Kaum ein Thema hat in den letzten Monaten die Innenpolitik so bestimmt wie die demografische Entwicklung Deutschlands und das »Ausbleiben« von Kindern. Das ging bis zur Anprangerung ganzer Berufs- und Gesellschaftsgruppen. Die konservative Regression zur Familie und dem gängigen Familienbild der 50er Jahre (mitinitiiert beispielsweise von Udo di Fabios »Kultur der Freiheit« oder auch – klüger – von Schirrmachers »Minimum«) ging einher mit einem (teilweise national daherkommenden) Alarmismus – als wäre die Krisenhaftigkeit der Sozialsysteme monokausal erklärbar und liesse sich mit der blossen Zuführung neuer »Beitragszahler« lösen. (Woher dann die Arbeitsplätze kommen sollen, blieb in dieser Diskussion übrigens immer merkwürdig unterbelichtet.)
In seinem lobenswerten Artikel »Pokerspiele an der Wiege« decouvriert Björn Schwentker nun die statistischen (Fehl-)Methoden, die für die Politik die Grundlage zu ihrer neuen Hinwendung zur Familie führen. Deutschlands Familienpolitik befindet sich im Blindflug – die Erhebung der Geburtenziffern ist lückenhaft und geht teilweise von falschen Voraussetzungen aus.
Der sogenannte »Mikrozensus«, das Erhebungsinstrument des Statistischen Bundesamtes, stellt oft genug nicht die entscheidenden Fragen. Da erscheint das berühmte Stochern mit der Stange im Nebel effektiver.
Worin mögen wohl die wirklichen Beweggründe für diese künstlich-hysterische Politik liegen?
Der Autor des aktuellen Artikels, Björn Schwentker, hatte übrigens im vergangenen Jahr bereits eine Auseinandersetzung mit Johann Hahlen, dem Präsidenten des Bundesamtes für Statistik – wie man hier dokumentiert findet.
Man lernt doch nie aus
Das man die Statistiken des Bundesamtes auch noch kritisch hinterfragen muß, entnehme ich dankenswerterweise Ihrem Beitrag und , natürlich, dem Zeitartikel. Mein Gott, bin ich blauäugig ( ohne Ironie ). Irgendwie glaubte ich immer noch daran, dass politische Entscheidungen, zumindest in dieser Hinsicht, an Hand von klaren Fakten getroffen werden. Danke für Ihre Ausführungen.
Hysterie
»Worin mögen wohl die wirklichen Beweggründe für diese künstlich-hysterische Politik liegen?«
Wenn ich mir die verschiedensten öffentlichen Debatten vor Augen halte, fällt mir eines auf – ein enormer ALLTÄGLICHER Grad von Hysterie.
Vogelgrippe, Überschwemmungen, rumlaufende Bären und Fußballspieler, »Sanierungsfall Deutschland«, drohende Stasi-Seilschaften, Rütlischule, Diskussion zum Arbeitszwang, potentieller Fußballgast Achmad. – man kann ein beliebiges Thema wählen, die quasi natürliche Form der Darstellung/Auseinandersetzung ist die Hysterie.
vermutete Gründe:
1. die Allgegenwart der Medien; ihre Konkurrenz um die schärsfte Story bei gleichzeitiger Ignoranz wirklicher Problemzusammenhänge
2. Technik der Steuerung der Gesellschaft; Formierung des Massendenkens bzw. ‑verhaltens mit hohem Tempo in einen Tunnel hinein
3. Der Boden wird heißer; das Gefühl, auf der befriedeten Parzelle zu sitzen aber mit ansehen zu müssen, wie die Einschläge näher kommen
Zwänge
Ein sehr treffender und kluger Kommentar.
1. Die Allgegenwart der Medien ist Segen und Fluch für die Politik zugleich. Ich tippe jedoch eher auf Fluch, da man wie der berühmte Zauberlehrling die Geister, die man ursprünglich rief, nicht mehr bändigen kann.
2. würde voraussetzen, dass Politik oder gesellschaftlich relevante Kräfte über Medien Steuerungen ausüben können. Das gelingt sicherlich ab und an, geht jedoch meistens – glaube ich – schief. Das beste Ergebnis ist die Bundestagswahl 2005: Das noch so starke Einhämmern neoliberalen Wirtschaftsdenkens hat der CDU spürbare Verluste zugefügt; die Leute wollten es nicht, obwohl selbst Medien wie der »Spiegel« in die Kampagne eingestiegen sind.
Fussball ist gar nicht schlimm; das ebbt nach vier Wochen wieder ab und lenkt ein bisschen das Denken auf einfache Mechaniken. Im Grunde ist es ein Ersatz von (sehr viel teureren) Kriegen. Ich seh das auch sehr gern, obwohl es mir inzwischen ein bisschen viel geworden ist. Es ist all das, was beispielsweise Politik nicht ist: einfach, für jeden ersichtlich – jeder kann mitreden, streng geregelt und strukturiert und dabei gleichzeitig doch komplex und unterschiedlich interpretierbar.
Im Grunde halten viele den Kanzler (die Kanzlerin) für einen Schiedsrichter. Der Unterschied ist, wenn der abseits pfeift, war der Sturmlauf der Stürmer umsonst – wenn die Kanzlerin die Steuern erhöht, ist die Arbeit »umsonst«. Letzteres wird als ärgerlich empfunden, weil es einen selbst betrifft.
Die Hysterie wird inzwischen fast immer erzeugt, da es in einem Raum, der vielstimmig ist, unmöglich ist, leise und lange Erklärungen zu vernehmen. Es kommt derjenige zum Gehör, der übertreibt und am lautesten brüllt.
Leider scheinen die Medien geradezu gezwungen, sich diesem Darwinismus zu ergeben, da sie natürlich auch der Ökonomie und ihren Zwängen unterworfen sind.
Das ist alles nicht neu. Anfang der 80er Jahre konzipierte Horst Stern mit einer Zeitschrift (»Natur«) eine Art ökologischen Journalismus (sehr vergröberend gesagt). Einer seiner unverrückbaren Bedingungen war das totale Werbeverbot in seiner Zeitschrift für Firmen, die sich an der Welt ökologisch »vergehen«. Er sah nicht nur die Doppelmoral, sondern – vor allem – seine journalistische Glaubwürdigkeit. Der Zeitschrift ging es relativ schnell finanziell relativ schlecht. Als der Verlag dann eine Anzeige von »Bayer« annehmen wollte, trat Stern zurück.
3. Ja, der Boden wird heisser – zweifellos.
Zwei Anmerkungen
1. »Pokerspiele an der Wiege« habe ich gelesen, recht interessant, ein statistischer Effekt fehlt aber dort (der dann wieder in die andere Richtung zeigt). Ein Beispiel: Gesetzt den Fall, die mittlere Lebenserwartung beträgt 80 Jahre, es werde eine statistisch ausreichende Zahl von Kindern je Frau geboren, allerdings gibt es einen Übergang von Geburten im 20. Lebensjahr zu Geburten mit 40 Jahren. Dann sinkt im Laufe der Zeit die Bevölkerungszahl genau auf die Hälfte des Ursprünglichen, weil zuletzt im Mittel immer nur 2 Generationen gleichzeitig leben, vorher 4. In der Übergangszeit hat man ständig einen Überhang Älterer. Zusätzlich steigt die Lebenserwartung, was die Zahl Älterer im Verhältnis zur Gesamtpopulation weiter vergrößert.
Außerdem, wenn tatsächlich bestimmte Erfahrungen besser in der Familie tradiert werden (wie Schirrmacher behauptet), dann ist ein Land mit der kürzeren Generationenfolge besser dran.
2. Zu Schirrmachers Buch »Minimum« wollte ich ursprünglich eine Rezension schreiben, habe es dann aber gelassen, weil es ja gerade eine Schwemme von Artikeln zu diesem Thema gibt. Seine drei Hauptbeispiele sind allesamt etwas merkwürdig, obwohl natürlich seine zentrale Aussage – der Mensch ist ein Familientier – unbestreitbar ist. Aber belegt wird sie nur durch sein Donnerpassbeispiel, der Geschichte des Überlebens der Menschen des Siedlertrecks. Schon sein Beispiel mit dem Großfeuer in der Ferienanlage zeigt nicht mehr, dass Familien bei einer Katastrophe besser überleben, sondern nur, dass sie andere Strategien anwenden und aufeinander besser acht geben.
Seine Hauptthese aber verwechselt meiner Meinung nach Ursache und Wirkung. Er fordert: Weil die Zeiten schlechter werden, muss wieder verstärkt auf die Ressourcen innerhalb der Familie zurückgegriffen werden. Ist es nicht genau umgekehrt? Ist nicht die klassische Familie auf dem Rückzug, weil die Gesellschaft die Grundlagen dieser klassischen Familien zerstört? Müsste man nicht deshalb die gesellschaftlichen Zustände so ändern, dass mehr Raum, Zeit und Geld für funktionierende Familien zur Verfügung steht?
Die Rezension
würde mich sehr interessieren. Ich habe »MInimum« nicht gelesen; nur einige Auftritte Schirrmachers im Fernsehen. Dabei bringe ich nicht zusammen, dass er einen »Weg zurück« (Frau an den Herd) negiert (im Gegensatz zu di Fabio – das habe ich gelesen, besser: erlitten), sondern sich (m. E.) in der Pose des bloss-beschreibenden übt, Extrembeispiele generalisiert und einen sozialdarwinistischen Instinkt beim Menschen ausmacht, der so neu ja gar nicht ist.
Die Ressourcen in der Familie sind in zweierlei Hinsicht mindestens bedenkenswert: Erstens gab es sie in dem imagierten Vergangenen in diesem Masse nicht bzw. nur ganz kurz (in den 50er/60er Jahren) – früher starben die Leute in der Regel viel zu früh, um in Mehrgenerationenfamilien zusammen zu wohnen. Und zweitens sind »Familienbande« nicht per se konfliktfrei. Hierzu gibt es viele Beispiele, auch und gerade in der Literatur.
Deine letzte Frage ist enorm interessant und führt wieder zu di Fabio: Genau das will er nämlich. Die Familie, die »klassische Familie« wieder als schützenswerten Raum implementieren, und zwar gesellschaftlich. Sein Rundumschlag geht dabei sehr wohl an den Überindividualismus der 68er, die andere Werte favorisiert und kanonisiert hat – aber auch an die global agierenden Wirtschaftsunternehmen, die den gut ausgebildeten, flexiblen Mitarbeiter bevorzugen – der (die) dann natürlich keine Möglichkeiten mehr hat, Kinder in die Welt zu setzen.