geisterbahn oder meinetwegen sogar vor dem Fernseher (bei einer Politikerdiskussion)? Als in den 90er Jahren die Regisseure glaubten, ohne Videoinstallationen in ihren Stücken nicht mehr auskommen zu können – welches Dokument der intellektuellen Armseligkeit! Verzweifelte Versuche, mit einem Konkurrenzmedium »mitzuhalten – Dokument der Ahnungs- und Hilflosigkeit, welches Potential in dem jeweiligen Stück tatsächlich steckt.
Ich habe das reine Inszenierungstheater nie als kreativ empfunden. Wohl gemerkt: Das in Zadeks »Kaufmann von Venedig« Shylock mit einem Mobiltelefon herumläuft oder in Peymanns »Wilhelm Tell« Gessler mit einem Jeep dahergefahren kommt – diese modernen Apercus haben mich nie gestört. Kein Wort gegen Taboris Beckett- und Shakespeare-Inszenierungen – im Gegenteil! Diese konnten sich auch dem Nichtkenner des Stückes mit Gewinn und Genuss erschliessen. (Ein wesentlicher Faktor, der leider oft genug übersehen wird: Die Kenntnis des Stückes wird vom »Regietheater« vorausgesetzt – anderenfalls entwickeln sich ja die Skandälchen rund um die jeweiligen Inszenierungen nicht.)
Nur eines geht nicht: Die Trivialisierung / Abänderung des Textes, der Verse, des Versmasses; die Entkoppelung und Unterschlagung bestimmter Handlungsstränge von der Intention des Stückes; die Absolutierung der Deutungshoheit des Regisseurs. Wer dies macht, inszeniert nicht mehr den »Faust«, sondern ein eigenes Stück. Er sollte dies dem Publikum vorher bekannt machen und nicht mit falschem Etikettenschwindel agieren.
Die Werkszertrümmerungen, exzessiv betrieben von Leuten wie Castorf oder Schlingensief, setzen aber das Werk voraus. Daher schreiben diese Leute auch keine eigenen Stücke oder inszenieren ganz selten Unbekanntes. Bertolt Brecht hat wenigstens seine Stücke selber geschrieben. Aber inzwischen gibt es neue Theaterstücke immer seltener; die potentiellen Autoren reagieren auf die Krise des Theaters schon seit Jahren mit der Hinwendung zum Roman, wandern gleich zum Film oder Fernsehen ab oder hören auf (Kroetz).
Schon lange hat man die Bodenhaftung verloren. Thielemann weist darauf hin:
Theater wird fürs Publikum gemacht. Wenn Teile des Publikums dauerhaft wegbleiben, dann muss uns das ernstlich zu denken geben.
Damit wird nicht einer Kommerzialisierung und/oder Trivialisierung des Theaters das Wort geredet – eher im Gegenteil. Die Mätzchen der vergangenen Jahre sollten endlich der Vergangenheit angehören. Ich brauche keine Massakerszenen, pornografischen Darstellungen oder Videoinstallationen. Theater muss sich gerade vom Wahnsinn der massenmedialen Berieselung unterscheiden! Es muss wieder die epischen Momente zeigen. Es muss leise sein und nicht laut schreien. Es muss den Augenblick zelebrieren. Es muss uns wieder die Abgründe in den Menschen zeigen. Und es müsste uns wieder Perspektiven zeigen.
Thielemann bringt es auf die Formel Werktreue ohne Werknibelungentreue. Shakespeare, Goethe, Schiller, Ibsen, Tschechov, Gorki, Beckett, Brecht, Heiner Müller, Handke, Botho Strauss, Bernhard – alle diese Autoren (und noch viele mehr) haben uns (auch nach teilweise Hunderten von Jahren) etwas zu sagen. Und die neuen Autoren vielleicht auch – die, die noch keiner kennt, weil man sich lieber mit entsprechender Aufmerksamkeit ans Zerstören gemacht hat.
Es geht nicht darum, der (paternalistischen) Rede des Budnespräsidenten vom April vergangenen Jahres zuzustimmen. Die Reaktionen der entsprechenden Figuren spricht Bände. Noch bestimmen sie den Diskurs, in dem sie jegliche Zurückführung als Regression diffamieren. Sie müssen es tun, da ihre gesamte künstlerische Zukunft davon abhängt. Dass sie die Herausforderung nicht anders annehmen, zeigt ihre Erbärmlichkeit.
Vor einigen Jahren wurde der grosse George Tabori einmal über die Zukunft des Theaters befragt. Tabori überlegte kurz und meinte dann, selbst wenn es kein grosses, inszenierendes Theater als Institution mehr geben würde und alle Bühnen geschlossen wären – irgendwann begänne es dann wieder neu: Zwei, drei Leute begännen wieder den Zauber von Shakespeare zu erkennen, seine Verse zu rezitieren, ein Tisch, zwei Stühle, ein kleines Bühnenbild und sie hätten irgendwann Gleichgesinnte, die ihnen zusehen würden. Das Theater würde wieder neu entstehen.
Ich stimme Tabori zu: Das wirkliche Theater wird es immer geben, auch wenn sich der Inszenierungs-Stadttheaterwahnsinn irgendwann zu Tode inszeniert hat.
»Viele Regisseure, das hat mich meine Erfahrung gelehrt, haben kein Vertrauen in die Musik. Weder in ihre Kraft noch in ihre Klugheit.«
Vereinzelt gibt es aber noch Zuhörer, die der Musik viel mehr zubilligen als der Regie oder sogar der sängerischen Leistung.
Zum heurigen Tristan in Erl habe ich dort
http://web.archive.org/web/20081011225325/http://steppenhund.twoday.net/stories/2437709/
berichtet.
Tabori schätze ich allerdings sehr, auch wenn er selbst manchmal durchaus kontroversiell inszeniert hat.