18 Autoren lesen ihre literarischen Texte vor und anschliessend diskutieren neun Juroren hierüber. Dieses Setting ist die Ausgangsposition für den sogenannten »Ingeborg-Bachmann-Preis«, volkstümlich auch »Wettlesen« genannt (als wäre jener der Sieger, der zuerst fertig sei). Anachronistischer kann Fernsehen nicht sein, als dies zu übertragen. Aber es kann auch – wenn die Beiträge und Diskussionen »stimmen«– kaum spannender sein.
Diese Einschränkung ist immer schon Teil des Wettbewerbs gewesen. Mit unroutinierter Schnoddrigkeit wird in den Pausen die Historie anhand von herausragenden Protagonisten (bspw. Hermann Burger oder Sten Nadolny) aufgefächert. Eine Dame, die über den Bachmann-Preis promoviert hat, bekommt Fragen vorgesetzt, die von Viertklässlern pointierter gestellt worden wären. Im vorauseilenden Erahnen wird das Lamento, das alles früher besser und interessanter gewesen wäre, damit desavouiert, das dies auch schon früher, als alles besser war, gesagt worden wäre – und den Wettbewerb gäbe es immer noch. Freilich gibt es ihn und es wird ihn auch (vermutlich) immer weiter geben (sofern nicht die Sponsoren aussteigen oder es keine Juroren mehr gibt, die sich Frau Radisch oder Herrn Corino antun wollen). Aber die blosse Fortexistenz sagt nichts über die Qualität aus.
Das grösste Ärgernis vorab: Nicht mehr der umtriebige, in seine Metaphern gelegentlich zu verliebte Gert Scobel moderierte die Pausen, sondern eine vollkommen überforderte Eva Wannenmacher, assistiert von einem lustlosen Andreas Isenschmid, der die schlimmsten Ahnungslosigkeiten der Dame missmutig ausbügelte. Der Vorteil war, dass man auf Toilette gehen konnte, ohne das Gefühl zu haben, etwas verpasst zu haben. Soviel zum Thema Elend der Präsentation von Literatur im Fernsehen.
Zu den »Texten« (wie immer das am häufigsten verwandte Substantiv und für mich immer auch eine Spur denunziatorisch): Na ja. Glücklicherweise gibt es ja den dritten Tag. Es dürfte wohl kaum einen Zweifel daran bestehen, dass Kathrin Passigs »Sie befinden sich hier« den Preis gewinnen wird. Ein humorvolles, dennoch ernst zu nehmendes Stück Prosa eines Menschen, der sich im Schnee der tschechischen Bergwelt verirrt hat und seinen Erfrierungen mit Hochmut begegnet. Ein gekonnt assoziatives Erzählen, vielleicht sogar schon eine Spur zu glatt, aber das kommt vielleicht daher, weil man viel zu wenig davon gehört hatte.
Ob Thomas Melles Schwimmbad-/Stiftungsgeschichte »Nachtschwimmen« einen Preis bekommt, ist leider fraglich. Mäkelten doch zu viele Juroren an den ihnen (offensichtlich unheimlichen) Metaphernbögen des Autors herum. Da waren einige wohl vollkommen überfordert. Leider hat ihnen niemand diesen Job dann abgenommen.
Es wäre überhaupt besser gewesen, all die Juroren auszutauschen, die sich gelegentlich ihre Überforderung eingestanden, aber dennoch ihr Urteil aussprachen – welches dann meist negativ konnotiert war. Herausragend in dieser Inkonsequenz des Nicht-Sehens war einmal mehr Iris Radisch, die (leider?) Juryvorsitzende, die sich jedoch (leider?) zurückhielt. Das Filettieren lag diesmal bei Karl Corino, der für den kurzfristig erkrankten Norbert Miller eingesprungen war. Corino, vor einigen Jahren heftig umstritten und als (nachträglicher) Denunziant von Stephan Hermlin und Hermann Kant hervorgetreten, guillotinierte oder lobte scheinbar beliebig das ihm vorgestellte. Die armen beiden Autoren, die Norbert Miller noch ausgesucht hatte, verteidigte er nur in 3–4 stumpfen Sätzen.
Corino ist jemand, den man sich nicht einmal als Mentor wünscht. Sein zu Hause am Computer präzise hervorgeholter Zitatenkatalog – hier ein Wort von Lichtenberg, da ein Wort von Thomas Mann, dann wieder ein Apercu von Hoffmannsthal – stets unpassend passend. Dass er ausgerechnet vor einem vor lauter Klischees triefenden Boxer-/Knastpoem in die Knie ging (Clemens Meyers »Die Reise zum Fluss«), einem Text (ja: Text!), der jedem Schreibschulenschüler mit dem Vermerk: geklaut bei fast allen Boxerfilmen Hollywoods der 30er und 40er Jahre) zeigt den verborgenen Hemingway. Olé. Bitte Herr Corino, machen Sie Herrn Miller wieder gesund, ja? Und: Wenn Sie so erkennbar keine Lust haben, warum machen Sie’s denn?
Der Antipode von Corino war (nicht nur vom Sitzplan her) Burkhard Spinnen. Er hat zwar schon seit einigen Jahren fast einen Kultstatus in Klagenfurt, aber er ragte diesmal wirklich heraus. Seine Einwerfungen waren, auch wenn er sich gegen eine Erzählung richtete, niemals bösartig, immer noch eine andere Möglichkeit suchend, und dabei auch sich selbst befragend. Dabei ging er dem fast schon peinlichen Exotismus der Jury nicht auf dem Leim. Immer wenn etwas vorgetragen wurde, was die Juroren nicht kannten und ihm gerade deswegen einen Bonus gaben (Norbert Scheuers Eifelgeschichte »Überm Rauschen« etwa), steuerte Spinnen dagegen, und zwar nicht um einfach nur dagegen zu sein, sondern auch um vor voreiligen Hymen zu warnen. Sein Gerechtigkeitssinn stach weit aus dem oft selbstgerecht-professoralen Geschwafel beispielsweise einer Iris Radisch, eines Heinrich Detering oder Martin Ebel heraus.
Neben Klaus Nüchtern und Ilma Rakusa versuchte Spinnen die textimmanente Diskussion. Zitate dienten nicht als Möglichkeit, einen Autor vorzuführen ob seines »Misslingens«, sondern sie leisteten (im Rahmen der Möglichkeiten) auch Hilfe und Beistand.
Das half nicht immer. Wenn es einmal von Ursula März heisst, ein Protagonist begebe sich in der Erzählung auf einer »Expedition«, weil ein Arbeitsloser mit dem Bus ans Ende der Stadt fährt, zeigt dies die Lebenswirklichkeit derer, die von »Arbeitswelt«-Literatur (falsch und unwissend) schwärmen oder sie herbeiphantasieren.
Der blödsinnigste Einwand war der, der »Authentizität«. Authentizität im Sinne der Übereinstimmung zwischen dem Protagonisten, seiner Sprache und seinem sozialen Umfeld. »Stimmt die Rollenprosa?« war die Frage. Mindestens drei Erzählungen wurden hart kritisiert, weil beispielsweise ein Schlafwagenschaffner (der in Wahrheit ein Student war – Frau Radisch musste durch das Publikum hierauf aufmerksam gemacht werden), ein Schüler oder ein Neo-Nazi nicht »so« spreche, nicht »so« denken könne. Als sei Literatur die Vermittlung eines Szene-Jargons. Als sei es die Aufgabe der Literatur, dokumentarisch Sachverhalte oder Figuren »sprechen« zu lassen. Als sei es nützlich nachzukontrollieren, ob ein Schüler, den von der Schule verwiesen wurde und dies vor seinen Eltern verheimlicht, dies auch de jure tatsächlich tun kann (kann er im »richtigen Leben« nicht, wie ‘Sherlock Corino’ herausfand).
Bei Norbert Scheuer galt dann die Authentizität als positives Kriterium – die Leute redeten eben so. Aber: Will ich die Leute so reden hören? Kann ich nicht besser – wenn ich Leute so reden hören will – in die nächste Kneipe gehen? Wozu brauche ich dann noch Literatur? Und: Welches Verständnis von Literatur haben solche Juroren eigentlich und welches Textverständnis soll hier prämiert werden? Handelt es sich bei dem Bachmann-Preis um einen Szene-Preis?
Was gab es sonst noch? Ein schöner Vortrag eines spielerischen Umgangs mit Sprache bei Bodo Hell. Oder Hanno Millesi mit seinem Kauz in »Werktagsüber«. Und Kai Weyands tragisch-komische Duellsituation »Paso doble«. Es steht zu befürchten, dass keiner von ihnen einen Preis bekommt.
Hoffentlich wird morgen vor laufender Kamera nicht die Jury-Entscheidung noch zurückgenommen. Der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin schlug ja vor, Jurys nur noch »beratende Funktion« zu geben. Damit die Politiker endgültig entscheiden können!
Kann ich nur unterschreiben.
Wau, bist Du schnell! :-)
Genau, das Wort des diesjährigen Wettbewerbs war »Rollenprosa«, wohl neunhundertfünfundsechszigmal bemüht. Was soll das denn überhaupt sein?? Wann immer man keine Autobiographie und keinen journalistischen Text verfasst, schreibt man Rollenprosa, oder bin ich irgendwie zu doof, das zu verstehen?
(Ein Stilleben vielleicht ginge noch, wo keine Figuren drin vorkommen)
Rollenprosa
Leider sind die Zeiten bei Nensch, wo man fachgerecht über solche Fragen aufgeklärt wird, wohl endgültig vorbei. Also meine (dilettierende) Erklärung:
Rollenprosa wird in dem Zusammenhang verstanden, dass der Autor durch die Figur spricht, also sozusagen die Rolle des Autors übernimmt. Aus dem Schlafwagenschaffner spricht der Autor, nicht der Schlafwagenschaffner.
Letztlich erschliesst sich die per se negative Konnotation dieses Begriffes nicht.
Chronistenpflicht
Die Favoritin hat gewonnen: Kathrin Passig. Den 2. Platz gewann – für mich überraschend – Bodo Hell (da hat die Performance wohl mitgeholfen). Norbert Scheuer wurde Dritter (3sat-Preis) und Angelika Overath gewann den 4., den Ernst-Willner-Preis.
Leider schrammte Thomas Melle zweimal knapp an einen Preis vorbei und ging leer aus.
Das Publikum entschied sich ebenfalls für Kathrin Passig.
Die Preisverleihung läuft; der Landeshauptmann gratuliert (stellvertretend) auch – die Politik ist also einverstanden; die Jury war brav, und kann gehen. Uff, Glück gehabt. Aber Klagenfurt ist ja auch nicht Düsseldorf.