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Abdullah Azzam
Azzam wird allgemein als der „geistige Vater“ des Al-Qaida Terrorismus bezeichnet. Seine Biographie ist recht bruchstückhaft überliefert. Der 1941 im Westjordanland geborene Sohn eines Lebensmittelhändlers (die Familie ist weit verzweigt), galt als kluges, wissbegieriges Kind. Als Jugendlicher kam Azzam in die Kreise der Muslimbrüder. Er wurde Lehrer, bis er sich Anfang der 60er Jahre zur Aufgabe des Berufes entschlossen haben muss. Er schrieb sich 1963 an der Universität von Damaskus ein, studierte muslimisches Recht und machte dort 1966 seinen Abschluss. Seine Arbeit hatte den Titel „Die Auflösung der Ehe in der islamischen Rechtssprechung und dem bürgerlichen Recht“.
Nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 emigrierte (floh?) Azzam mit seiner Familie nach Jordanien, d. h. er kam zunächst in einem Flüchtlingslager in al-Zarqa unter (übrigens der Heimatstadt von al-Zarqawi), siedelte jedoch schnell in die Nähe von Amman, wo er an einer Mädchenschule unterrichtete. 1968 schrieb sich Azzam an der renommierten Al-Azhar-Universität in Kairo ein, wo er 1969 ein Examen in islamischem Recht ablegte. 1970 ging Azzam wieder zurück nach Jordanien.
Seine Rolle im palästinensischen Dschihad der 70er Jahre ist nicht ganz klar; hier gibt es teilweise widersprüchliche Quellen. Vermutlich wird sein Engagement von seinen Anhängern bedeutender dargestellt, als es in Wirklichkeit war.
1971 geriet Azzam in Kairo (wieder an der Al-Azhar-Universität) in den Strom radikaler Kräfte (an der Spitze Saiyid Qutb, der später hingerichtet wurde). Azzam verliess das Land 1973 mit dem Doktortitel in muslimischem Recht – und vermutlich mit einem Netzwerk von Verbindungen in die radikal-islamistische Szene, speziell Ägyptens.
Von 1973 an lehrte Azzam nach kurzem Zwischenspiel in der Regierungsverwaltung wieder an der Universität in Amman, Jordanien. Er war inzwischen eine hoch einflussreiche Persönlichkeit, galt als renommierter Experte für islamisches Recht. Azzam geriet mehr und mehr in Konflikt mit den Behörden, denen die immer weitergehenden politischen Dimensionen seiner Reden hin zu einem radikal-orthodoxen Islamverständnis zu weit gingen. Als er sich 1980 über eine Karikatur, in der Geistliche als amerikanische Spione verspottet wurden, entrüstete, schaukelte sich sein Protest derartig hoch, dass er des Amtes enthoben wurde.
Mitte 1980 verliess Azzam Jordanien und wurde kurz Professor an der König-Saud-Universität in Dschidda. Ob Osama Bin Laden, der zur gleichen Zeit dort Wirtschaftslehre studierte, Azzam kennenlernte, wird allgemein bezweifelt. Auf einer Mekka-Pilgerfahrt im Oktober 1980 begegnete Azzam Scheich Kamal al-Sananiri, der vom Dschihad gegen die Ungläubigen in Afghanistan seit 1979 beseelt war. Al-Sananiri überzeugte Azzam – er brach 1981 über Pakistan nach Afghanistan auf. Dort traf er mit Bin Laden zusammen und gründete das „Dienstleistungsbüro“ (in Peschawar), eine Rekrutierungsstelle für Freiwillige gegen den Kampf der sowjetischen Besatzung, die dann, ab 1984 in entsprechende Ausbildungslager (die in Afghanistan gegründet wurden) verbracht wurden. Das „Dienstleistungsbüro“ kann als Keimzelle von Al-Qaida gelten (Al-Qaida heisst im Arabischen auch „die Basis“.)
Azzam kann rückwirkend wie ein „Botschafter des Dschihads“ betrachtet werden. Unermüdlich suchte er Unterstützer und Geld und unternahm sehr viele Reisen, u. a. auch mehrere in die USA (wo es übrigens nie Probleme bei der Ein- oder Ausreise gab). Selbst dort gelang es ihm „Dienstleistungsbüros“ einzurichten, über die Muslime Kontakt aufnehmen konnten, um dann mit der Waffe die Sowjets in Afghanistan zu vertreiben.
Neben zahlreichen Ämtern in islamischen Wohlfahrtsorganisationen war Azzam auch ein produktiver Autor, der in zahlreichen Artikeln, Reden, Büchern und Interviews die „Ideologie“ des Dschihads entwickelte. Er sah sich als Denker und Schriftsteller.
Die Hintergründe seines Todes 1989, als er in Peschawar von einer Bombe getötet wurde, sind unklar. Es ist eine Stärke des Textes von Thomas Hegghammer, dass er übermässige Spekulationen vermeidet. Tatsache dürfte sein, dass Azzams Ansichten denen von Bin Laden zunehmend widersprachen.
Obwohl er in der Auswahl der Kämpfer offensichtlich nicht – wie Bin Laden – jeden Freiwilligen nehmen wollte, sondern auch auf die ideologisch-religiöse Lauterkeit des Kämpfers Wert legte (also beispielsweise eine gewisse Bildung voraussetzte, aber auch Ausbildung an der Waffe – siehe Die feste Basis), gilt Azzam als „gemässigter“ als Bin Laden, der offensichtlich bereits sehr früh den Dschihad auch das Territorium des Feindes einbeziehen wollte, während Azzam der Meinung war, keine Attentate gegen das bzw. im Gebiet „ferner Feinde“ zu unternehmen. Azzams Vorstellung war eher die eines Guerillakrieges, während Bin Laden wohl früh als Apologet des Terrors gelten muss.
Dennoch ist der Einfluss Azzams auf Al-Qaida in vielfacher Hinsicht prägend gewesen. Er hat den afghanischen Dschihad in seinen späten Schriften zu einem weltweiten Konflikt ausgedehnt, d. h. überall dort, wo Muslime von „Ungläubigen“ unterdrückt werden, ist es die Pflicht jedes Gläubigen, den Kampf aufzunehmen. Ausführlich erläutert Hegghammer die ideologische Dimension von Azzams Denken, welches heute noch gilt, allerdings sehr wohl „verfeinert“ bzw. radikalisiert wurde.
In den Texten Azzams kann man den Sinneswandel von der „kollektiven Pflicht“ zum Dschihad zur „persönlichen Pflicht“ eines jeden Muslimen zum Kampf gegen den Ungläubigen ausmachen. Hinzu kommt, das „Dschihad“, also der Heilige Krieg als physischer, bewaffneter Kampf definiert wird; die ursprüngliche Bedeutung könnte auch »intellektueller Kampf« interpretiert werden. Hiervon ist bei Azzam keine Rede mehr.
Jeder Muslim hat nun aktiv (physisch) und mit der Waffe dem Heiligen Krieg zu folgen. Während bei der „kollektiven Pflicht“ noch Geldmittel oder eher passive „Hilfe“ ausreichten (Gebete; moralische Unterstützung; ziviler Ungehorsam gegenüber „weltlichen“ Institutionen, wie Behörden oder Ämtern), bedeutet der Schwenk zur „persönlichen Pflicht“ nichts geringeres als die Unterordnung aller Bedürfnisse für das oberste Ziel, die Ungläubigen zu bekämpfen.
Akribisch entwirft Azzam, wer von diese Pflicht ausgenommen ist – es sind wenige Personengruppen; sogar Blinde haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten Verpflichtungen. Der Dschihad setzt auch die „normalen“ sozialen Gepflogenheiten ausser Kraft, so ist es beispielsweise Frauen gestattet, ohne Genehmigung ihres Mannes in den Dschihad zu ziehen.
In Sitten und Recht des Dschihads werden detailliert die verbindlichen Gesetzmässigkeiten festgelegt. Das zu lesen, ist teilweise schwer erträglich. Der Text ist extrem menschenverachtend. So wird beispielsweise ausgiebig entwickelt, wann Mönche zu töten sind (wenn sie in das soziale Gefüge der Gesellschaft, die zu „befreien“ gilt, eingebunden sind) und wann sie nicht getötet werden sollen (wenn sie als Einsiedler leben). Insofern relativiert sich das o. g. Wort des „gemässigten“ Azzam sehr deutlich.
Azzam unterscheidet zwischen dem „offensiven Dschihad“, also der Verbreitung des Islam auch in nicht-islamische Länder und dem „defensiven Dschihad“, dem Vertreiben der Ungläubigen aus unseren Ländern. Die zitierten Texte lassen den Schluss zu, dass zunächst einmal der defensive Dschihad Priorität hat. Allerdings weist Azzam sehr wohl auf die zahlreichen Rebellen- und Sezessionsgruppen in der Welt hin, die dort als „unterdrückte“ Muslime gesehen werden (beispielsweise China, Philippinen, Kaschmir). Gelegentlich gibt es auch sehr dezidierte Formulierungen, die ein Weltmachtstreben erkennen lassen: Wir können sogar sagen, dass der Zweck des Dschihads (der Kampf) darin besteht, die Schranken niederzureissen, die diese Religion davon abhalten, sich über den egasamten Erdkreis auszubreiten.
Ein sehr wichtiger Punkt, auf den im Buch mehrfach hingewiesen wird, ist, dass Azzam das Märtyrertum sehr geschickt in seine orthodoxe Auslegung des Islam und seine Ideologie des Heiligen Krieges eingebunden hat. Mit dieser, seiner Interpretation des Märtyrertums, muss Azzam wohl als der „Erfinder“ (mindestens jedoch der „Wiederentdecker“) der Selbstmordattentate gelten.
Dass der Kampf auf dem Wege Gottes stattfindet („Wer kämpft, damit das Wort das Wort Gottes den Sieg davonträgt, ist auf dem Wege Gottes.“), das ist ein anerkannter Hadith. Das ist ein Text, der Gesetzeskraft besitzt. Wer in der Absicht, dem Islam beizustehen, getötet worden ist, ist ein Märtyrer, andernfalls ist er es nicht.
Die „Belohnungen“ werden übrigens an anderer Stelle in Form eines „echten“ Hadiths zitiert:
Dies sind die sieben Vergünstigungen, die dem Märtyrer gewährt werden: schon ab dem ersten Blutstropfen, der vergossen wird, werden ihm seine Sünden vergeben; er erblickt seinen Platz im Paradies; er trägt das Gewand des Glaubens; er heiratet 62 Huris¹; er erleidet nicht die Qualen des Grabes; er wird nicht vom grossen Schrecken heimgesucht; er wird mit einem Szepter der Würde aus Edelsteinen gekrönt, die kostbarer sind als die Welt und ihre Schätze; er darf sich für sechzig Personen aus seiner Familie verbürgen.
¹Zu den Wonnen (karamat), die dem Märtyrer nach seinem Tod gewährt werden, gehören auch die 62 Huris (al-hur), die ihn im Paradies erwarten. Diese Jungfrauen von aussergewöhnlicher Schönheit sind ein wichtiges Element der Vorstellungen, die in der islamischen Überlieferung mit dem Märtyrertod verbnunden werden.
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Ayman al-Zawahiri
Al-Zawahiri gilt derzeit als die Nummer Zwei bei Al-Qaida, hinter Osama Bin Laden. Auf Videos sind sie oft zusammen zu sehen. Stéphane Lacroix stellt im Einführungstext al-Zawahiri als Vordenker des 11. September dar, was in späteren Zitaten (auch in den Texten Bin Ladens) nicht schlüssig belegt wird. Überhaupt hat der Text diverse Mängel und enthält teilweise unnötige, sich selbst oder anderen Texten widersprechende Formulierungen, so wird beispielsweise Bin Laden immer noch als „Milliardär“ bezeichnet.
Ausführlich wird al-Zawahiris Lebensweg innerhalb der ägyptischen Islamistenszene beschrieben; gelegentlich sind die Details hierüber ermüdend und zu ausschweifend.
Al-Zawahiri wird 1951 geboren, entstammt einer eher kosmopolitisch orientierten Oberschicht und wächst in einem Vorort von Kairo auf. Früh fühlt er sich den orthodox-religiösen Kreisen der ägyptischen Muslimbrüder verbunden. Er studiert, wird Arzt (Chirurg) und arbeitet in einem Krankenhaus der Bruderschaft. Sein religiöser Eifer und seine sehr indirekten Verstrickungen in den Mord um den damaligen ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat bringen ihn 1981 ins Gefängnis. Merkwürdigerweise wird al-Zawahiri ausgerechnet dort zu einem (vielleicht dem) Führer der radikal-islamischen Bewegung Ägyptens. 1984 wird er freigelassen und schliesst sich sehr schnell dem Widerstand in Afghanistan an. Da die islamistische Szene in Ägypten aus dem Land flieht (es gibt harte Repressalien), versucht er in der „Diaspora“ diese Kräfte zu bündeln.
Lacroix schreibt, al-Zawahiri hätte von Anfang an ohne Konsultation des damals sehr stark engagierten Azzam (an der Seite Bin Ladens) agiert und quasi rivalisierend, autark von ihm eine Dschihadistenbewegung implementiert. Nach Azzams Tod 1989 seien er und Bin Laden unzertrennlich. Damit suggeriert er eine Verstrickung von al-Zawahiri was das Attentat an Azzam angeht.
Nach Azzams Tod fungiert al-Zawahiri als Ideologe. Lacroix geht sogar so weit zu behaupten, dass al-Zawahiri nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als Gedächtnis der Bewegung zu betrachten sei; Bin Laden sei nur noch charismatische Figur und Symbolgestalt. Er belegt dies mit der stärkeren medialen Präsenz al-Zawahiris seit dem Oktober 2002; detailliert werden seine von Al-Dschasira ausgestrahlten Botschaften aufgezählt; in dieser Zeit gibt es von Bin Laden sehr viel weniger Auftritte.
Von den vier ausgesuchten Texten al-Zawahiris sind zwei auf den ersten Blick formal sehr widersprüchlich. Einer, Ritter unter dem Banner des Propheten, ist ein eher journalistischer Text, der 2001 in einer „panarabischen“ Zeitung erschien und an einigen Textstellen von der Redaktion redigiert worden sein dürfte. Der zweite, 2002 entstandene, wesentlich interessantere, Die Treue und der Bruch, ist ein auf unendlich vielen Koranzitaten basierendes, unpersönliches Konvolut, welches damit den auf spirituellen Gebiet ausgewiesenen Laien al-Zawahiri auch als religiösen Führer ausweisen soll.
Al-Zawahiri „belegt“ hier eindeutig nicht nur die Notwendigkeit, sondern die Pflicht jedes Muslim, in den Heiligen Krieg zu ziehen. Die Masse der Koranzitate, manchmal nach wenigen Seiten immer wieder die gleichen Suren redundant zitierend, soll eine unerschütterliche, legitimierte Deutungshoheit suggerieren. Al-Zawahiri geht weiter als Azzam, da er die individuelle, persönliche Pflicht zum Dschihad als notwendig für die Umma, der Gemeinschaft der Muslime (die nicht nur religiös konnotiert ist, sondern sehr wohl auch soziale Komponenten aufweist) betrachtet.
Den materiellen Wohlstand (des Westens) greift al-Zawahiri an, als den Verlust des Wissens um das Gebot des Guten und des Verbots des Schlechten – ein immer wiederkehrender Passus, der die Verderbheit der „Schriftvölker“ (Christen- und Judentum) suggerieren soll.
Al-Zawahiri lehnt aber nicht nur die „gottlosen Tyrannen“ ab, also die säkularen Oligarchen der islamischen Staaten (wie beispielsweise Hosni Mubarak in Ägypten), sondern auch die (westliche) Demokratie:
Die Demokratie ist eine neue Religion, denn da, wo im Islam die Gesetzgebung von Gott (gerühmt sei Er!) kommt, kommt sie in der Demokratie dem Volk zu. Es handelt sich durchaus um eine neue Religion, die auf der Vergöttlichung des Volkes beruht und die dem Volk das Recht Gottes sowie dessen Attribute verleiht.
Mit dem Rekurs, dass ausschliesslich Gottes Gesetzgebung zu gelten habe, wird implizit die Deutungshoheit hierfür beansprucht und behauptet. Man könnte sagen, dass al-Zawahiri sich selbst mindestens teilweise auf „göttliche“ Stufe stellt. Das ist vermutlich im Sinne des Koran unislamisch, da, das wird sehr oft postuliert, der letzte Prophet Mohammed war. Letztlich handelt es sich also um nichts anderes als eine spiritualisierte Form des Faschismus.
Es lohnt sich, die Auszüge aus Die Treue und der Bruch durchzuarbeiten, auch wenn es gelegentlich grosser Geduld bedarf. Al-Zawahiri geht 2002 bereits deutlich weiter als Bin Laden 2004 in Botschaft für das amerikanische Volk. Er postuliert nichts anderes als einen globalen Dschihad, einen Angriffskrieg gegen alle und jeden, die nicht im Sinne der selbsternannten Exegeten leben und handeln.
Der Bezug, der mit möglichst alten und authentischen Hadiths belegt werden soll, steht in der Tradition orthodox-sunnitischer, wahhabitisch-salafistischer Exegeten, u.a. auch des 18. Jahrhunderts und geht gleichzeitig weit über sie hinaus. So gestattet sich al-Zawahiri in einem anderen Text, die Fatwa des wahhabitischen, sehr hoch angesehen Religionsgelehrten Ben Baz (1909–1999) anzugreifen, die das Hereinholen der US-Truppen nach Saudi Arabien rechtfertigen sollte (wir erinnern uns, al-Zawahiri ist ausgebildeter Arzt!).
Leider allzu selten – wenn die selbst ernannten Exegeten „erwischt“ werden: Wenn al-Zawahiri Beweise für die notwendige Ablehnung des nichtmuslimischen andern zitiert, und nur den Islam als einzig wahre Religion gelten lässt (und auch den „Abtrünnigen“ den Tod wünscht, also diejenigen Muslime, die nicht nach den „wahren“ Vorstellungen leben), so wird die Zwiespältigkeit seiner Auslegung gelegentlich selbst einem Laien offenbar:
{O ihr Ungläubigen, euch eure Religion und mir meine Religion} [109, 1–6]
Im Kommentar hierzu wird erklärt, dass exakt diese Stelle gemässigten Auslegern als Beleg für ein mögliches „Nebeneinander“ der Religionen gilt.
4. und letzter Teil folgt