Ein Schriftsteller, einst als Provokateur auftretend und sich heute als Querulant sehend (mindestens als Schreiber, nicht so sehr als Alltagsmensch), entdeckt das Medium Internet und ermöglicht es uns, jeden seiner Tage schriftlich dort zu verfolgen. So Rainald Goetz 1998 mit einem über ein Jahr angesetzten Projekt. So ganz neu ist das natürlich nicht; Tagebücher gibt es seit eh und je, meistens sind sie aufgeblasen – dies meist dann, wenn es sich um mehr oder weniger erzwungene Notate handelt, die jemand gemacht hat, weil er eben glaubte jeden Tag etwas schreiben zu müssen.
Goetz’ Dilemma ist dieser täglicher Schreibzwang natürlich auch. Die Zurverfügungstellung seines Geschriebenen im Internet sorgt immerhin für eine unmittelbare Aktualität (einen Punkt, den Goetz mehrfach als wichtigen Faktor in seinem Projekt sieht), während beispielsweise die „normalen“ Tagebücher mit grösserer zeitlicher Verzögerung oder gar erst nach dem Ableben des Verfassers erscheinen.
Was wirklich neu war an diesen Notaten also die tägliche, aktuelle Verfügbarkeit – sofern man 1998 ein Internet hatte und sich das wirklich alles durchlesen wollte (eine Frage, die sicher in Anbetracht der unzähligen Weblogs immer mehr stellt). Die „Daily-Soap“ sozusagen aus Dichterfeder: hautnah und „mega-aktuell“. Der Titel für dieses Projekt ist mindestens doppeldeutig: „Abfall“. Und als Buch „Abfall für Alle“.
„Abfall“ – Das Abgefallene aus der Hand (aus dem Kopf) eines Dichters: Dieses (alte) Programm welches die Surrealisten schon umsetzen wollten, quasi ein Schreiben ohne (Nach-) Denken, ein Schreiben ausschliesslich aus dem Kopf heraus – dies versucht Goetz hier, aber er sabotiert es selber, denn wenn man die Eintragungen genau liest, ist von ständigen Korrekturen die Rede, bevor der entsprechende Text dann ins Internet „geht“ und mehr-fach wird von notwendigen Überarbeitungen gesprochen, falls es dann zur Buch- / CD-Ausgabe kommen sollte.
Der „Abfall“ aus des Dichters Hirn, ungefiltert in den PC hineingehämmert ist eine Täuschung, ja: eine Selbsttäuschung; existiert nicht. Der „Abfall“ ist schön sortiert, ja komponiert – auch wenn’s zunächst nicht so aussehen mag (und auch nicht soll – Mogelpackung fürs Publikum).
„Abfall“ – Der Unrat (das Abfällige) – Rohkonzept des Dichters Werk, welches dann nachher erstrahlt. Werkstattcharakter soll suggeriert werden. Begriffe wie „Arbeitsheft“ oder „Kladde“ fallen einem ein. Und man mag an die feinziselierten Handke-Journale denken (Goetz liest am Anfang „Am Felsfenster morgens“) und dessen Vorbereitungen, Reflexionen, Selbstbefragungen und lese dann dieses hier. Ich komme noch zu Goetz’ Haltung zu Handke, möchte jedoch hier vorweg schicken, dass exakt diese Haltung von ihm zwar intendiert, mitgedacht sein mag, letztlich jedoch scheitern muss, da er zu klaren, eindeutigen oder poetisch-reflexiven Äusserungen (also dem strukturierten oder dem poetischen) nicht nur nicht fähig ist, sondern dies im tiefsten Grunde seiner Seele ablehnt.
Was dann? Und warum „für Alle“? Ist damit nicht bereits redundant das Thema vom „Abfall“ genannt? Insinuiert dieser Titel nicht, dass hier letztlich nur das Banale, Alltägliche zu finden ist, das Gute, Elitäre jedoch woanders?
Bei aller Oberflächlichkeit, die Goetz im Laufe dieses Projektes zusehends an den Tag legt, ein gewisses Sprachgefühl darf ihm keinesfalls abgesprochen werden. Daher ist diese Frage nicht beckmesserisch, sondern trifft den Kern dieses Werkes: Es ist um nichts mehr als die Ausweg- und Konzeptionslosigkeit eines Autors, der zwar eine Unmenge Ideen hat, aus verschiedentlichen Gründen jedoch diese Loseblattsammlung unausgereifter und teils unausgegorener Gedanken benötigt, um wieder Fuss zu fassen.
Goetz, der fast manische Leser von Büchern und Zeitungen, trägt dabei eine Spur zu heftig auf (...ersticke / im Wahnsinn meiner Papiere / schönes Gefühl). Obwohl er sich stets auch zurücknimmt, die Oberflächlichkeit seiner Lektüren und diese dann doch meist fruchtlosen Verzettelungen artikuliert, erscheint ganz viel verborgener Wunsch nach breiter Akzeptanz in seinem Handeln zu stecken. Dadurch erscheint Goetz’ so krasse Ablehnung von Schriftstel-lern wie Handke oder Botho Strauss (oder Marlene Streeruwitz, Sybille Berg, Elfriede Jelinek, etc.) als in Wahrheit heimliche Bewunderung, die sich in diesen Hassreaktionen reziprok protokolliert.
Am Beispiel Handkes ist dies am stärksten nachzuvollziehen. Einerseits spricht er vom „Handke-Defizit“, da dieser kein richtiges Ohr hat, für Sprache, oder er hat es verkümmern lassen, es ist so langsam verkümmert, beim dauernden Lobpreis des Stummen. Daher kommt das Menschenleere bei ihm, das tendentiell Autistische. Oder Goetz wird genau – oder sagen wir besser „pseudo-genau“ -, in dem er Handkes Prosa unterstellt, dass sie auch wieder genau so schlecht und wenig BEOBACHTET ist, wie Handkes Angst des Tormanns beim Elfmeter, die ja bekanntlich der Schütze hat, nicht der Tormann, der nur gewinnen kann, beim Elfer.
Goetz’ Pathologisierung bzw. Pychologisierung von Handke soll nicht weiter kommentiert werden. Sein Nichtverstehen der Intention beispielsweise beim „Tormann“ ist jedoch bezeichnend: Natürlich ist Handke das Faktum bewusst, dass der Tormann bei einem Elfmeter stets derjenige ist, der nichts „zu verlieren“ hat, sondern alle Last dem Schützen obliegt. Bei einem Elfmeterschiessen wird niemals der Torhüter hinhalten müssen, es verloren zu haben, sondern stets der oder die Spieler, die als Schützen nicht getroffen haben. Dies ist jedoch Fussballreporterweisheit! Handke erzählt ja im Tormann von einem (psychisch) gestörten (schizophrenen) Mann, der just diese „Weisheit“ umkehrt, d. h. als Tormann eine Angst vor dem Elfmeter entwickelt. Gerade diese Umkehrung der rational-gängigen Perspektive ist die Folie, auf der sich Handkes Erzählung abspielt bzw. die Wahrnehmung des Protagonisten Josef Bloch. Und um es an einem Notat von Handke zu verdeutlichen: Es wird stets gesagt, ein Glas steht auf dem Tisch. Niemals bzw. selten heisst es, dass unter dem Tisch ein Glas stehe.
Mehrere solcher Handke-Verrisse gehen nun parallel mit einer andererseits durchschwingenden Bewunderung für Handke. So benutzt er oft Bilder von ihm (meistens aus seinen Journalen), etwa das Bild der vom Tag „abgespeicherten“ Wärme in einem Briefmarkenautomat bzw. dessen Ausgabeschlitz am Abend (Goetz modifiziert es ein wenig) oder aber wenn er davon spricht, wie lästig es ihm ist, im Zeitschriftenladen als eine Art Stammkunde behandelt zu werden (...fühle mich von der Intimität dieser Ritualisierung belästigt und suche mir einen neuen Laden – bei Handke heisst es: „Ich will nicht als Stammgast behandelt werden, nie und nirgends“ ). Oder er verfällt selber in eine Art Handke-Stil, etwa wenn er über einen von ihm geschriebenen Satz rückblickend räsonniert: ...Dass man duch die Türe aus dem Haus geht, dass ich das mal geschrieben habe, dass es einen Punkt gab, wo eine solche Sache schriftlich so sagbar war und sich so zuversichtlich angehört hat: das hat mich in diesen schwierigen Zeiten unglaublich beruhigt und ermutigt.
Diese Ambivalenz (hier zu Handke; über andere Schriftsteller liesse ich ähnliches herausarbeiten) macht natürlich ein Stück weit dieses Buch auch wieder aufregend.
Goetz erscheint wie ein Berserker, der alles gleichzeitig möchte und nichts durchhält. Seine „Praxis“-Ausführungen (Lesungen zur Poetik) sind mehr als zerfahren, also im Mainstream der Nicht-so-genau-Gesellschaft. Die Rückschlüsse auf seine Luhmann-Lektüre bleiben gut verborgen.
Wo er brillant ist, sind präzise und treffende Momentbeschreibungen, die dann durchaus als „poetisch“ gelten können, beispielsweise dann, wenn er sich selbst beschreibt beim Überprüfen des Staubsaugerbeutels (soll er ihn austauschen oder noch nicht?) oder im Bemerken des Vorgehens der Kinder und Jugendlichen kurz vor Silvester, als diese Knallkörper leiden-schaftslos und gleichgültig zünden lassen. Erhellend auch Ausführungen wie Das Fernsehen kann keine Räume zeigen. Kann überhaupt nicht zeigen: Grösse, Ausdehnung, die in Räumen zwischen Menschen verlaufenden Kraftlinien, die von den Körpern ausgehen, das Soziale also in Räumen: es bleibt dem Fernsehen verborgen. Und der prinzipiell richtige Schluss: Deshalb kann es keine Theaterstücke zeigen, und kein normaler Mensch hält eine noch so wunderbare Inszenierung im Fernsehen wirklich aus, geschweige denn, dass man da verstehen könnte, was theatral gemeint ist, dass man das nebenbei geniessen könnte. Abgesehen von dem Absolutheitsanspruch und der übertriebenen Negation der Möglichkeiten des Fernsehen, definiert Goetz etwas später die Vorteile dieses Mediums: Das Fernsehen ist die Lupe der Nahsicht. Das Medium ganz und gar des menschlichen Gesichts – des LEBENS der Geschichte, die sich darin spiegelt, im Moment des Reden und Erzählens, in diesem Gesicht.
Vollkommen einverstanden, nur: warum schwadroniert er ständig über-den-Klee-lobend über die Harald-Schmidt-Show (die exakt das Gegenteil von Goetz’ Nahsichttheorie ist) und ver-teufelt beispielsweise Willemsens Interview-Sendung, die dies versucht hat? Und dann: was soll man mit Aussagen wie der folgenden anfangen: Plötzlich kams mir: dass das FIKTIVE natürlich der Ort des PRIVATEN ist. Da ist es dann sozial gehalten und gefasst. Und dass das Nichtfiktive, das sozusagen AUTHENTISCHE fürs ALLGEMEINE zuständig wäre. Wer hilft?
Und wie soll man einen Autor einstufen, der ernsthaft postuliert: Es geht nicht um das, was man sagt, sondern darum, was man meint.? Gewiss nicht als seriös, denn das eine bedingt schliesslich das andere, und auf die Literatur bezogen kann es gar nicht stimmen, da ansonsten Piktogramme, Comics, Goethe und Philosophie auf einer Stufe zu stellen sind bzw. deren alleiniges Kriterium das der allgemeinen Verständlichkeit bekommt und gleichzeitig eine eindimensionale Botschaft des Mediums insinuiert wird.
Dennoch: würde Goetz nicht mit seinem „Hass“ so kokett spielen – sinngemäss behauptet er mehrfach, er sei voller Hass (dabei ist dies ein domistizierter, zivilisierter, ja saturierter Hass ohne jegliche Empathie) – und seine Notate von trivialen Verrenkungen (und Eitelkeiten) freihalten, so wäre der „Abfall“ zwar nur rund 200 Seiten stark, hätte aber eine tatsächlich verdichtende Wirkung, also das, was eigentlich mit Literatur angerichtet werden soll. (Auf die „Wer sagt das?“-Frage ginge sehr leicht die Antwort, dass Literatur niemals „nur“ Aufgeschriebenes sein kann, sondern stets eine Künstlichkeit beansprucht, beanspruchen muss, die sie aus der blossen Niederschrift erhöht.)
Die Offenheit, mit der hier vom „Abfall“ die Rede ist wird irgendwann vom Leser wieder auf den Verfasser zurückgeworfen. Die Frage hierzu lautet „Warum?“ bzw. „Aus welchem Grund muss ich das lesen?“ Goetz’ schriftstellerisches Können ist eigentlich unbestritten, so dass man sich fragen muss, warum ein Autor sich auf dieses Niveau hinablässt, auch sprachlich (in einen Szene-Jargon verfällt, der Authentizität und Kompetenz vortäuschen soll, letztlich jedoch nur Sprachlosigkeit bebildert). Um ein paar schöne Formulierungen und interessante Denkanstösse zu bekommen ist letztlich der Gesamtaufwand des Lesens dieses Buches zu gross. Goetz ist nun mal nicht Thomas Mann – und auch dort frage ich, ob man wissen muss, ob am 15. April 1951 das Frühstücksei gelungen war.
Es ist ein separates Kapitel, ob die künstliche Bedeutungsaufladung von Tagebücher prominenter Zeitgenossen bis ins Detail des Stuhlgangs hin zweckmässig ist und für das Verständnis des Werkes relevant. Mindestens sind die Personen in der Regel tot oder es gibt den zeitlichen Abstand, der dem Leser die Möglichkeit gibt, einen umfassenden Bogen vom Damals zum Jetzt zu schlagen. Goetz wollte Gleichzeitigkeit, unmittelbare Nähe und sofortige Reaktion. Das Konzept muss scheitern, weil es keine Dichtung geworden ist, sondern Sammlung; Sammlung von Beliebigem und Wichtigen – ohne Unterschied, ohne Priorität, alles ist gleich wichtig oder gleich belanglos. Das ist nicht mit meinem Verständnis von Literatur vereinbar und oftmals unsäglich langweilig. Dennoch sehe ich dahinter den Suchenden, Forschenden und Verehrenden, auch wenn er es selber (noch) nicht wahrhaben möchte.
geschrieben im April 2000; leicht überarbeitet
Gott sei dank
geschaetzer Herr Keuschnik, habe ich am Schluss Ihrer, wie immer, brilliant geschriebenen Kritik den Nachsatz gefunden, dass dieser Aufsatz (da ich das Buch nicht gelesen habe, kann ich inhaltlich natuerlich nichts dazu sagen) bereits im April 2000 verfasst wurde. Bei der Lektuere des Artikels wurde ich immer kleiner mit Hut und fragte mich: Wie schafft dieser Mann das bloss, so viele Buecher in so kurzer Zeit zu lesen und zu analysieren.
Jetzt haben Sie sich wieder auf ein menschliches Mass reduziert, was meinem Lesegenuss jedoch keinesfalls abtraeglich ist.
Meiner Schreiblust abtraeglich ist jedoch Keyboard. Dauernd muss ich die y‑s und z‑s ausbessern. Ich sollte mir vielleicht doch noch englisches Keyboard zulegen.