Der Eingang in den Kosmos des 2006 erschienenen Romans Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah gelingt sofort. Es ist das Jahr 1899. Ein vollkommen dehydrierter und verwahrloster »Mzungu« (was »Weißer« bzw. »Europäer« bedeutet) liegt »wie eine Gestalt aus einem Mythos« erschöpft auf einer Straße in Sansibar. Hassanali, »ein Krämer in einer verfallenen Stadt am Rand des zivilisierten Lebens«, der jeden Morgen die Moschee aufschließt, findet ihn zuerst, bringt ihn nach Hause, gibt ihm Wasser und nach und nach sorgen sich eine Heilerin und »Beinbrecher«, eine Art Arzt, um ihn, bevor er von den britischen Kolonialbehörden mitgenommen wird. Es handelt sich um den Orientalisten Martin Pearce, der auf seinen Jagdreisen in Ostafrika von den eigentlich zu seinem Schutz abkommandierten ausgeraubt und ausgesetzt wurde.
Mit dem Regierungsbeamten Frederick Turner, der die Station seit vier Monaten leitet, schließt er rasch Freundschaft. Man wird Zeuge von Abend- und Tischgesprächen, auch mit dem eingesetzten Verwalter Burton, einem »liebenswürdigen und pflichtbewussten Mann«, solange er nicht über die Zukunft des Empire und Afrikas spricht. Seine Ansichten, aus Afrika ein zweites Amerika machen zu wollen, in dem man die indigene Bevölkerung durch europäische Siedler sozusagen ersetzt, stoßen selbst bei Turner und Pearce auf Vorbehalte und wenn genug Alkohol geflossen ist, entwickelt Turner seinen Empire-Blues: »Von dem, was heute mächtig und gewaltig scheint, wird morgen nichts mehr übrig sein als Staub und Ruinen.«
Martin Pearce muss bei der Familie, die ihn gefunden und betreut hatte, bedanken will, zunächst den Schaden, der durch Turners Auftreten entstanden war, einrenken. Man hatte tatsächlich geglaubt, dass der Weiße bestohlen worden sei und die Familie um Hassanali einem strengen Verhör unterzogen. Aber Rehana, die Schwester des Krämers, hatte schließlich die Briten des Hauses verwiesen; das rote Notizbuch des Mzungu, das niemand vermisste und dieser wähnte, verloren zu haben, behält sie.
Rehana ist 29. Sie lebt mit ihrem Bruder Hassanali und seiner jungen Frau zusammen; die Eltern sind verstorben. Besonders innig ist die Erinnerung an den Vater, den Erzähler: »Sie vermisste seine Geräusche, seine Stimme, seine massige Gestalt, seine bloße Gegenwart, doch dann wurde ihr bewusst, wie sehr sie vor allem seine Geschichten vermisste.« Als der Vater starb, war sie sechzehn und der ein Jahr jüngere Hassanali übernahm den Krämerladen, »tapfer und pflichtbewusst«, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Mit 22 heiratete sie Azad, einen Kaufmann und den Freund ihres Bruders. Als er zu einer Reise nach Indien aufbrach, um die Gewinne einer Schiffsladung vor Ort zu realisieren, ahnte sie Schlimmes. Azad kehrte nicht mehr zurück. »Jahrelang hatte sie über seinen Weggang nachgegrübelt, und alles, was jetzt noch übrig war, war Bitterkeit« und Verachtung.
Als Martin sich für die Hilfe bedankt, entsteht etwas, was nicht vorgesehen ist im Kolonialkosmos Ende des 19. Jahrhunderts. Die beiden verlieben sich ineinander. Wie genau dies geschieht und sich entwickelt wird in einem speziellen Kapitel des Romans mit der listigen Überschrift Gedankliches Zwischenspiel erzählt oder, besser, gemutmaßt. Der vermeintlich allwissende Erzähler (erst später wird klar, wer da vermutlich die ganze Zeit erzählt) scheint die weitere Entwicklung nicht zu kennen und bietet dem geneigten Leser nun mehrere Möglichkeiten an, wie die Liaison zwischen Martin Pearce und Rehana Zakariya weitergegangen sein könnte.
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