Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer, der natürlich kein »Schweiz-Angestellter« sein will, fährt nach Finnland und wundert sich, dass ihn niemand dort auf den 9. Februar, den Tag der Abstimmung zur Masseneinwanderungsinitiative, anspricht. Niemand in Finnland ist an Schweizer Politik interessiert. Niemand will sich mit ihm (oder gegen ihn) empören. Stattdessen stellt er fest, dass in einem finnischen Orchester fast nur Finnen sitzen. Naja, »vielleicht sind Finnen einfach bessere Musiker als Italiener oder Franzosen...«
Der Text hat etwas sehr Komisches. Ist es eine Satire? Oder ist das ernst gemeint? Wer kann helfen?
Hat mich spontan an die Geschichte Michael Kumpfmüllers erinnert, dem bei einer Preisverleihung in Frankreich ähnliche Unbill widerfahren ist. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ein-deutscher-literat-in-frankreich-alles-mir-zu-ehren-aber-alles-ohne-mich-12691540.html
Wirklich interessant dieses französische Desinteresse. Und ungewöhnlich, wenn man gelesen hat, wie Raddatz in Frankreich hoffiert wurde und darüber schwärmt (das war aber auch vor 25 – 30 Jahren).
Hier zeigen sich auch die dt.-frz.-Missverständnisse... diesmal von der anderen Seite.
Vielleicht sind die Berichte der beiden Schriftsteller über das Desinteresse an ihnen und ihrer Heimat auf einer menschlichen Ebene ja nur skurrile Einzelfälle ‑Kampfmüller spricht zwar von jahrelanger Erfahrung mit Frankreich, aber gut‑, und das positive Beispiel von Raddatz ist die Regel? Ob es da wohl noch weitere Beispiele der ein oder anderen Art aus dem Bereich gibt?
Richard-Molards* erschütterndem Eindruck der deutschen Medien jedenfalls muss ich schon zustimmen, vor allem auch deshalb, weil es doch zunächst darum gehen sollte, die Leser über die Zustände in einem Land wie Frankreich oder Griechenland zu informieren und die Lage möglichst objektiv zu analysieren. Stattdessen trifft man ungleich häufiger auf Artikel, denen man anmerkt, dass der Verfasser sie bloss um seine schon von vornherein feststehende Meinung drumherum geschrieben hat, was nicht nicht nur nicht journalistisch, sondern oft obendrein auch noch sachlich falsch ist (bei Flassbeck-economics kann man das z.B. in Bezug auf die Wirtschaftsberichterstattung regelmäßig nachvollziehen).
Hin und wieder frage ich mich, ob die europäische Idee von der friedlichen politischen Integration, individueller Freizügigkeit, wirtschaftlicher Prosperität und kultureller Vielfalt noch gilt, oder ob es nur noch um die Belange der Wirtschaft geht und um nichts anderes mehr und dem folglich alles andere untergeordnet wird.
(*wobei er natürlich als französischer Sozialist und Parteifreund Hollandes ein wenig voreingenommen sein dürfte)
Naja, die französischen Medien dürften nicht grundlegend anders berichten und die deutschen Medien schreiben auch in anderen Belangen gerne um ihre Meinung herum. Der Artikel ist arg tendenziös, etwa wenn gefragt wird, dann in Deutschland eine Frau wie das der Oberbürgermeisterin von Paris bekomme. Der Autor hat vergessen, dass wir eine Kanzlerin haben. Er hat auch vermutlich verdrängt, dass die Proteste gegen die Homo-Ehe in Frankreich ziemlich massiv waren; ähnliches habe ich aus D noch nicht gehört.
Ich wundere mich auch immer wieder, wenn es einerseits heißt D solle sich aktiver in politischen (vulgo: militärische) Belange der EU und/oder NATO »einbringen« und dann heißt es irgendwann, D verliere die Zurückhaltung. Als es darum ging mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich in der Zentralafrikanischen Republik mitzumachen, konnte es nicht früh genug gehen. Und ich denke auch noch an den Ärger den Westerwelle bekommen hatte, weil er Sarkozys Hurra-Angriff auf Libyen nicht mitmachte (was ich die einzig weise Entscheidung Westerwelles während dessen Amtszeit fand).
Die europäische Integration war zuvörderst eine ökonomisch geplante; es hieß ja zu Anfang EWG. Die politische Ausdehnung der EU ohne die Integration der bestehenden Gemeinschaft zunächst zu stabilisieren – das hat dazu geführt, dass nach einer als fundamental aufgefassten Wirtschaftskrise (in D ist ein potentieller Verfall der Währung fast ein Trauma) Brechts Wort vom Fressen vor der Moral wieder auf die Agenda kommt.
Zum Artikel von Sulzer:
Ja, der Stil ist uneinheitlich, im Film würde man es eine Tragi-Komödie nennen, verortet irgendwo zwischen Woody Allen und Mika Kaurismäki.
Inhaltlich, geht es um das Interesse an ausländischer Literatur, gemünzt zum Des-Interesse am Autor, und (nicht eben naheliegend) um die Abstimmung vom 09. Februar.
Sulzer hatte wohl noch nicht die Gelegenheit, seiner »Verlegenheit« in der NZZ Ausdruck zu verleihen.
Richtig grotesk sind seine Überlegungen, ob die Finnen Einwanderung verhindern, oder einfach nur ein wenig attraktives Land sind. Die Musiker sind tatsächlich ein exzellentes Beispiel, da in Deutschland vergleichsweise eine sehr hohe internationale Konkurrenz besteht. An einer Orchesterbesetzung kann man (etwas unwissenschaftlich) den Einwanderungsdruck durchaus ablesen. In dieser Branche empfindet man übrigens ganz unzweifelhaft »Druck«, da hilft keine Sprach-regulierende Polizei-Arbeit. Der gefühlte Druck ist echt.
Insgesamt, lese ich eine Verunsicherung über die Ideale, welche Europa bestimmen sollten. Reality bites!