Die wohl kaum als gesellschaftlich progressiv eingeschätzte, CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hat eine erhellende Untersuchung über das von vielen Alarmisten so bedrohlich empfundene Tragen von Kopftüchern bei islamischen Frauen in Deutschland mit dem interessanten Titel »Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols?« veröffentlicht..
Die Studie kommt zu einem für viele sicherlich verblüffenden Schluss:
Die weit verbreitete Annahme, das Kopftuch werde vor allem auf Druck männlicher Familienmitglieder getragen, kann hier nicht bestätigt werden. [...] Nach diesen Ergebnissen stellt sich die Entscheidung für das Kopftuch als persönliche Entscheidung dar, die in relativ geringem Ausmass durch externe Personen beeinflusst wird. Weniger der Zwang durch Mitglieder der Familie als vielmehr religiöse Überzeugungen waren für die Entscheidung ausschlaggebend.
Die eindeutig festgestellte religiöse Prägung der Teilnehmerinnen der Befragung findet keinen Niederschlag, wenn es darum geht, welche Staatsform die beste sei: Unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft plädierten etwa 90 Prozent der Teilnehmerinnen dafür, dass die Regierung eines Staates vom Volk gewählt werden soll.
Merkwürdig, dass diese interessanten und positiven Resultate in dem gängigen massenmedialen Zirkus noch keinen Einzug gehalten haben. Man könnte viele Debatten damit ein bisschen entspannter und auch zielgerichteter führen.
Aus der Verhaltensforschung ist bekannt,
dass alle Lebewesen dazu neigen, beim fast gleichzeitigen Auftreten zweier Ereignisse einen kausalen Zusammenhang zwischen beiden herzustellen. Am bekanntesten ist der Pawlowsche Reflex. Evolutionär war das Herstellen solcher Sinnzusammenhänge sicher nützlich, aber in der modernen Gesellschaft richtet es oft Schaden an.
Wenn Muslime und in noch viel größerem Ausmaß Islamisten einen Zusammenhang herstellen zwischen Kopftuch und Religion, was zwingt uns eigentlich dazu, ihnen dahin zu folgen? Wenn wir das Tragen eines Kopftuches einfach als das Tragen eines Kopftuches akzeptieren, ohne irgendeinen Sinn darin zu sehen, dann nimmt das dieser symbolischen Handlung einen Großteil ihrer politischen Sprengkraft. Mit vielen anderen zur Schau gestellten »Symbolen« gelingt das doch auch: bauchfreies Top – na und, Piercings an allen möglichen Stellen – Schulterzucken, wenns scheh macht, Kopftuch – uns völlig Wurst!
Erst recht gilt das für alle weiteren und noch weiter hergeholten Sinnzusammenhänge: Wenn Kopftuch und Islam, und Islam und Unfreiheit, dann Kopftuch gleich Unfreiheit. Hier sind doch bereits die beiden ersten Ableitungen logisch zweifelhaft, in wieviel größerem Maß gilt das erst für eine weitere Konklusion, die die beiden ersten zwingend erfordert? _Wir_ haben das Problem, weil uns unsere eigene Unsicherheit bzgl. unseres eigenen Standpunktes dazu zwingt, Unterschiede zu suchen und Grenzen zu ziehen.
Ersatz
Das bauchfreie Top, das glitzernde Bauchnabelpiercing oder die (grossflächige) Tätowierung sind ja keinesfalls »wertfrei«. Sie sind Ausdruck für einen narzisstischen Individualismus, der auffallen will; Sinn bekommen diese Modeaccessoires nicht nur durch den (kurzzeitig) wirkenden sozialen Gruppendruck – sie sind vor allem Signale der Reduktion (in doppelter Hinsicht: Reduktion der Kleidungsstücke – sozusagen »freie Sicht für freie Bürger« – und Reduktion der ausgestrahlten Signale.)
Was uns am Kopftuch (abseits aller aufgepfropften Bedeutungen) verwirrt, ist, dass im Gegensatz zur individualistischen Mode nicht entblösst wird, sondern verborgen. Mit dieser Art des (sinnlichen) Verzichts kommen wir nicht mehr zurecht, da alles (sozusagen) entpackt werden muss. Die einzige Möglichkeit, die Verstörung (vorübergehend) zu beseitigen, bestünde darin, wenn ein weltweiter Trendsetter (beispielsweise Madonna) plötzlich ein Musikvideo im Kopftuch präsentieren würde (man erinnere sich: in den 50er und 60er Jahren war ein Kopftuch durchaus ein modisches Kleidungsstück; heute erscheint es uns als Beleg für Spiessigkeit).
Vermutlich ist eine Hinwendung der Migranten der 2. oder 3. Generation zum Islam nicht wegzudiskutieren. Die Gründe mögen auch in der mangelnden Integrationsleistung (beider Gruppen) liegen – generell erscheint aber auch in unserer Gesellschaft eine verstärkte Hinwendung zur Spiritualisierung vorzuliegen. Damit meine ich nicht nur das Zujubeln des Papstes – die Kirche(n) schaffen es gerade nicht mehr diese Wünsche zu erfüllen. Der Hauptgrund liegt m. E. in der schrittweisen »Entseelung« des Kapitalismus. Er hat solange seine Kraft entfalten können, als möglichst viele (in Prinzip alle) an ihm partizipieren konnten. Die dauerhafte Massenarbeitslosigkeit trägt aber dazu bei, dass ganze Milieus keine Freude mehr am Konsum entwickeln können. Wenn jedoch die Güter »Geld« und »Sinn« knapp geworden sind bzw. unerreichbar, so muss sich eine Milieu anders definieren – beispielsweise durch Abgrenzung. Menschen mit festem (oder scheinbar festem) Wertesystem werden bereits im Vorfeld denunziert, damit man sich nicht mit den Ursachen zu beschäftigen braucht. Die Massenmedien spielen hier leider oft genug willig mit – es kommt ihrem Alarmismus entgegen.
Am Rande: Interessant, dass nach dem Ende des »Kalten Krieges« sehr schnell ein Substitut für die »Angst« gefunden wurde, die vorher (bei uns in Westdeutschland) durch den »Russen« verkörpert wurde. Bereits Anfang der 90er Jahre zeichneten sich auch gesellschaftliche Konflikte mit islamischen Ländern ab.
Im Radio habe ich eine Gesprächsrunde gehört, in der eine Krise der islamischen Orthodoxie konstatiert wurde, die schon vor 200 Jahren begonnen hat, als die (christliche) Aufklärung mit dem Islam in Kontakt kam und die westliche Welt die islamische zu dominieren begann.
Die Reaktionen auf den islamistischen Terror sind rein rational viel zu sehr übertrieben, verglichen mit der tatsächlichen Gefahr für die westliche Welt. Die Ursachen können deshalb nicht nur mit einem Kampf um Ressourcen und Einflusssphären begründet werden. Ich vermute deshalb, dass wir auch eine Wertekrise der westlichen Welt haben. Für welche Werte und Ziele steht der Westen, wie und warum will er sie vertreten und verteidigen, wenn auf der anderen Seite Leute (die Selbstmordattentäter) ihr eigenes Leben in die Waagschale werfen?
Deine Beobachtung scheint mir sehr richtig, dass diese Fragen genau jetzt auftauchen, wo der Ost-West-Konflikt nicht mehr existiert. Genau dieser hat ja die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz dadurch verdeckt, dass man sich um die nackte, die physische Existenz sorgen musste. Das Sinnvakuum wird jetzt durch den Kampf gegen den Terror gefüllt.
Psychologisch interessant finde ich, dass die christlichen Fundamentalisten (JoBu & Co.) am stärksten re-agieren, offenbar weil bei ihnen das zu füllende Sinnvakuum noch größer ist als bei den Agnostikern.
merkwürdige Befindlichkeit
Für mich hat das Kopftuch aus vollkommen anderen Gründen eine bedrohliche Implikation. Wenn meine Mutter ihre Haare nicht in Ordnung fand und sie für zu Hause nicht richten wollte, setzte sie sich ein Kopftuch auf, in der Art, wie man es noch in den alten Filmen an jungen Mädchen sieht. Das Kopftuch verbarg etwas, was meine Mutter nicht an sich leiden konnte. Außerdem hatte sie Angst vor Verkühlungen etc.
Wenn ihre Haare gemacht waren, gab es kein Kopftuch.
Ich assoziierte mit Kopftuch also einerseits diese Medizinmasche und die Verbergungsmasche. Beides ist bei mir negativ besetzt.
Wenn ich nun Leute sehe, die aus Prinzip Kopftuch tragen, so stelle ich mir vor, dass sie etwas zu verbergen haben.
Selbstverständlich ist mir klar, dass ich aus dieser persönlichen Einstellung kein allgemeines Statement ableiten kann. Aber ich fühle mich angesichts Kopftücher unbehaglich und das hat mit dem Bekenntnis der Trägerinnen noch gar nicht mal was zu tun. Komisch, nicht? ;)
Ich finde das nicht
komisch, da das Kopftuch wohl etwas Negatives aus Ihrer Kindheit
bei Ihnen zurückgelassen hat(Medizinmasche,Verbergungsmasche).
Ich habe von Berufs wegen viel mit jugendlichen Migranten der 2.und 3. Generation zu tun.
Sie tragen manchmal das Kopftuch, manchmal nicht.
Sie antworten IMMER, dass sie es NICHT tragen wegen der Eltern oder gar des Vaters wegen.
Würden sie SO antworten ‚bekämen sie genau mit diesem-dem Vater ‑unglaublichen Streß.
Denn gerade diesem gegenüber sollen sie durch das Kopftuch-Tragen
ihre Hinwendung zum Islam demonstrieren.
Würden sie es nur wegen IHM tragen, dann wäre es ja keine REINE religiöse Haltung.
Insofern ist die Umfrage von vorneherein ein Schwachsinn.
Interessant ‚dass ich mich seit 20 Jahren mit Migranten beschäftige und unser Staat erst jetzt damit anfängt.....
Lob des Verbergens
Ja, komisch. Ich habe ja auch Probleme, wenn ich Frauen im Tschador oder gar in der Burka sehe. Das halte ich für übertrieben. Genau wie Broders Verdikt neulich, man müsse alles nur noch auf »Gegenseitigkeit« abwickeln: er will, dass seine Tochter unbehelligt im Bikini durch Saudi-Arabien gehen kann. Ob seine Tochter das will, weiss ich nicht. Und ob dieser Anblick – aber lassen wir das...
Kann aber nicht gerade im Verbergen auch ein Reiz liegen? Wieso werden dreiviertel Nackte inzwischen auch automatisch als »frei« betrachtet? Das ist mir unbehaglich. Ich will nicht Teile der Unterwäsche bei mir vollkommen fremden Menschen auf der Strasse sehen müssen. Ich möchte nicht ständig mit diesen Affekten konfrontiert werden – kann mich dem aber gar nicht entziehen; speziell im Sommer.
Und: Wieso werden Kopftücher als Synonym vom Verbergen gesehen, und nicht etwa auch Sonnenbrillen oder Dunkelglasscheiben bei Autos?
Letztlich haben wir doch auch alle etwas zu verbergen. Man stelle sich vollkommene Transparenz vor – nicht nur Nacktheit, sondern auch beispielsweise Datentransparanz. Das will ja auch niemand. Da verbirgt jeder ganz gerne; mit gutem Grund.
Das fand ich jetzt
ein gutes Beispiel mit der Sonnenbrille.Man kann sich dahinter verbergen und sie schützt.
Es ist auch mit Kleidung so.Man kann täuschen, sich verstecken und es schützt einen, vor jedwed, jedwas.
Auch mit Make-up, Schminke usw.kann man Verstecken spielen.
In mich reingrinsen mußte ich bei der Geschichte von Broders Tochter....ich denke nämlich nicht,dass seine Tochter das will....welch anmaßender Vergleich.(hat er eine Tochter?)
Mit Daten wird oft Schindluder betrieben, sie werden gefaked, geändert, weitergegeben, be-logen, be-trogen,transparent gemacht,
pseudotransparent gemacht....Durch Datenbesitz kann man sich virtuell erhöhen, wenn mans nötig hat in der kleinen Seele.
Das ist sicherlich dann erbärmlich, aber ich habe mit derart
Menschen kein Erbarmen.....sie haben ja nur das Netz, die Daten und sich.
LgC.
Kindheitserinnerungen
Meine Oma (Thüringer Bäuerin) hat sich zum Arbeiten immer ein Kopftuch gebunden, meine Tante auch. Meine Mutter (keine Bäuerin) hat das selbstverständlich auch gemacht. Das war in den 50er Jahren.
Wenn sie sich fesch gemacht haben, haben sich die Frauen im Dorf auch Kopftücher gebunden – aber andere und anders.
Ich habe die Sprache der Kopftücher eigentlich immer gern – ja, sag ich nun »gehört« oder« gesehen«?
Zeichen
Was ich sehr interessant finde ist, dass die »Bewertung« eines banalen Gegenstandes wie hier des Kopftuchs von eher »neutral« durch die negativen Konnotationen, die sich im Laufe der Jahre aufgebaut haben, derart ideologisch besetzt werden kann. Hätte man nicht dieses Kleidungsstück als Teil eines Kulturkampfes umgewertet, würde es auch uns kaum oder gar nicht stören.
Abstrahiert man vom eigentlichen Thema und sieht diese Entwicklung als generelles Phänomen, dann kann einem nur angst und bange werden: An sich »harmlose« Gegenstände erscheinen durch Zuordnungen (mögen diese nun stimmen oder nicht) in anderem Licht und werden zu »Glaubensfragen«. Köppnick hat das m. E. schon recht zutreffend analysiert.
Mich interessiert nicht primär, ob Muslima ein Kopftuch tragen oder nicht. Mich interessiert hauptsächlich (1.) die Doppelmoral unserer Gesellschaft (bzw. ihrer Repräsentanten), einerseits die vollkommene Freiheit zu postulieren, andererseits diese jedem per se abzusprechen, der anders entscheidet als sie es wünschen und (2.) die verblüffend fehlende Empathie anderen Kulturen gegenüber. Der zweite Punkt resultiert sehr stark aus der Mischung zwischen Arroganz und einer offensichtlich grossen Verunsicherung. Wenn Lepenies in der Friedenspreis-Rede gestern sinngemäss eine stärkere Empathie für die eigenen Werte fordert, so müsste man einmal genau definieren, welches diese eigentlich sind und sich nicht in pauschalen Verallgemeinerungen wie »Demokratie« und »Menschenrechte« flüchten.