Hierfür dient das Strafrecht. Aber es kommt stets zu spät: Die Tat ist längst geschehen und meist ist das Geschehene unumkehrbar. Dem Prozess kommt dabei die Rolle des Vollstreckers des Sühnegedankens zu. In einem Rechtsstaat muss es einen Prozess geben, um zweifelsfrei festzustellen, ob die Tat vom Angeklagten tatsächlich ausgeübt wurde.
Herkömmliche Gerichtsreportagen beschäftigen sich mit dem Hergang des Verfahrens, erläutern juristische Spitzfindigkeiten, die von der Verteidigung ins Feld gebracht werden, erklären die Mindest- und Höchststrafe, die es für dieses Delikt geben muss/kann und schildern die Details der Beweisführung. Durch das starke Interesse steht für die Öffentlichkeit bei den spektakulären Fällen in der Regel bereits der Schuldige fest, die Fronten sind abgesteckt. Jeder hat eine Meinung; meist die der „BILD“-Zeitung oder ähnlicher Postillen.
Fritz H. Dinkelmann informiert über all dies auch. Aber er geht weiter: Er sieht den Angeklagten als Mensch, ohne ihn zu psychologisieren (und über die Hintertür „Ent-Schuldigungen“ einzubringen). Der fragt nach dem Motiv, ohne es zu rechtfertigen. Er fragt, was das Opfer wohl für ein Mensch gewesen sein mag. Und er stellt die Frage aller Fragen, die grösste Tabu-Frage unserer Gesellschaft: Wozu gibt es ein Strafrecht? Brauchen wir die „Rache“ so nötig? Welche anderen Variationsmöglichkeiten gäbe es, um mit Verbrechen umzugehen?
Gibt es nicht trotz aller möglichen Gesetze und Strafandrohungen Mord, Totschlag, Diebstahl, Banküberfälle, Entführung, Sexualstraftaten? Wenn die Täter eine potentielle Verurteilung nicht abhalten, ihre Straftaten zu vollbringen, ist das Strafrecht bzw. die Strafandrohung obsolet, ja geradezu lächerlich. In den Staaten der USA, in denen es die Todesstrafe für Mord gibt, ist keine geringere Zahl von Tötungsdelikten festzustellen als beispielsweise in Deutschland; eher im Gegenteil.
Mit der Wirkungslosigkeit der Abschreckung des Strafrechts muss jedoch eine Gesellschaft akzeptieren, dass in der (meistens nicht bewusst reflektierten) „Interessenabwägung“ des Straftäters stets der Aspekt der Straftat (dessen „Vorteil“) höher eingestuft wird als die „Angst“ vor der Bestrafung (der „Nachteil“). Das bedeutet, dass das Motiv einer Straftat (eines Mordes beispielsweise – desjenigen Delikts, welches seit jeher faszinierend und abstossend gleichzeitig wirkt) die Bedrohung, die von der Gesellschaft ausgeht, diese Tat zu sanktionieren, überlagert. Dabei dürfte es noch nicht einmal die grosse Rolle spielen, dass die Täter von sich glauben nicht „erwischt“ zu werden; Befragungen zeigen, dass sie durchaus ins Kalkül ziehen, früher oder später überführt zu werden und nicht wenige stellen sich irgendwann freiwillig.
Wenn jedoch der Strafkatalog einer Gesellschaft derart an seiner ursprünglichen Intention vorbeizielt, ist er dann nicht sozusagen nur noch für die „Bestrafer“ da? Zugespitzt formuliert: Feiert sich nicht der „rechtschaffene Teil“ der Bevölkerung mit der „harten“ Verurteilung eines Totschlägers oder Mörders letztlich nicht nur selber?
Gerade in diesen Zeiten, wo andersfarbige Mitbürger zu Opfern von blindwütigen Schlägern in Deutschland werden: Welche Genugtuung verspüren Politiker eigentlich, wenn sie die lebenslange Haftstrafe eines nicht reumütigen Täters einer Mordtat ausstellen (und parallel hierzu Geld für Jugendprojekte streichen)? Aber: Welche andere Möglichkeit gibt es denn? Und ist es nicht beeindruckend, wie ein Intellektueller wie Reemtsma in seinem Buch „Im Keller“ von der Genugtuung der Bestrafung seiner Täter schreibt, die es ihm wieder ermöglicht, seinen „Frieden“ mit der Gesellschaft, den Menschen generell, zu schliessen?
Ein schwieriges Feld also. Fritz Dinkelmanns Gerichtsreportagen haben mich mehr als einmal ratlos zurückgelassen. Die „Härte des Gesetzes“: Ja (besonders bei Habgier). Aber dann der Mensch dahinter, ein vielleicht jahrelang Gedemütigter, Gequälter, der einfach keinen anderen Weg mehr gesehen hat. Und was nutzt die Strafe, wenn der Täter uneinsichtig ob seines Vergehens bleibt? Was hilft es, jemanden einzusperren, der seine Tat bereut und sozusagen durch „gute“ Taten wieder ein Mitglied dieser Gesellschaft werden möchte, und zwar ein anderes?
Die Quintessenz all dieser bohrenden Fragen hat Dinkelmann in seinem Roman „Das Opfer“ nochmals ausgebreitet und gebündelt. Ein junger, eifriger, etwas schrulliger Rechtsanwalt wird eines Abends ermordet. Man erfährt im ersten Teil des Buches durch die Schilderung dieses Sachverhaltes über seine Frau sehr viel über die-sen Mann, das Verhältnis der beiden zueinander und über seinen Anwaltstil (ein wenig hat Dinkelmann vielleicht sein Idealbild eines Anwalts in die Figur hineinprojiziert). Im zweiten Teil des Buches stellt sich der Mörder wenige Tage nach der Tat der Polizei. Die Witwe hat keine Ruhe: Angestachelt durch das Nachdenken darüber, wie ihr Mann wohl diesen Mörder verteidigen würde (er plädierte stets – auch bei noch so hoffnungslosen Fällen – auf „Freispruch“), beginnt sie, Kontakt mit ihm aufzunehmen. In vielen Besuchen, die oft durch vorzeitige Beendigung des eines oder des anderen zu scheitern drohen, beginnt Christa (die Witwe) die Tat „zu verstehen“.
Obwohl: Zu verstehen gibt es rein nichts. Die Tat geschah nicht aus Habgier, nicht vorsätzlich, sondern einfach so; absichtslos und doch nicht „zwecklos“ oder gar sinnlos. Diese merkwürdige Ambivalenz und die Einsicht, dass ihr Mann den Mord quasi dem Mörder „abgefordert“, ihn geradezu ersehnt hat, lässt Christa vor Gericht auf „nicht schuldig“ erklären – obwohl man es ihr verbieten will und sie für verrückt oder verliebt in den Mörder erklärt. Christas Spiessrutenlauf durch die gesellschaftliche Etikette beginnt (ausgelöst durch entstellend wiedergegebene Äusserungen in einem Interview einer Boulevardzeitung). Sie jedoch stört sich nicht daran; einige wenige Freunde, die sie verstehen, verbleiben ihr.
Das Zugehen auf den Mörder, das dann später entspannte Verhältnis zu ihm (was nur noch angedeutet wird) und die Beschäftigung mit ihrem Mann und seinem Leben, was sie nicht mehr versteht – Christas Weg aus der Spirale der Rache hinaus ermöglicht ihr, Frieden zu finden. Die blosse Bestrafung alleine und die Genugtuung hierüber, hätte dies – so die Botschaft dieses Romans – nicht vermocht: wie oft gibt es dann gerade in solchen Fällen den „Neid“, diesen Mörder auch noch auf „Staatskosten“ „durchfüttern“ zu müssen – bis zu seinem Tode.
Dinkelmanns Figur gelingt das Weiterleben nach der Mordtat an ihrem Mann. Die Gesellschaft, das wird eindrücklich (allerdings ohne falsches Moralisieren) gezeigt, versteht dies nicht und „verlangt“ das gängige Bild der verzweifelten, klagenden, ra-chesüchtigen Witwe.
Das Buch ist stellenweise etwas ausladend, besitzt jedoch über den reinen Impetus hinaus durchaus auch literarische Qualitäten. Die Schilderung des Mörders (im Gefängnis) ist sehr gelungen und erinnert manchmal an Sjöwall/Wahlöö. Kritik habe ich fast alleine hinsichtlich des Titels: „Das Opfer“ ist keineswegs ein Roman, der die Dichotomie Täter / Opfer, die zur political correctness unserer Zeit gehört, über-nimmt. Er ist nur dann treffend, wenn man ihn nachträglich als Möglichkeit versteht, die (gesellschaftlich abgeforderte) Opferrolle sozusagen abzulegen; sie abzulegen zu Gunsten eines emphatischen Menschenbegriffs, der jenseits der Schwarz-Weiss-Denkmuster liegt.
Zugegebenermassen ein schwieriges Denken. Aber ein wichtiges. Es führt uns vielleicht endlich in eine andere Welt.
Geschrieben 2000; leicht überarbeitet. Das Buch dürfte nicht mehr lieferbar sein. Auf Flohmärkten findet man es als Suhrkamp Taschenbuch aber noch recht oft.
Herrn Dinkelmann kenne ich leider nicht. Wo wurden oder werden seine Reportagen veröffentlicht? Aber natürlich haben Sie recht, eine Gerichtsreportage ist nur dann lesenswert, wenn sie den Menschen hinter dem Verbrechen kenntlich macht. Der verstorbenen Spiegelreporter Gerhard Mauz z.B., aber auch seine Nachfolgerin Gisela Friedrichsen schreiben ihre Berichte meiner Meinung nach ebenfalls unter diesem Aspekt und sind oftmals die interessantesten Artikel im Spiegel.
Ich habe
ein altes Suhrkamp Taschenbuch (No. 1436 aus 1987) mit dem Titel »Nach eigener Aussage«. Es sammelt seine Gerichtsreportagen. Dinkelmann ist Schweizer und 1950 geboren. Er ist Journalist und Schriftsteller, Theaterregisseur und auch Lyriker.
Was Sie über den SPIEGEL und seine Gerichtsreportagen schreiben, unterschreibe ich voll. Irgendwann werde ich mir diese noch einmal bzw. endlich einmal zu Gemüte führen. Vor einigen Jahren habe ich aufgehört, den SPIEGEL zu lesen. Die Gerichtreportagen habe ich am meisten vermisst.
Auch ich...
...habe ab irgendeinem Zeitpunkt, er liegt schon Jahre zurück, aufgehört den Spiegel regelmäßig zu lesen. War’s die Leitungsübernahme durch Stefan Aust, oder die anbiedernde Umorientierung an die Konkurrenz des Focus? Ich weiß es nicht. Jedenfalls verlor der Spiegel plötzlich seinen bitter – ironischen Biss, ließ sich die Themen von der Bildzeitung diktieren, und wurde langweilig. Hier in Südafrika allerdings sind wir immer recht angetan, wenn Besucher aus Deutschland einen Spiegel mitbringen. Der wird dann von der ersten bis zur letzten Seite studiert. Manchmal wird uns auch der Focus angedient. Der, allerdings, wandert ungelesen zum Altpapier.