Nachdem der Penguin Verlag in rascher Folge 2021/22 mit »Das verlorene Paradies« und »Ferne Gestade« zwei länger zurückliegende Romane (1994 bzw. 2001) des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah in deutscher Sprache publizierte, liegt nun das 2020 in Großbritannien unter dem Titel »Afterlives« erschienene Buch mit dem Titel »Nachleben« vor. Die Übersetzung übernahm diesmal Eva Bonné. Nach Inge Leipold und Thomas Brückner ist dies die dritte Übersetzerin, was natürlich nicht ideal ist. Auf ein Glossar wurde diesmal ebenso verzichtet wie auf ein Nachwort; ersteres ist bedauerlich. Die übliche wie unsinnige Triggerwarnung ist allerdings geblieben.
Der Roman spannt einen zeitlichen Bogen von den 1880ern bis in die 1950er Jahre. Er spielt zumeist im heutigen Tansania, zu Beginn Deutsch-Ostafrika; am Ende wird der Leser noch in die Adenauer-Bundesrepublik geführt. Die personale Erzählperspektive wechselt im Verlauf des Romans mehrmals. Zunächst ist man beim elfjährigen Khalifa, der gute Privatschulen besuchte um Buchführung, Mathematik und Englisch zu erlernen, was dem Vater, einem indischen Emigranten, einst nicht vergönnt war. Die Ausbildung fruchtete. Khalifa arbeitete zunächst zehn Jahre bei Geldverleihern, bis er dann ein Angebot von einem Kaufmann erhielt und dort als Buchhalter und Faktotum begann. Sein Chef war es auch, der ihn mit Asha verkuppelte, einer Schwester der Mutter des Kaufmanns. Asha wird als »energische und eigensinnige« Frau beschrieben, die 11 Jahre jünger war. Sie heirateten 1907, als der »Maji-Maji«-Aufstand »in den letzten Zügen« lag.
Dieser wurde von den Deutschen niedergeschlagen und »je klarer das Ausmaß des Widerstands gegen die deutsche Herrschaft wurde, desto brutaler und unbarmherziger fiel die Reaktion der Kolonialmacht aus. Als die deutschen Kommandanten erkannten, dass der Revolte mit militärischen Mitteln allein nicht beizukommen war, gingen sie dazu über, die Bevölkerung durch Hunger zu unterwerfen.« Hundertausende starben, aber Khalifa und Asha lebten in einem anderen Teil des Landes; sie erfuhren nur durch Hörensagen davon.
Stattdessen kam ein junger Mann mit dem Namen Ilyas in die (fiktive) Stadt – mit einem Empfehlungsschreiben der deutschen Besatzung, die es ihm ermöglichte, eine gute Stelle in einer Fabrik zu finden. Er freundete sich mit Khalifa an und als Ilyas seine Eltern nach langer Zeit wieder besuchte und nur noch die kleine Afiya, seine Schwester, antraf, nahm er sie mit in die Stadt. Die Jahre vergingen und der Erste Weltkrieg warf seine Schatten voraus. Es drohte ein Krieg zwischen Deutschland und den Briten. Ilyas war germanophil und meldete sich freiwillig zu den Askari, den Hilfstruppen der Deutschen, die aus Einheimischen bestanden und zu großer Brutalität neigten. Khalifa wollte ihn zum Bleiben überzeugen, aber Ilyas ging zur Ausbildung nach Daressalam. Wie damals üblich, rechnete er mit baldiger Rückkehr.
Den Einblick in den deutsch-britischen Krieg in Ostafrika bekommt der Leser durch die Figur Hamza, die nun zur Hauptfigur wird. Auch Hamza (um die Jahrhundertwende geboren) meldete sich freiwillig in die Askari-»Schutztruppe«, und manipulierte sogar sein Alter, um aufgenommen zu werden. Sehr schnell desillusioniert ob des rauen Umgangs dort, hatte er noch Glück im Unglück, weil ihn ein deutscher Oberleutnant als Ordonnanz auswählte. Später kommen wohl noch andere, homoerotische Motive dazu. Hamza bekam Privatunterricht vom Offizier, er lernte lesen, schreiben und die deutsche Sprache. Ziel war es, dass Hamza irgendwann Schiller lesen sollte. Zunächst konnten die Deutschen die Briten noch schlagen, es gab Angriffe, Überrumpelungen und dann wieder Rückzüge. Aber irgendwann war die Schutztruppe am Ende, viele wurden krank. »Sie ernährten sich von dem, was sie in Dörfern und auf Farmen fanden, sie plünderten und sie beschlagnahmten, so viel sie konnten.« Sie »hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischem Eifer für eine Sache kämpften, deren Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte.« Aber, so die sarkastische Sentenz, die deutschen Offiziere »sorgten derweil für die Wahrung des europäischen Ansehens.« Hamzas Einheit war irgendwann am Ende; viele Askari desertierten. In blindwütigem Hass verletzte ein eifer- und tobsüchtiger Feldwebel Hamza schwer. Der wurde in eine deutsche Missionsstation gebracht, die den Krieg überstand. Nach vielen Monaten machte sich Hamza immer noch stark beeinträchtigt durch seine Verwundung an der Hüfte auf den Weg in die Stadt, auf der Suche nach dem Haus, in dem er verschleppt worden war, bevor er sich der Askari-Truppe angeschlossen hatte.
Parallel wird der Leser mit Afiyas Schicksal konfrontiert. Nach einigen Wirren kommt sie in Khalifas Haushalt; unter dem harten Regiment der herrischen Asha. Khalifa und der Sohn des Kaufmanns, der inzwischen die Geschäfte übernommen hat, schlugen sich zeitweise mit Schmuggel durch. Wie durch ein Wunder traf Hamza schließlich in der Stadt ein. Es gelang ihm, in Khalifas Laden eine Stellung zu erhalten; der Inhaber vertraute ihm. Die Geschäfte blühten auf; Hamza wurde zum Tischler angelernt. Khalifa und Hamza wurden Freunde und der junge Mann lernte Afiya kennen und lieben. Es kam zur Heirat; fast zeitgleich starb Asha. Das Paar zieht bei Khalifa ein. 1922 wird ein Junge geboren. Er wurde nach Ilyas genannt, Afiyas verschollenem Bruder.
Im Gegensatz zum bisweilen verwirrenden Personal- und Erzähltableau in »Ferne Gestade« bleibt der Figurenreigen in »Nachleben« übersichtlich. Während der Lektüre wartet der (geschichtskundige) Leser auf ein Ereignis, das die Welt der guten Saga zerstört oder wenigstes durcheinander bringt. Ja, es gab den nächsten Weltkrieg, aber wie durch ein Wunder bleiben die Protagonisten davon fast unberührt. Immerhin: Der junge Ilyas ging mit 19 Jahren zu den »King’s African Rifles«, weil ihm von den Briten danach ein Studium versprochen wurde. Er wurde dann »Garnisonsoffizier beim Küstenregiment in Daressalam« und nach dem Krieg Lehrer. Daneben schrieb er Geschichten, die schließlich Verbreitung fanden.
Die Schilderungen der Brutalität der Aufstandsbekämpfung und deutschen Kriegsführung werden, wie schon in den anderen Büchern von Gurnah, weder effekthascherisch noch anklagend erzählt, sondern nüchtern, bisweilen fast ironisch und gerade deshalb eindringlich. Der Autor kontrastiert die negative Sicht auf die Deutschen und deren Rassismus mit der Deutschfreundlichkeit Hamzas und des abwesenden Ilyas. Die britische Besatzungszeit wird fast gemütlich geschildert; Wirtschaft und Bildung blühten auf, der Handel war frei. Wie schon in den anderen Romanen (vor allem »Das verlorene Paradies«) werden auch die patriarchalisch anmutenden Gebräuche und der Aberglauben der afrikanischen Bevölkerung kritisiert und bisweilen sanft verspottet. Von einer Kritik an der tansanischen Regierung Nyerere unmittelbar nach der Unabhängigkeit nimmt Gurnah ebenfalls diesmal Abstand.
Nur eine Familienangelegenheit bleibt lange unbeantwortet: Wo ist der Kriegsfreiwillige Ilyas, Afiyas Bruder, verblieben? Ilyas, Hamzas Sohn, übernimmt jetzt den Staffelstab der Hauptperson. 1963 erhielt dieser ein Stipendium in Bonn. Er recherchierte quer durch Deutschland und konnte letztlich (fast) alles aufklären. Selbst diese zum Teil skurrile Geschichte (aus Ilyas wurde Elias und der schloss sich in den 1930er Jahren in Deutschland der Nazi-Rekolonialisierungsbewegung an) wird mit Mitgefühl und einer weichen, versöhnenden Menschenfreundlichkeit erzählt, wie überhaupt vor allem der zweite Teil des Romans an Stifters sanftes Gesetz erinnert. Und plötzlich erscheint »Nachleben« trotz der Wirren und Kriege zu Beginn auf eine vertrackte Weise so etwas wie ein afrikanischer »Nachsommer«.