Helen ist eine normale Hausfrau. Sie träumt von einem glücklichen Leben, arbeitet nicht. Ihr Mann ist selten zu Hause, trinkt sich einen oder sitzt im Unterhemd vor dem Fernsehen. Helen macht Morgengymnastik und lauscht den Lebenshilfen eines gewissen Professor Gluck (sic!). Der hat eine Methode entwickelt, wie jeder Mensch glücklich wird oder zu sich selber findet oder beides oder was anderes.
A. L. Kennedy zeigt uns etwas, was wir seit unserer Kindheit kennen, etwas was wir nur bei anderen sehen, nie bei uns: das Klischee. So gut, so schön. Eine Vortragsreise des Lebenshelfers nach Deutschland nutzt sie, ihn zu begleiten. Ihr Brief hat ihn beeindruckt, man trifft sich; der Professor ist auch so, wie man sich im allgemeinen solche Leute vorstellt: arrogant, herablassend, keine Zeit.
Man weiss damit nach ungefähr 30 Seiten, was passiert. Der Professor entpuppt sich als gar nicht so toll, wie er scheint; der Mann prügelt seine Frau als er erfährt, wo sie wirklich war, sie flüchtet zu Gluck, eine zarte Liebesbande beginnt (der Professor muss seinem Laster, unabänderlich Pornos sich ansehen zu müssen, entsagen und rasiert stattdessen der Frau die Schamhaare), usw. usw.
Unfassbar ist nicht die Geschichte, die die Schottin hier erzählt. Unfassbar ist, wie ein Sammelsurium von Klischees, Holzschnitten und Plattitüden derart enthusiastisch von der Literaturkritik besprochen werden konnte. Das Buch ist ohne Sprache, durchschaubar, fast fad. Die Sprödheit, Lakonie, die eine erzählerische Grundhaltung ausdrücken soll, ist so zäh wie altes Brot, was zu lange an der Luft gelegen hat. Das Ende, die fast pubertär anmutende geschlechtliche Vereinigung zwischen der durch glückliche Umstände (Selbsttötung) zur Witwe gewordenen Frau und dem „bekehrten“ Glückspropheten schwülstig. Hätte man im 19. Jahrhundert einen Geschlechtsverkehr „beschreiben“ können, es hätte so geschehen können.
Helen ist mir vorher und nachher gleichgültig; ihr Seelenleben interessiert mich in keiner Szene, da ich immer weiss, wie es ausgeht (ausser der Tod des Mannes kommt überraschend, aber hierfür kann sie nichts). Gluck ist eine Karikatur, die so überzeichnet ist, dass man nicht einmal mehr Mitleid empfinden mag. Helens Mann, der Trinker und Schläger, taucht nur gelegentlich in seiner Funktion als Monster auf.
Es gibt in Grossbritannien eine grosse Tradition des „Arbeiterkinos“. Ein Regisseur wie Mike Leigh (»Nackt« [Naked]) ist das herausragende Beispiel dafür. Vieles spricht dafür, dass die Autorin dies in einen Roman kleiden wollte: das Schicksal einer „kleinen“ Frau in der grossen Welt. Es ist gescheitert, weil ihr, im Gegensatz zu Leigh, offensichtlich etwas entscheidendes fehlt: Empathie. Und Neugier.
Endschuldigen Sie, Herr Keuschnig, aber mich wundert dann doch, warum Sie so eine Plotte bis zum langweiligen Ende lesen. Ich kann das einfach nicht mehr. Selbst die Faszination des Doofen, nach dem Motto: „Das ist so billig, ich möchte doch mal wissen wie weit der Autor noch abdriftet“, kann mich nicht mehr reizen. „Romane“ dieser Art, in denen der jeweilige Autor ein Klischee ans andere reiht, gibt es wie Sand am Meer. Fast alle Bestseller sind so gestrickt. Selbst der späte Böll war mit seiner Katharina Blum oder seine Frauen vor Flusslandschaften wegen fortwährender Klischeedrescherei kaum mehr genießbar. Sobald ich’s heute bemerke – Buch zuklappen und verschenken. Interessenten gibt’s genug, sonst wären es ja keine Bestseller.
Naja
ich finde man ist es dem Autor/Autorin durchaus schuldig, bis zum Ende zu lesen; es sei denn, es ist grottenschlecht. Das Buch ist nicht dick und man ist auch noch in Hoffnung...
Bestseller im kommerziellen Sinne sind Kennedys Bücher nicht. Sie werden aber im Feuilleton sehr gelobt; Sie werden m. W. keine negative Kritik finden. Es kann also auch sein, dass ich mich (ausnahmsweise?) mal irre.
»Katharina Blum« von Böll ist ein eher zeitkritischer Text; literarisch ist er nicht gelungen, da haben Sie Recht. Dennoch ist das Buch wichtig, da es eine gewisse Stimmung in den 70er Jahren recht gut widergibt.
Billard um halbzehn ist aber schon ein sehr guter Roman, oder?
Ich hoffe, Sie haben Verständnis, dass ich, wie im konkreten Fall, keinen direkten Bezug zu dem von Ihnen kommentierten Buch nehmen kann, da mir, weil am anderen Ende des Globus lebend, der Zugang zum aktuellen deutschen Büchermarkt oder Feuilleton nur sehr eingeschränkt möglich ist. Wenn es also manchmal scheint, als rede der Blinde von der Farbe, so bitte ich um Nachsicht.
Natürlich waren Böll’s frühe Arbeiten ( bis in die sechziger Jahre ), natürlich auch Billard um halbzehn, hervorragende Literatur, die den späteren Literaturnobelpreis begründeten.
Ohne Zweifel verfolgte Böll mit seinen Büchern in den Siebzigern die ehrenwertesten Absichten, aber spätetestens ab Gruppenbild mit Dame wurde literarische Qualität durch, in seinem Sinne, politische korrekte Klischees ersetzt und davon war ja hier die Rede.
Dass ich Böll als mutige Persönlichkeit immer geschätzt habe, brauche ich wohl nicht zu betonen.
In diesem Sinne: einen schönen 1. Mai!