Das vom Arche-Verlag jüngst herausgebrachte Buch »Hochzeit des Lichts« von Albert Camus umfasst genaugenommen zwei Bücher. Zum einen vier Erzählungen, die 1938 in Frankreich unter dem Titel »Noces« (»Hochzeit«; in Deutschland erstmals 1954 unter »Hochzeit des Lichts«) erschienen. Sie entstanden, wie der Verlag in einer editorischen Notiz erklärt, in den Jahren 1936–1937. Camus war damals also ungefähr 23 Jahre alt. Zum anderen gibt es acht Erzählungen, die 1954 in Frankreich unter dem Titel »L’été« (»Sommer«) erschienen waren und zwischen 1939 und 1953 entstanden. Der deutsche Titel lautet »Heimkehr nach Tipasa«. Die deutschen Übersetzungen der beiden Bücher von 1954 und 1957 wurden für dieses Buch teilweise überarbeitet.
Es ist nun mehr als ein Fauxpas, wenn der Verlag sowohl im Klappentext als auch in der Pressemitteilung schreibt, dass alle »in diesem Band versammelten Texte« zwischen 1936 und 1938 »erstmals erschienen« seien. Die hier abgedruckten Erzählungen, die mit der Zeit essayistischer und philosophischer werden (Camus hätte letzteres vielleicht bestritten), sind, wie oben ausgeführt, keinesfalls dieser eng umrissenen Zeitspanne zuzuordnen. Noch ärgerlicher ist allerdings, dass viele Besprechungen diese zeitliche Fehleinschätzung einfach übernehmen (exemplarisch dafür Iris Radisch, die im Februar das Buch im »Literaturclub« als Frühwerk anpries, was tatsächlich nur für die ersten 65 Seiten – von 163 – gilt). Wieder einmal zeigt sich, wie »genau« große Teile der Kritik mit dem Objekt ihrer Lektüre umgehen. Dabei hätte man nur einen Blick auf die Seiten 165 und 166 dieses Buches werfen müssen.
Auch ohne in allzu detailreiche philologische Deutungen abzugleiten und den Zauber dieser Prosa damit zu profanisieren ist es nicht unwichtig, dass die episch-essayistische Erzählung »Heimkehr nach Tipasa« (»Retour à Tipasa«; im deutschen sozusagen die Titelgeschichte aus »L’été«) aus dem Jahr 1952 stammt (und damit eben nicht fünfzehn Jahre vorher). Zu diesem Zeitpunkt lagen demnach bereits die bedeutendsten Werke (sowohl die Romane »Der Fremde« und »Die Pest« als auch die philosophischen Schriften) von Albert Camus vor. Umso interessanter, dass man in diesen Erzählungen bisweilen das Gefühl hat, der Autor experimentiere hier, und zwar sowohl stilistisch, was sich im manchmal ruckartigen Wechsel von Naturbeschreibung und (Selbst-)Reflexion zeigt, als auch literarisch, denn natürlich möchte Camus weder einer reinen Idyllisierung der Natur das das Wort reden (früh geißelt er die öden Traktate der Naturschwärmer) als auch die Natur nicht als Urgrund für metaphysisch-philosophische Betrachtungen instrumentalisieren.
Nicht Sehen, sondern Schauen
Zu erleben wie Camus dieses Spannungsfeld fast immer souverän meistert ist eine der Qualitäten dieser Prosa. Auch in den stimmungsvoll-schwärmerischen Stellen, die es nicht nur in den frühen Erzählungen gibt (allerdings dort häufiger), wird die Natur niemals vermenschlicht, d. h. es existiert immer ein Erzähler (der mit Camus weitgehend gleichgesetzt werden dürfte), der diese Wahrnehmungen mit seinem Seelenleben verbindet, umformt und demzufolge: interpretiert. Die Natur existiert demzufolge nie »an sich« sondern stets durch den »Wahrnehmungsapparat« des Erzählers. Camus wird dahingehend zitiert, dass sein Herz und sein Gefühl diese Erzählungen geschrieben hätten, nicht der Verstand (man hofft, die Übertragung dieses Ausspruchs ist authentisch und zuverlässiger wiedergegeben als die schlampigen Angaben zur Entstehung dieser Geschichten). Das stimmt nur insofern, als hier aus der Ich-Perspektive geschrieben wird und eine romanhafte Verfremdung beispielsweise durch Protagonisten unterbleibt. Dies verleiht den Erzählungen eine sehr persönliche Aura und zeigt einen (vielleicht unbewusst tiefen?) Einblick in die Welt von Camus, die immer auch eine Welt des Zweifels war. Ansonsten ist das existentialistische Denkgerüst schon Ende der 1930er Jahre präsent, wenn auch nicht immer ausgereift.
Wirklich grandios sind diese Impressionen seines algerischen Arkadiens. Es ist seine Heimat der Seele, in der Gebirge, Himmel und Meer…wie Gesichter [sind], deren Öde oder Pracht man nicht durch Sehen entdeckt, sondern durch Schauen. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Jahrzehnte später gibt es Beschwörungen der vergangenen Augenblicke und vom Scheitel des Himmels herniederfallend, werden die Fluten des Sonnenlichts hart von der Landschaft um uns her zurückgeworfen. Alles schweigt vor diesem Getöse, und der Luberon, dort drüben, ist nur noch ein ungeheurer Block des Schweigens, dem ich unablässig zuhöre. Ich lausche, von Ferne eilt es zu mir, unsichtbare Freunde rufen mich, meine Freude wächst, dieselbe wie vor Jahren. Und dann wieder so ein jäher Perspektivwechsel mit der scheinbar aus dem Nichts assoziierten Frage nach der Sinnlosigkeit der Welt.
Ein andermal dann wieder euphorisch: Ich lernte atmen, ich ordnete mich ein und erfüllte das eigne Maß. Und alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske. Hier ist er Mensch und kann nach hochzeitlicher Weltumarmung das Glück der Ermattung genießen. Ja, es ist keine Schande, glücklich zu sein, sondern sogar eine Art Menschenpflicht. Trotzig-schwärmerisch, dieser Stolz, ein Mensch zu sein und dann das pädagogische Wie arm sind Menschen, die Mythen brauchen von 1937. So etwas von ihm, dem späteren Sisyphos-Interpreten, der sich reichlich an und in der griechischen Götter- und Mythenwelt bedienen sollte und schon 1947, in der Erzählung »Prometheus in der Hölle« wird diese Haltung leicht relativiert: Die Mythen leben nicht aus sich selbst. Sie warten darauf, dass wir sie verkörpern..
Aber dieses Glück, jener einfache Einklang eines Geschöpfes mit seiner Existenz ist immer ephemerer Natur. Es wird gespeist aus der Ambivalenz dauern zu wollen und sterben zu müssen; dem Absurden, wie es bei Camus heißt (der Begriff spielt in diesen Erzählungen keine tragende Rolle, daher kommt man eher auf das Wort vom Paradoxon). Und in diesen (in doppelter Hinsicht) lichten Momenten entsteht die Leidenschaft, leben zu wollen und unbeirrt wird die Schönheit der Welt postuliert: Außer ihr gibt es kein Heil und auch kein übermenschliches Glück [,] und keine Ewigkeit außer dem Hinfließen der Tage. Camus ahnt, dass der Tod, dieses schmutzige Abenteuer, das Nachdenken darüber und seine Todesangst…nur die Kehrseite einer unbändigen Lebensgier ist.
»Steine, Leibe und Sterne«
Der algerische Sommer hat ihm gelehrt, dass eines noch tragischer als das Leiden ist: das Leben eines glücklichen Menschen. Welcher Zwiespalt: Glücklichsein und die Tragik des Glücklichseins! Camus nimmt nun keinesfalls eine resignative Haltung ein, redet keiner billige[n] Zufriedenheit das Wort. Wer diesen Weg wähle, würde mogeln; diese Menschen prahlten mit ihrer Liebe zum Leben, um der eigentlichen Liebe auszuweichen. Man will genießen und erleben.
Da wird die Versuchung hin zu einem hedonistischen Lebensstil zum Gesichtspunkt des Geistes; der echte Genießer lebt sein Leben ohne den Beistand seines Geistes, ohne sein Zurückweichen wie sein Vordringen, seine Einsamkeit und seine Gegenwart. Dabei begibt sich Camus in einen Widerspruch, denn dieses Geniessertum ohne Geist ist nach strenger Auslegung letztlich nur mit entsprechender Reflexion, ergo einem »Geist«, möglich. Bei den Algeriern selber konstatiert er eine eher archaische, glühende Lebensgier, speziell in den jungen Jahren (was, wie er mutmaßt, vielleicht mit ihrem verhältnismäßig frühen Tod zu tun hat). Hierin erkennt er einen Lebenswillen, der dem Leben nichts verweigert, eine Tugend, die er, Camus, am höchsten verehrt auf dieser Welt.
Camus’ streckenweise ethnologischer Ton befremdet zuweilen durchaus. Die Rasse der Algerier, so schreibt er, sei gleichgültig gegen den Geist. Stattdessen verehrt und bewundert sie den Leib. Er ist die Quelle ihrer Kraft wie ihres naiven Zynismus. Er spricht von der sympathische[n] Naivität dieses Handelsvolkes und sogar vom geistlosen Volk, meint dies jedoch, wie oben erläutert, nicht pejorativ. Dieses ganz und gar gegenwärtige Volk kennt keine Mythen und keinen Trost, es kennt keine trügerische Gottheit die Zeichen der Hoffnung oder der Erlösung geschrieben hat. Zwischen diesem Himmel und den zu ihm aufblickenden Gesichtern ist kein Platz für eine Mythologie, eine Literatur, eine Ethik oder eine Religion, sondern nur für Steine, Leibe und Sterne und für Wahrheiten, die sich mit Händen greifen lassen.
Die Algerier sind nicht nur Statisten in diesem Sehnsuchts- und, vor allem, Selbstvergewisserungsort oder ‑land. Bei aller Sympathie und sogar Idealisierung bleiben sie ihm gleichzeitig fremd. Camus reist auch in andere Länder, natürlich Frankreich und auch nach Italien, diesem Land der Inzeste und sinnlich[n] Grazie mit einer Landschaft, deren Größe einem die Kehle zuschnürt. Aber es zeigt sich, dass hier diese Verschmelzung zwischen Erzähler und Ort, die jene Reflexionen und Assoziationen auslöst, zumindest in Italien nicht möglich ist. So wird er dort vielfach mit dem Katholizismus konfrontiert, genießt zwar einen lorbeerduftenden Klostergarten, lehnt aber gleichzeitig die christliche Tröstung vehement ab. Dabei entdeckt er ständig Belege für diese Ablehnung, etwa diesen grimmige[n], seelenlose[n] Blick des aus dem Grab entsteigenden Christus des Piero della Francesca. Und man liest auch pointierte, nicht immer schmeichelhafte Beobachtungen zu anderen europäischen Städten (Salzburg wäre friedlich ohne Mozart).
So kommt Camus stets zurück. Es gibt wunderbare Landschaftsbeschwörungen, kluge Bemerkungen über Schriftsteller und Werk, Betrachtungen zum Elend des Luxus oder über den Zusammenhang zwischen Nacktheit und Wildheit. Gebannt verfolgt man die Erzählung eines Boxkampfes (der Boxkampf, die »Corrida« der Existentialisten) in Oran, jenem Ort frei von Poesie, diesem Hauptsitz der Langeweile aber auf diesen Gestaden von Oran sind alle Sommermorgen wie die ersten der Welt und diese muss man erlebt haben. Oder eben Algier, diese Antipodenstadt zu Oran (die Bewohner Algiers und Orans befinden sich in einem tödlichen Streit), eine schlafwandelnde und wahnsinnige Stadt.
Die Mandelbäume der Vallée des Consuls und »unendliche Melancholie«
Hingerissen zwischen Natur und Stadt; Schönheit und Häßlichkeit. Camus’ Zivilisations‑, Geschichts- und vor allem Philosophiekritik ist insbesondere in den späten Erzählungen überaus stark ausgeprägt. Etwa seine Ausführungen zu Prometheus, für Camus eine Art Urvater. Wir (die Menschheit) haben, so die These, Prometheus verraten, der dem Menschen nicht nur das Feuer brachte, sondern ihn auch aus der Knechtschaft der Geschichte befreien wollte, denn die Geschichte ist unfruchtbarer Boden, wo kein Heidekraut wächst. Und wir haben das Feuer neu zu erfinden, die Wirkstätten neu zu erbauen, um den Hunger des Körpers zu beschwichtigen.
Die zeitgenössische Philosophie kommt bei ihm ebenfalls nicht gut weg: Wo Platon noch alles umfasste, den Widersinn, die Vernunft und den Mythos, besitzen unsre Philosophen nur noch den Widersinn oder die Vernunft, weil sie die Augen vor dem Übrigen schließen. Der Maulwurf meditiert. Das Christentum begann damit, die Betrachtung der Welt durch die Tragödie der Seele zu ersetzen. Doch wandte es sich zumindest an eine vergeistigte Natur und bewahrte so ein gewisses Gleichmaß (so Camus 1947).
Auch der Glauben an die Vernunft ist gescheitert, selbst Nietzsche ist überholt. Gott ist tot und so bleiben nur noch Geschichte und Macht. Aber das ist durchaus menschengewollt. Das Gegenmodell ist dann tatsächlich die Natur, freilich nicht in einem naiv-totalitären Rousseauismus. Camus erkennt in der Natur, in der Beschaulichkeit der Abende, die Dauer, welche die Menschheit der Welt im Laufe der Jahrhunderte amputiert habe. Natur setzt dem Irrsinn der Menschen ihre ruhigen Himmel und ihren Sinn entgegen. Und wie ist es mit der Moral? Ein bisschen schaurig wird es einem schon, wenn es heißt wir leben für etwas Höheres als die Moral.
Und immer wieder ist der Leser entzückt ob dieser Mischung zwischen Essay und diesen wunderbaren Bildern, etwa das geduldige, fast buddhistische Warten auf das Erblühen eines Mandelbaums mitten in der Stadt: Als ich in Algier lebte, geduldete ich mich den ganzen Winter hindurch, weil ich wusste, dass in einer Nacht, in einer einzigen kalten und reinen Februarnacht, die Mandelbäume der Vallée des Consuls sich mit weißen Blüten bedecken würden. (Camus beeilt sich darauf hinzuweisen, dass dies kein Symbol sei.) Und immer wieder spielt natürlich auch das Wasser, das Meer (dessen Kußgeräusche an den Felsklippen schlürfen und saugen) eine Rolle. Und im Frühjahr, wenn an den Stränden die Ahnung von Sommer und eine neue Ernte blühender Mädchen zu sehen ist. Die letzte Geschichte ist ein (fiktive?) Umrundung des südamerikanischen Kontinents mit – für diesen Autor ungewöhnlich – durchaus auch phantastischen Elementen.
Wunderbar das Erzählen über und mit Düften. DerSommergeruch der algerischen Erde, der herbe Geruch der Kräuter oder dieser Duftäther der Wermutbüsche, der zur Sonne steigt und den Himmel schwanken macht. Sogar die unendliche Melancholie des Autors duftet nach Meer und Regen. Und dann, ein wenig versteckt in diesem schwelgerischen, sinnlichen gelegentlich grüblerischen, aber niemals schweren Buch entdeckt der Leser den einsamen Erzähler Albert Camus, den liebebedürftigen – und den Liebenden. Das erinnert dann von Ferne ein wenig an die Kindheitsimpressionen aus »Der erste Mensch«, dieser über dreißig Jahre später nach seinem Tod 1994 in Frankreich (1995 in Deutschland) veröffentlichte, ein wenig autophile Roman, diese Vatersuche und Lehrerhommage, der die heftige Kindheit, die hier nur einmal zart angedeutet wird, auffächert und insbesondere die Selbsterziehung des stark autobiografische Züge tragenden Helden Jacques mit einer Mischung von Trotz, Demut und Stolz erzählt.
Und da ist dann noch so eine Sentenz, scheinbar beiläufig eingeworfen, die einem nicht mehr loslässt und lange Zeit mit sich trägt: Nicht geliebt zu werden ist nur misslicher Zufall, nicht zu lieben jedoch ist Unglück. Wir alle sterben heute an diesem Unglück. Da Camus keine Lebensratgeber geschrieben hat, verrät er nicht, wie man dieses Unglück abwenden kann. Man ahnt allerdings – nicht zuletzt aufgrund des Geschriebenen – dass es möglich sein muss. Das alles ist kein billiger Trost. Eher Arbeit.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Kein Film kann solche Bilder produzieren, die beim Lesen (Leseprobe und auch Ihre Rezension) vor dem inneren Auge auftauchen. Nach Ihrer Rezension habe ich den online gestellten Text des Arche-Verlags aufgeschlagen ( Hochzeit in Tipasa) und wenn nach sechs Seiten nicht Schluss gewesen wäre, ich hätte vergessen, dass der Tag nur 24 Stunden hat.
Ich würde liebend gern gleich viele Beispielsätze zitieren, aber das Buch muß am Stück gelesen werden, um die Zusammenhänge zu verstehen. Damit ein Satz wie dieser: „ Unter der Morgensonne wiegt sich ein großes Glück im Raume. Wie arm sind die Menschen, die Mythen brauchen.“ seinen Raum bekommt.
Daseinsursprung, Schicksal, Nähe zum Tod ( war Camus nicht lange Zeit Lungenkrank? Tuberkulose?), das lese ich aus Ihrer Buchvorstellung heraus. Und die Fülle zur Natur und sowie zur Sprache, eine wortgewaltige Prosa. Das gefällt mir ungemein!
Ein ganz neues Bild bekomme ich plötzlich auch von Algerien. Bisher assoziiere ich mit diesem nordafrikanischem Land fast nur Algerienkrieg, Fremdenlegionäre, französische Kolonie, Armut, Boatpeople.
Im Januar 2010 jährte sich der 50. Todestag des Schriftstellers und vielleicht gelingt es dem Verlag, mit dieser Neuauflage den Lesern Camus näher zu bringen ( ich habe schon mal angebissen :) ). Mit Ihrer wunderbaren Rezension hat der Verlag auf jeden Fall ein Schnäppchen gemacht!
Ich glaube, das Algerien Camus’ ist nicht mehr das heutige Algerien. Damals war es ja noch eine französische Kolonie; es erlangte offiziell erst 1962 die Unabhängigkeit (da war Camus schon zwei Jahre tot).
Hier ein paar biografische Informationen über Camus und sein politisches Engagement in Bezug zu Algerien.
Der Trost des Untröstlichen
Für mich eines der Bücher. Ich hatte es mal, und das war nur Zufall, in einer Periode in die Hand bekommen, als es mir sehr schlecht ging. Ich würde wirklich behaupten, das Buch hat mir geholfen, in einem überhaupt nicht recht abgrenzbaren Sinne.
Es liegt heute wieder neben meinem Bett. Immer mal, wenn ich nicht lange, nichts »Richtiges« lesen will, sondern nur ein paar wohl tuend richtige Sätze aufnehmen, greife ich dazu.
(Und nein, das heutige Algerien ist ein ganz anderes. Der große Reiz von so etwas wie einer doppelten Kultur ist praktisch verschwunden. Mir ist seinerzeit aber auch klar geworden, wie sehr das um kulturelle Konnotationen »erweiterte« Bewusstsein die Orte oder ein ganzes Land mitbestimmt, mehr als ein vordergründiges, verallgemeinerbares »Image«. Die auch von vielen Algeriern mittlerweile heute als Irrtum erkannte »Reinheit« ihres Landes ist eine Verarmung.)
Ich habe es auch ein bisschen in Parallelität zu Handke und »seinem« Serbien gelesen...
Ist sicher nicht ganz falsch...
zumindest in dem Sinne, wie »historisches« Land sich oft in utopisches Land verwandelt, und umgekehrt: Einem Ort muss man anscheinend immer eine Kraft zum Heil oder zur Synthese zuschreiben. Sicher könnte man dann überhaupt einen Teil der Literatur unter diesem Aspekt lesen.
...ja, diese Kraft zum Heil...einen Ausdruck, den Camus ja dezidiert verwendet.
@Gregor Keuschnig & @en-passant
Ja, das ist wahr, das Algerien von heute ist ganz sicher ein anderes Land als zu Zeiten Camus oder Rimbaud. Für mich ist dieses Land sehr „weit weg“, da liegt mir Südafrika oder Ruanda, nicht wegen der Negativschlagzeilen, näher. Ich habe einiges an afrikanischer Literatur gelesen ( u.a. Achebe, Machfus, Emecheta ...) Algerien ist nicht dabei. Und Wikipedia nennt unter der Rubrik Kultur nur die Begriffe Sport und Homosexualität ( Bitte! Mehr gibt es nicht an Kultur in Algerien? Ein „trauriger“ Algerieneintrag in der freien Enzyklopädie). Algerische Literatur habe ich dann unter einer anderen Adresse gefunden, jedoch für mich nichts bekanntes dabei.
Über das Buch und die Lektüre „Hochzeits des Lichts“ freue ich mich. Ich kann mir gut vorstellen, nach obiger Vorstellung, dieses Buch auch in nächster Nähe aufzubewahren. Ich habe ein paar wenige Schriftsteller und deren Bücher, die ich unheimlich gerne wieder in die Hand nehme und darin lese, auch wenn es zum x‑ten Mal ist. Mir geht es da besonders so bei Borchert, Hagelstange und Aitmatow, bei der neueren Autorengenerationen auf jeden Fall Martin von Arndt ( z.B. Der 40. Tag vor Sophienlund) oder die Bücher von Joachim Zelter. Aus dieser Literatur strahlt irgendetwas heraus, was ich bei anderen Schriftstellern beim Lesen nicht so empfinde. Und nun stösst vielleicht Camus dazu. Ich werde es bei Gelegenheit schreiben.
@lou-salome
würde nur gern den Rimbaud rasch etwas anderswohin sortieren wollen, und zwar sowohl zeitlich (er lebte während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), als auch geographisch eher in die Richtung östliches Nordafrika: Äygpten, heutiges Dschibouti, Mogadischu... bis nach Aden.
Und nein, Algerien wird man unter den kulturell die Welt bereichendern Ländern wohl so rasch nicht finden: Da wird zu früh immer gleich zu radikal abgeschnitten. Und das Unvermögen etwas Herausragendes hervorzubringen wurde eine lange Zeit – vor der Phase religiösen Hirnwäsche – auch noch mit sozialistischem Gleichschaltung gerechtfertigt. Deswegen sind sie heute so stolz auf ihre Fußballer und ihre Rap-Sänger: Die kann dann jeder Algerier lieben. (Mmh. Klingt aber jetzt böser, als es von mir gemeint ist.)
und @G.K.
Man darf aber nicht vergessen, dass Camus in Algerien geboren wurde. Was bedeutet, er kann nicht nur, sondern hat auch das Recht ganz anders darüber zu schreiben. (Sowohl als die ewig ihrer Verlorenheit hinterher reisenden Europäer als auch die sich gern schon deswegen überlegen fühlenden Autochthonen – die dadurch, durch oft ausschließlichen bezug, doch oft provinziell bleiben: Es fehlt ihnen vielleicht wesentlich diese Ablösung, schmerzlich, warum auch immer, von ihrem »heilen« Ort.)
Dazu kommt, dass die »pieds noir« (die von Franzosen abstammenden Afrikaner) ein wahrhaft tragisches Schicksal haben, entwurzelt sind wie – und die Analogie scheint mir nicht zu weit gegriffen – sonst nur noch die Juden. Ich denke, das stellt auch Camus’ Denken in eine ganz andere Perspektive, bis hin zu den Aspekten des bei ihm prominenten Griechentums: Das nicht nur Schul- oder Lehrweisheit. So wie es auch sein Schreiben auf einer zeitlichen Ebene etwas (nicht nur den seinerzeit skandalisierten Zeitbezügen) »entrückt«.
Oja, darin liegt der Unterschied: Camus wurde in Algerien geboren, d. h. die Verbindung ist dann doch eine andere, intensivere (vielleicht) als bei den sich eher anverwandelten Sehnsuchtsorten (wobei Handke auf sein Kärntner Slowenentum hinweisen könnte; das der Mutter und des so verehrten Großvaters). Das Wort Heimat fällt ja auch.
Dennoch glaube ich, dass es das von Camus beschriebene (erzählte!) Algerien so nie gab. Es war immer auch Projektion (ein schreckliches Wort, wie auch vielleicht eine schreckliche Unterstellung?) einer Sehnsucht, die durch politische und soziale Umstände immer eine Utopie blieb (wie so vielen afrikanischen Ländern ging es ja der Masse der Algerier nach der Unabhängigkeit nicht wesentlich besser, auch wenn es gerade dort das so verheißungsvolle Öl gibt). Camus hat sich im Gegensatz zum früh desillusionierten Erwachsenen sonst, dessen Kinder-Utopien und –Orte so schnell einem öden Realismus buchstäblich zum Opfer fallen, diesen »naiven« Blick erhalten, ja, ihn beschworen.
@en-passant
Oh jo, ich danke für die geografische Richtigstellung! Aden habe ich im Kopf und nach Algerien gesteckt.
Zeitlich habe ich mich nicht schön ausgedrückt – Rimbauds Biografie kenne ich ( Yves Bonnefoy).
LG l‑s
#9
Beschwörung – ja. Aber wäre nicht das Erzählen auch das fällige „Begründen“, in einem empathischen, dann so oft diese Erzähler als Nationaldichter vereinnahmenden Epischen? Ich hatte sogar gerade hier an Handke denken müssen, an dessen anti-rationalistischen Zug seiner Epik.
Ich kann es nicht wirklich mit Bestimmtheit sagen, weil meine Kontakte nach Algerien nicht mehr sehr aktuell sind. Aber ich glaube, es gibt da im unterströmigen Langzeitdiskurs (zumindest an den Universitäten) es gewisses Rückholen Camus’ – und das nicht nur, weil kein anderer da ist – während er vorher eher eine Gegenfigur war, irgendwas eigen zu Behauptendes erst mal zu bestimmen.
Das Tragische an den Maghrebländern ist, wie all diese Regime seither politisch / finanziell / militärisch – heimlich oder umweghaft – doch von Frankreich gestützt wurden (werden). So bleibt Frankreich ein Dreh- und Angelpunkt, profitiert sogar davon, wirtschaftlich wie vom brain-drain dort. Der Kolonialismus, das ist mir überall in Afrika aufgefallen, ist höchst lebendig. Und von daher wäre eine epische Neu(be)gründung vielleicht weiterführend?
Ich weiss nicht, ob ich noch an so etwas wie »epische Neubegründung« glauben kann. Das kam ja auch beim Lesen des Odessa-Buches ein bisschen auf: Weg mit den »unheilvollen« Traditionen – hin zur...zum...ja, was? »Geist des Anfangens«? Daran wollten Sie auch nicht so recht glauben.
Die politischen Abhängigkeiten zum Kolonialland (die auch immer von den jeweiligen Machteliten in Afrika gesucht wurden) – ich bin nicht sicher, ob die Rechnung nicht schon längst zu Ungunsten der ehemaligen Kolonialisten ausfällt. Die Erwartungen, die man in »den Westen« – immer noch – setzt, kann dieser doch längst nicht mehr erfüllen. Die Eliten vor Ort haben meist auf ganzer Linie versagt (bis auf ein paar Ausnahmen wie vielleicht Ghana, Mali oder Benin). Algerien hat aus seinem Öl auch nicht das gemacht, was man hätte machen können. Stattdessen sah man sein Heil (!) in der FIS und als diese mittels demokratischer Wahler reüssierte, unterstützte der Westen diejenigen, die dieses Resultat nicht anerkannten.
Hochzeit in Tipasa
Das ist Literatur. Man arbeitet sich daran ab, muss es, liest wieder und wieder, spürt das Allgemeine im erzählten Erleben auf, die beide in einer Spannung zu einander stehen. Dass Camus nicht auf Deutsch schrieb, ist ganz und gar nicht selbstverständlich, und man möchte sich vor den Übersetzern verneigen. Und nach den ersten zehn Seiten, nach der Hochzeit in Tipasa, fragt man sich wozu man noch Romane lesen soll, wenn auf so knappem Raum alles Wesentliche zur Sprache kommt.
Der (1942 erschiene) Mythos des Sisyphos schimmert als eine Auffassung vom Leben, als eine Art zu leben, immer wieder durch: Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus (Pindar, dritte Pythische Ode), stellt Camus dem Mythos des Sisyphos voran.
Wir suchen weder Belehrung noch bittere Weisheit der Größe. Sonne, Küsse und erregende Düfte – alles Übrige kommt uns nichtssagend vor. Die Rückkehr der Ruinen, der behauenen Steine, der verlorenen Kinder in die Natur, und ihre Freude darüber, kann man als ein Misstrauen gegen das Behauene und das Behauen-werden werten, als befreites Leben. Es ist nicht leicht, der zu werden der man ist, und die eigene Tiefe auszuloten. […] Ich lernte atmen, ich ordnete mich ein und erfüllte das eigene Maß.
Ein Vorrang des Erlebens, des Un(ver)mittelbaren, Reichtum der mannigfachen und mannigfaltigen Erfahrung: Wie arm sind Menschen, die Mythen brauchen.[…] Wozu brauche ich von Dionysos zu reden, um zu sagen wie gern ich die Mastixkügelchen unter meiner Nase zerdrücke. […] Sehen! Auf dieser Erde sehen! – Wie könnte man diese Lehre vergessen? Wozu abstrakte Götter und Vorstellungen, wenn leben etwas ganz anderes bedeutet (anders in konkretem Sinn): Hingabe an Erde und Meer, den Duft der Wermutbüsche, und die Ermattung hinterher. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf, und brauche keine Maske: Es genügt mir, dass ich, geduldig, wie eine schwierige Wissenschaft, die so viel wichtiger ist als all die Lebenskunst der andern, lerne: zu leben.
Und auch das unbedingte ja zum Leben, das Camus im Mythos des Sisyphos als logisch nicht zu verneinen ansehen wird, kling herauf: [Ich] sage aus vollem Herzen Ja zu jenem Lebensstolz den diese ganze Welt mir einreden will. Keine Angst vor dem Genuss, dem Ergreifen der Welt, sie ist das Wesentliche und nichts jenseits von ihr.
Das Erleben verlangt das Vergessen um wieder neu entfacht zu werden, und das ist kein Grund zur Klage, sondern zur Freude; es verlangt, und es wird eine bestimmte Haltung zur Welt, die etwas anderes ist als Kunst und schöpferische Tätigkeit, die ebenfalls ihre Stunde hat – wie unsere Freiheit es will.
Die Ketten der Welt sind keine, zumindest keine die der Verachtung wert wären: in der kühlen Abendluft beruhigte sich der Geist, und der entspannte Geist genoss jenes innere Schweigen, das eine Frucht gestillter Liebe ist. Und da wo Betäubung, Ermattung und Satt-sein anklingen, fühlt man die Schwere (und ein wenig Unbehagen) die die Welt auch bedeuten kann, die aber auch annehmbar erscheinen, und dazugehören. Ich hatte meine Menschenpflicht getan und hatte einen ganzen langen Tag in Freude verbracht; und war mir so auch nichts Ungewöhnliches gelungen, ich hatte doch ergriffenen Herzens jenem Lebenssinn gehorcht, der uns bisweilen befiehlt glücklich zu sein.
Und Der Wind in Djemila spinnt den Ton gleich zu Beginn, etwas verändert fort: Es gibt Orte, wo der Geist stirbt um einer Wahrheit willen, die ihn verneint.
Sehr schön und stimmig
Ja, das ist wirklich Literatur. Du hast recht. Das ist im wörtlichen, emphatischen Sinne Welt-Literatur.
Ja, wirklich schön! Hätte es nicht annähernd so ausdrücken können.