»Kinder an die Macht«, »Kindermund tut Wahrheit kund« – an Bekenntnissen, das Kindische zu idealisieren, hat es nie gefehlt. Alexander Kissler, einst Cicero-Redakteur und seit kurzem bei der Neuen Zürcher Zeitung, sieht allerdings inzwischen eine zunehmende Tendenz zu dem, was er Infantilisierung der Gesellschaft nennt. Die »flächendeckende Bereitschaft, dem Kindermund allgemein höchste Weisheitsgrade zuzusprechen« habe, so die These, ein neues Niveau erreicht. Einher gehe dies mit einer Verklärung der Natur. Soweit dies die bunten Seiten von Illustrierten oder esoterische Ratgeber betrifft, mag man solche Rhetorik noch belächeln. Kissler sieht allerdings Belege dafür, dass die Infantilisierung bis weit in die Gesellschaft hineinragt, den Diskurs zunehmend bestimmt und letztlich der Politik als willkommenes Werkzeug für die Steuerung der Bevölkerung dienen könnte bzw. zum Teil schon dient. Denn: »Wer sich infantilisieren lässt, wird zum Objekt souveräner Instanzen, die mutwillig mit ihm verfahren.« Am Ende drohe nichts weniger als die Abkehr von den Werten der Aufklärung.
Ob es glücklich ist, dieses Buch mit den Ratschlägen und Erkenntnissen aus Rousseaus fiktivem Erziehungsratgeber »Émile« zu beginnen? Wie auch immer: Rousseau führe, so Kissler, »seinen Émile, in der Fiktion ein gesundes Kind aus wohlhabendem Elternhaus, zur Erkenntnis des Lebens hinaus in die Natur. Aufwachsen soll Émile im Dorf, nicht in der Stadt, in Einfachheit, nicht im Luxus, auf Wiesen, nicht auf Kissen, keusch, nicht lustbetont.« Kinder sollen nur eines sein: Kinder. Sie »müssen springen, laufen, schreien dürfen, so oft sie Lust dazu verspüren.« Auf keinen Fall sollen sie allzu schnell zu kleinen Erwachsenen werden. Wer ihnen zu früh die Kindlichkeit abtrainiert, verhindert ihre Entwicklung zum gesunden, zum ganzen Menschen. Wie bekannt, scheiterte Rousseau selber an seinem Ideal, in dem er seine Kinder in Anstalten steckte – falsch muss es, so der Autor, deshalb nicht sein.
Was Kissler umtreibt, ist die Vermischung der Sphären zwischen Kind und Erwachsenem. Er stellt klar: »Kinder sind keine Erwachsenen in Wartestellung, sondern Kinder. Erwachsene sind keine Kinder in größeren Kleidern, sondern Erwachsene.« Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber Kinder werden inzwischen früh zu erwachsenem Verhalten hin gedrängt. Unweigerlich fühlt man sich an Neil Postmans Warnung vom »Verschwinden der Kindheit« Anfang der 1980er Jahre erinnert. Postman warnte davor, dass das Fernsehen (das war damals der Buhmann) den Kindern die Welt der Erwachsenen vorzeitig, zu früh, überstülpe – mit fatalen Folgen für den später womöglich deformierten Erwachsenen.
Und heute? Ist es nicht eher so, dass sich die Erwachsenen zusehends re-infantilisieren? Sie heulen in Bambi-Filmen und pflegen die »Mythologie des Infantilen« beispielsweise durch die Idealisierung der Geschichte von Peter Pan, des Jungen, der nicht erwachsen werden möchte. Wer kennt nicht die Disney-Darstellung des Jungen mit den beiden Flügeln, der freudig mit seinem Zauberstab herumfliegt und Abenteuer besteht. Kissler erinnert an den Urtext von John Matthew Barrie. Dort ist Peter Pan mitnichten der brave Junge, sondern »ein ungeliebter Knabe«, der Reißaus nimmt und sich zum Totschläger entwickelt. In der Kinderwelt Peter Pans auf der Insel Nimmerland geht es alles andere als paradiesisch zu: »Die Anzahl der Jungen auf der Insel variiert natürlich, je nachdem, wie viele getötet werden und so weiter; und wenn sie erwachsen zu werden drohen, was gegen die Regeln verstößt, dezimiert Peter ihre Zahl…« Das ist ein Zitat aus Barries Buch; in den Disney-Adaptionen die die Popularität der Figur wesentlich beförderten und prägten, fehlen diese Grausamkeiten. Kissler folgert: »Eine Gesellschaft, die sich unter dem Banner Peter Pans lustvoll infantilisiert oder infantilisieren lässt, muss wissen, dass der Preis ewiger Jugend ewige Unmündigkeit wäre.«
Parallel mit dem Wunsch des ewigen Kindseins kann man die Anthropomorphisierung der Natur beobachten. In Bestsellern schwärmen Erwachsene, wie ihnen ein Schwein das Leben neu nahegebracht hat. Oder Journalist behauptet ernsthaft, dass Einzeller »bessere Krisenmanager« seien als die »Profis der Zentralbanken«. Die herbeigeholten Stellen dienen der Erheiterung des Lesers; eigentlich schenkt ihnen Kissler ein wenig zu viel Aufmerksamkeit.
Für die falsche Idyllisierung von Natur gibt es zahlreiche Beispiele. Etwa wie eine (inzwischen eingestellte) Kampagne des Nationalpark Harz, der Kindern Berti, den Borkenkäfer, nicht als Forstschädling sondern als willkommenen Gast vorstellt. Den Schwerpunkt legt Kissler auf die Verkitschung der Wiederkehr des Wolfs, dessen raubtierhafter Charakter schlichtweg ausgeblendet wird. Einher geht dies mit einem indoktrinierenden Ökologismus, wie beispielhaft an einem Kinder- bzw. Jugendbuch von Robert Habeck und Andrea Paluch gezeigt wird. Die heranwachsende Heldin dieses Büchleins ist natürlich Veganerin und Pazifistin und weiß »dass nicht der Wolf gefährlich ist, sondern der Mensch«. Wer das nicht akzeptiert, gehört nicht nur Peer-Group.
Kisslers Befund: »Infantil ist die Sehnsucht mündiger Erwachsener nach Unreife. Infantil ist die Weigerung, Grenzen anzuerkennen – zwischen dir und mir, Alt und Jung, Tier und Mensch.« Fast zwangsläufig kommt das Buch auf Greta Thunberg und die Jugendbewegung »Fridays for Future« zu sprechen, denn »2019 war das Jahr der zornigen Kinder«. Er spricht vom »Ernüchterungskompensationsbewegungen, die zum Sturm auf die Gegenwart blasen.« Die Erwachsenen, die mit Verzückung den zornigen Kindern applaudieren, bewahren sich damit ihre »Pubertät bis ins hohe Alter«. Die »wahrheitsliebende Prophetin Thunberg« wird zur Projektionsfläche für Erlösungssehnsüchte. »Man findet, was man sucht: die Bestätigung, wie richtig doch die eigene politische Position, wie wichtig der eigene politische Kampf sei.« Die Sakralisierung speziell der Figur Thunberg – u. a. von Kirchen, aber auch Politikern – soll jegliche Kritik an sie immunisieren, ja denunzieren.
Thunbergs verbaler Alarmismus, ihre rhetorische Kompromisslosigkeit, die sie heute noch zu einer Ikone machen, wird in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen nicht dauerhaft funktionieren, so Kissler. Denn ihre Weltsicht ist streng dualistisch. »Sie verdammt. Sie verwirft.« Fordert den Totalumbau von Gesellschaften. (Und das ohne jegliche demokratische Legitimation.) Ihre fehlende Expertise kontert sie damit, dass sie die Erkenntnisse »der Wissenschaft« umgesetzt haben möchte. Damit zeigt sie ein unvollständiges Bild dessen, was »Wissenschaft« ausmacht. Diese gibt es nur im Plural. Es gibt keine Einheitswissenschaft, sondern Wissenschaften, die falsifizierbare Erkenntnisse erzeugen. Alles gilt nur so lange bis zum Beweis des Gegenteils. Das unterscheidet Wissenschaften von Glaubensgemeinschaften.
Aber wie geht es weiter? Denn tatsächlich reagiert ja die Politik in einigen Ländern auf die Forderungen der FFF-Bewegung. Aber es ist eben nie genug. Thunberg und mit ihr die Bewegung müssen, so Kissler »das fortwährende Scheitern ihrer Bemühungen behaupten, um auf der Bühne bleiben zu können und nicht in die Kulisse gedrängt zu werden.« Sie »fordern«, »erwarten«, »verlangen« immer weiter.
Dass Aktivismus Extremforderungen erhebt, ist per se nicht verdammenswert. Kissler macht das auch nicht. Seine Einlassungen betreffen daher eher diejenigen, die die aktivistischen Forderungen ohne jegliche Kritik goutieren. »In irrationalen Ängsten werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene von Medien unterstützt«, so Kissler. Warum, so die berechtigte Frage, wurde Thunberg bei ihrer Rede vor den Vereinten Nationen nicht widersprochen? Und warum darf man als »alter, weißer Mann« einer ehemaligen Schülerin und ihren kruden Behauptungen (bspw. ihre Jugend zerstört zu haben) und ihren Maximalforderungen nichts entgegnen? Und wer liegt dies fest? »Erst wenn Rationalität nicht mehr als Kaltherzigkeit denunziert wird, hat Vernunft eine Chance«, so Kissler. Aber was, wenn Vernunft als Schwäche gilt?
Der Klimawandel ist eine dringliche und wichtige Angelegenheit, aber soll man »die mühsam errungene gesellschaftliche Übereinkunft, man müsse abwägen, differenzieren und alle Betroffenen hören« dafür schlichtweg aussetzen? Die demokratische Konsenssuche, das, was man Realpolitik nennt, muss hinter den aktivistischen Ansprüchen immer als unzureichend angesehen werden. Institutionen werden abgelehnt, weil sie Abläufe verlangsamen. »FFF« kennt nicht das Werben um Bündnisse, sondern nur Gut und Böse, Freund und Feind. Ein demokratisches Gemeinwesen lebt jedoch von funktionierenden Institutionen, die sich zum Beispiel gegenseitig kontrollieren und Auseinandersetzungen diskursiv bis zum Kompromiss führen. Wer dies aushebeln will – und dafür gibt es Indizien – negiert am Ende die Demokratie.
Kisslers Konzentration auf die Rhetorik der Bewegung blendet bisweilen die Notwendigkeit aus, die zum Teil berechtigten Anliegen mit den institutionellen Verfahren einer Demokratie zu synchronisieren und damit einzubinden. Der Siegeszug der 68er begann mit dem vieldiskutierten »Marsch durch die Institutionen«. Dieser war nur erfolgreich, weil sie anerkannt wurden. Diese Übereinkunft bröckelt gerade. Grüne Vordenker wie Ralf Fücks geraten ins Hintertreffen.
Oft fragt man sich, ob es sich weniger um eine Infantilisierung der Erwachsenen nicht eher um eine Adultisierung von Kindern handelt. Werden hier die Sorgen und Nöte von Kindern und Jugendlichen von Erwachsenen für ihre politische Agenda eingesetzt und wohlwollend von Medien reproduziert? So naheliegend eine Beschäftigung mit den Kindern der diversen Klimabewegungen auch sein mag – die Infantilisierung der Gesellschaft wird an anderer, weit prominenterer Stelle vorangetrieben: in der Politik.
Kissler belegt dies im weiteren Verlauf seines Buches sehr präzise, in dem er beispielsweise einige Redeausschnitte von Kanzlerin Merkel analysiert und bilanziert: »Die Sprache der Kanzlerin ist gekennzeichnet durch Armut im Ausdruck, durch wenige Verben, die ständig wiederholt werden, und durch eine große Vorliebe für Hilfsverben.« Das Vorbild ist das, was man »Leichte Sprache« nennt, »eine vereinfachte Form des Deutschen, die auch Menschen mit eingeschränkter Lesefähigkeit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen soll«, so die Definition der Dudenredaktion. Also ein ehrenwertes Ziel, um Teilhabe für möglichst viele Rezipienten zu ermöglichen. Aber wenn »Leichte Sprache« als Kommunikationsmittel im gesamten öffentlichen Raum zum Standard zu werden droht, wird es problematisch. Zwar konzediert Kissler, dass sich Merkel der Leichten Sprache annähere, »ohne komplett in diese zu verfallen«, macht aber Entwicklungen in Politik in Medien aus, in der jetzt schon »Sprache wie Bauklötzchen für Kinder« eingesetzt wird.
Das beginnt bei der willkürlichen Verkürzung von Namen, um einen besseren Wiedererkennungswert in der Öffentlichkeit zu erzeugen, setzt sich fort in der fast satirisch-verballhornten Kommunikation über neue Gesetze (»Gutes-Kita-Gesetz«) und endet in bombastischen »Wir«-Projekten – diese allerdings meist ohne Befragungen derjenigen, für die das »Wir« stehen sollte. Letzteres belegt Kissler bei den Reden von Bundespräsident Steinmeier, speziell zu Beginn der Corona-Krise, in der sich der Bundespräsident nicht nur als »Bürgerermutiger« gerierte (das ist seine Aufgabe), sondern auch um »Vertrauen« für die »Regierenden in Bund und Ländern« warb, weil diese ihre »riesige Verantwortung« kennen würden. Aber genügt das Wissen der Regierung um ihre Verantwortung, um ihr zu vertrauen? Kissler hält dagegen: »Eine Regierung kann sich Vertrauen ausschließlich durch bewiesene Kompetenz verdienen, nicht dadurch, dass sie sich zum Konzept einer vertrauensvollen Beziehung bekennt.« Und wenn am Ende der Rede der Bundespräsident Zuversicht beschwört, dann entgegnet der Autor: »Es trennt den Erwachsenen vom Kind, dass er sich Zuversicht nicht verordnen lässt…« Aber, so Kissler an anderer Stelle: »Des Argumentierens müde oder unkundig, greifen immer mehr Politiker zum direkten Gefühlsappell.« Und zwar, so möchte man ergänzen, nicht nur die sogenannten »Populisten«.
Das Vorbild, Politik in »Leichte Sprache« zu verpacken, führt zu Komplexitätsreduzierung zu Gunsten des kleinsten gemeinsamen Nenners. Wo Erwachsenensprache notwendig wäre, blüht die verkürzende und zumeist unvollständige Vereinfachung. Hinter dem betont einfachen, jegliche Komplexität vermeidenden Sprechen und der immer inflationärer verwendeten Duz-Anrede lugt das betreute Denken. »Leichte Sprache« jenseits der Zielgruppe wird zum Herrschaftsinstrument für alle. Mit ihr legt man auch fest, was opportun, was, wie es bei Botho Strauß heißt, »gebilligt« wird. Abseitige Meinungen und Vorgehensweisen werden als unzulässig, weil zum Beispiel diskriminierend oder ausgrenzend festgelegt und verworfen. Dies gilt auch für den universitären Bereich, in dem insbesondere in den geisteswissenschaftlichen Fächern die Zumutbarkeitsgrenzen auf den einfachsten gemeinsamen Nenner heruntergebrochen werden. So werden beispielsweise Klassiker »gereinigt«, mit »Trigger-Warnungen« versehen oder gleich verbannt. Das Ziel der Eiferer ist die »gereinigte Gesellschaft«. Sie sei »das nächtliche Gegenstück zur infantilisierten Gesellschaft und ohne diese nicht zu denken.« Da scheint das Wort von der »Generation Schneeflocke«, der man nicht mehr zumuten möchte, lange und kontroverse Texte zu lesen oder sich mit womöglich komplexen Sachverhalten auseinanderzusetzen, eher verharmlosend: die Schneeflöckchen können durchaus militant werden.
Am Rande interessant, dass Kissler der Versuchung, die »Leichte Sprache« mit Orwells »Newspeak« aus »1984« in Zusammenhang zu bringen, widerstanden hat. Das soll wohl bedeuten, dass wir noch weit entfernt sind von den Zuständen, die im dystopischen Roman beschrieben werden. Dennoch hätte man sich von ihm ein Kapitel über »Framing« gewünscht.
Von großer Resignation sind die Ausführungen über die Kirchen geprägt, die sich, wie Kissler richtig anmerkt, in Ermangelung des Glaubens an ihre eigene Botschaft zur Gewinnung neuer Besucher allerlei Gaukeleien bedienen. Da wird »gekuschelt und getanzt, geschlafen und gegessen, gerutscht und geschaukelt«, Minigolf gespielt und vor allem geklettert. Dabei reden ihre Repräsentanten lieber »von Klimaschutz, Islam und Amazonas als von Jesus Christus«. Nicht mehr die Kindlein sollen zu ihnen kommen – sie kommen zu den Kindern selber, um sich bereitwillig deren Idealen anzudienen oder, vielleicht besser: anzubiedern. Die ausgeführten Beispiele sind selbst für einen aus der Kirche vor langer Zeit ausgetretenen Agnostiker wie mich in dieser Ballung nur schwer auszuhalten.
Kissler bringt noch viele andere Punkte für seine Infantilisierungsthese an. Beispielsweise die Berliner Politik. Sein Urteil ist unerbittlich und verleitet den ansonsten besonnenen Autor zu bisweilen sarkastischen Kommentaren: »Wo das Infantile regiert, bleiben erwachsene Probleme liegen. Berlin leistet sich einen inoffiziellen Wettbewerb zur Frage, was denn schneller verfalle, Schulen oder Polizeidienststellen«. Manche seiner Fundstücke wirken allerdings ein bisschen aufgesetzt, wie etwa das Kapitel über das »Nudging«, sein Amüsement über »Cosplay« oder »Profimeerjungfrauenschwimmerinnen«, die Peinlichkeiten des Schauspielers Lars Eidinger oder auch die Kritik an E‑Scootern und Segways. Im Grunde rubriziert Kissler große Teile dessen, was man Eventindustrie nennt, in den Bereich des Infantilen, wobei er erstaunlicherweise die Gamer schont. Ob es nun wirklich ein Beleg für Infantilisierung ist, ob sich der Siemens-Vorstandsvorsitzende Josef Käser zu »Joe Kaeser« oder die Ministerpräsidentin Marie-Luise Dreyer zur »Malu« umbenennt? (Und wie ist es eigentlich mit Frau Wagenknechts »h«, dass irgendwann in ihrem Vornamen verschoben wurde?).
Das Buch hat 254 Seiten. Im Untertitel werden »Wege aus der selbstverschuldeten Unreife« angekündigt. Wer allerdings einen Ratgeber erwartet, wird enttäuscht werden. Nur sehr zaghaft gibt es einige Feststellungen wie »Der erwachsene Mensch vergisst nicht, dass er Kind war, aber er weiß, dass er es gewesen ist. […] Er hat keine Angst vor Ablehnung, weil er Grundsätze gefunden hat und eine innere Verfassung. Wenn er irrt, zerbricht er nicht. Wenn er vom Weg abkam, kann er umkehren.« Alexander Kissler hängt tatsächlich dem Ideal der Aufklärung an. Zwar gibt es Denkanstöße und Belege, aber den »Mut zur Erwachsenheit« muss man selber (wieder) erwerben. Der Autor macht hierzu Angebote, liefert Anschauungsmaterial, schärft den Blick. Und das in einem erwachsenen Ton. Nach der Lektüre von »Die infantile Gesellschaft« schwankt man zwischen Ernüchterung, Sensibilität – und Trotz.
Mit Rousseau zu beginnen, markiert auf jeden Fall die entscheidende Epoche, fällt in diese Zeit doch die Erfindung der Kindheit als eine von der Erwachsenenwelt getrennte Sphäre. Glaube, das hab ich irgendwo in der Pädagogik aufgeschnappt, dass vorher Kinder einfach als kleine Erwachsene angesehen und behandelt wurden.
Vielleicht hätte Kissler demnach auch so radikal sein sollen und das Kind mit dem Bade ausschütten, indem er diese Trennung als solche in Frage stellt. Als Vater und Beinahe-Lehrer hab’ ich mir einiges von Jesper Juul angetan – und jetzt gerade durchzuckte es mich, dass man dessen »gleichwürdige Erziehung« auch hiermit in Verbindung bringen könnte: viele der Erziehungsprobleme rührten daher, dass man Kindern nicht auf Augenhöhe begegne, ihre Bedürfnisse nicht wahrnehme. Für mich fängt das schon mit der Babysprache und ‑mode an. Dieser andere Tonfall, in den Erwachsene verfallen, wenn sie mit einem Kleinkind reden. Vielleicht bin ich da etwas überempfindlich, aber ich könnt’ da manchmal würgen: warum soll ich denn mit Kindern anders sprechen als mit Erwachsenen? (Kissler hätte gut auch die diese ganzen ELI5 Videos und Beiträge im Internet anführen können, wo es dann andersrum wäre. Nur ist das aus meiner Sicht nicht wirklich immer zu verurteilen: dahinter kann auch das Bedürfnis stecken ein Fachthema mal ohne die ganzen Fachtermini in Laiensprache vermittelt zu bekommen)
Manchmal habe ich den Eindruck, dass viel Frust der Kinder daher rührt, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen. Sie sind ja »nur« Kinder, noch unmündig. Also man könnte es auch in die andere Richtung drehen: dass man sich gegen die »Infantilisierung der Kinder« ebenso zur Wehr setzen solle.
Das Thema als solches liegt sicherlich auf der Hand. Schon an der Mode oder am Computerspielverhalten, könnte man festmachen, dass gegenwärtig das Erwachsenendasein nicht mehr so getrennt wird vom Jugendlichsein. Und dass nicht so sehr vom rein äußerlichen der Fashion-Industrie, deren halbnackte Models mittlerweile aussehen wie 14, und die daher schon ein Fall für die Sittenpolizei sein sollten, sondern vom ganzen Verhalten, der Sprache, etc.
Die Frage ist nur, wie man das bewertet. Da ich die Errichtung der Kindheit schon kritisch beäuge, hab’ ich eher ’ne Tendenz es mit Schiller zu halten: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ – ob als Teenie oder als Erwachsener. Freilich ist Schillers »kulturelle Spiel« was andres als Fortnite zu zocken, etwas das alle Generationen wieder erlernen sollten.
Das wurde doch etwas länglich, dabei wollte ich doch an den Verfasser »nur« eine kurze Frage stellen: Wogegen sich der Trotz des letzten Satzes richtet? Gegen Teile des Buches selbst oder gegen die im Buch geschilderten Verhältnisse – oder beides?
Danke für den Kommentar. Ich erinnere mich an eine weitschweifende Verwandte, die ihrem 6jährigen Jungen erklärte, dass er zwischen den Beinen einen »Penis« habe. Instinktiv fand (und finde) ich das unangemessen. Wenn man die Kinder zu schnell an das Erwachsenenleben und vor allem ‑denken heranführt, finde ich das übergriffig. Ich weiß, dass das eher spießig klingt. Aber es hat auch etwas von Übergriffigkeit, ein Kind wie einen Erwachsenen zu behandeln, ihn womöglich mit 14 oder 16 wählen zu lassen, gleichzeitig aber bspw. Jugendstrafrecht bis weit über 18 hinaus anzuwenden. Aber ich schweife ab.
Der Trotz, dem ich nach der Lektüre verfallen war (bin?) liegt einfach darin, die von Kissler beschriebenen Phänomene nicht als reine Spielerei abzutun, sondern zu bemerken und wenigstens für mich anschaulich zu halten. Dazu gehört so etwas wie die Stelle in Merkels gestriger Regierungserklärung, die eine Anthropomorphisierung des Virus (von einer Wissenschaftsjournalistin) einband. Das ist wahrlich eine Infantilisierung. So redet man mit Kindern. Der Trotz besteht darin, das zu sagen.
Ich habe ein paar gut geschriebene Artikel von Kissler gelesen, aber das Buch finde ich unsäglich. Die Entwicklungspsychologie ist schon viel weiter. Die Stufen zur Reife sind deutlich mehr als nur Eine... Kind. Wird erwachsen. Ende. Ich weiß gar nicht, wie ein intelligenter Mensch sich auf dieses schmale Etiketten-Bündel festlegen kann.
Ich habe gestern ein Interview mit Susanne Dagen angehört, (und bevor jemandem ein Furunkel aufreißt, ja, ich weiß...), aber sie sagte etwas Ungewöhnliches. Auf die Frage nach dem Links-Rechts-Schema im Kulturbetrieb, war die Bemerkung: Es sind eher die Kategorien Abhängigkeit-Unabhängigkeit, die sowohl wirtschaftlich als auch weltanschaulich zu begreifen sind.
Und das erinnerte mich wiederum an den hartnäckigen Feldzug von Jordan Peterson, der die berühmte Schweigespirale (Nölle-Neumann) als Anpassung der Mittelschicht an die verschiedenen Organisationsformen deutete. Allen voran in ACADEMIA, wo sich mindestens die Hälfte des Personals kein politisch offenes Wort mehr leisten mag.
Will sagen: weder die Psychologie noch die Machtverhältnisse sind mit diesen zwei simplen Kategorien Kindheit/Reife zu knacken...
Die Ideale der Aufklärung sind völlig überbucht. Wollt ihr die totale Unabhängigkeit?! Wollt ihr die totale Selbstbestimmung?! Dann seid ihr nicht mehr gesellschaftsfähig. Misfits!
Die Zeichen der Zeit sehe ich natürlich: das Stammel-Deutsch der Kanzlerin, die Heroisierung von Kindern und Halbwüchsigen, der Selfie-Narzissmus der jungen Frauen, der Manichäismus in der Politik, die Verstaatlichung der Kindheit, etc.
Wer wollte nicht schleunigst erwachsen werden auf dieser Kirmes?!
»Kinder werden inzwischen früh zu erwachsenem Verhalten hin gedrängt.« Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe soziale Erfahrungen in den letzten Jahren in Japan gemacht, weniger in Europa. In Japan bedeutet »erwachsenes Verhalten« sich ständig Stress auszusetzen, zunächst in der Schule durch ständige Tests. Die Schulreisen werden landesweit nach Tokyo-Disneyland unternommen. Und die Studenten fahren zum Abschluß neuerlich dorthin, es gibt dafür Angebote des universitätseigenen Reisebüros. Als ich kürzlich eine Studentin fragte, was ihr hier in Hiroshima fehle, sagte sie, es gebe leider keine Vergnügungs- und Themenparks. Als ich nachfragte, welche Themenparks, sagte sie, Disneyland und Universal Studios.
Die Ökologie betreffend scheint mir, daß Gregor K. zweierlei unterschätzt: Erstens die Dringlichkeit der Probleme, die durch Real- oder Bündnispolitik im bisherigen Sinn womöglich nicht mehr zu lösen sind – und es geht, ganz nüchtern gesprochen, um das Weiterexistieren eines bewohnbaren Planeten. Zweitens, daß Jugendlich sich eben um ihre Zukunft sorgen. Sie werden in vierzig Jahren noch leben, sollen dann Entscheidungsträger, Erzieher usw. sein. Unsereins weilt da schon längst in den ewigen Jagdgründen. Die heute Jungen werden, wenn es global so weitergeht, keinen bewohnbaren Planeten mehr haben.
In Japan hat Thunberg übrigens wenig Gefolgschaft. Schule schwänzen – OMG, wie soll man da den Eintrittstest für die nächste Schule, die bessere Uni usw. bestehen?! Japan, fürchte ich, ist der Vorreiter: Infantilisierung und deformierte, selbstrepressive »Vernunft« des Erwachsenseins – gleichzeitig.
Ob all die beschriebenen Phänomene unter Infantilisierung zu verbuchen sind, wird in der Rezension mit Recht bezweifelt, scheint mir. Warum nicht unter Verdummung & Vereinfachung? Und kommt der Einfluß von Digitalisierung und Sozialmediatisierung im Buch gar nicht vor? Die unendliche Serie von YouTube-Kindereien? Die Tatsache, daß zahllose »Youtuber« höchst erfolgreich sind und hohes soziales Ansehen genießen? Die fatale Wirkung der SM auf Meinungsbildung? Die Manipulierbarkeit der Verdummten?
Naja, es ist schon sehr merkwürdig, wie einer damals 15jährigen Schulabbrecherin inzwischen eine ganze Horde »weißer, alter Männer« hinterherläuft. Ich glaube ja auch nicht, dass die Infantilisierungs-Diagnose immer stimmt. Hier ist es eher eine Adultisierung des Kindes bzw. der Kinder, vielleicht aus schlechtem Gewissen gegenüber einer Generation – warum auch immer.
Die Ideale der Aufklärung können sich nur entwickeln, wenn so etwas wie eine Gesellschaft überhaupt existiert. Hierin liegt das Problem: die Aufklärung erschuf das Individuum, welches inzwischen zum Fetisch wurde. Man kann das in der Pandemie sehr schön (naja, eher gruselig) beobachten: Jeder achtet primär auf sein Wohlergehen bzw. das Wohlergehen seiner »Gruppe«. Alles andere wird ausgeblendet. Dass soziale Medien, die Menschen eigentlich verbinden könnte, hier verstärkt spaltend wirken, ist eine Pointe. Die Aufklärungsideale funktionieren nur, wenn die Gesellschaft bereit ist, diese für sich und alle anderen zu akzeptieren. Linke wie Rechte torpedieren aus ihren jeweiligen Stellungen heraus dieses Ansinnen. Sie haben – jeder für sich – immer nur Böse und Gute. Und das ist schlichtweg – kindisch.
@Leopold Federmair
Richtig, auch diese Youtuber und Influencer, für die die Welt nur Konsum ist, kommen nur am Rande vor. Im übrigen attestiert der Autor den klimabewegten Jugendlichen durchaus hehre Ziele und nimmt ihnen nicht das Recht, sich zu sorgen. Was er m. E. zu recht kritisiert, ist die fast religiöse Inbrunst mit der dies in Medien goutiert, nicht befragt und einfach übernommen wird. Ja, man hätte es auch Verdummung nennen können.
Als praktizierender Infantilist erlaube ich mir, den Autor in einem Detail zu korrigieren: Peter Pan ist auch in der Disney-Darstellung nicht »der Junge mit den beiden Flügeln, der freudig mit seinem Zauberstab herumfliegt und Abenteuer besteht«. Flügel und Zauberstab gehören vielmehr zur Fee Tinker Bell (im Deutschen: »Naseweis«), die mit ihrem glitzernden Feenstaub Peter Pan und anderen das (flügellose) Fliegen ermöglicht...
Oje, ich habe gefehlt... Ikonografisch kam mir das immer anders vor.
@Keuschnig #2: Diese Stelle stößt mir ähnlich übel auf wie Ihnen. Nicht nur die metaphorische Schieflage, das Virus zu einem Gesprächspartner mit Absichten und Plänen werden zu lassen (da hat das »egoistisches Gen« leider schon die Vorarbeit geleistet), sondern auf so kleinem Raum versammelt sich auch: der Versuch ein »Wir«, gar der ganzen Menschheit, zu beschwören und den Leser/Zuhörer miteinzuschließen während doch eine seichte, paternalistische Bevormundung das Ziel ist.
Für mich war das ganze aber auch ein bisschen Déjà-vu: woran mich dieser ganze Ton, Vortragsstil, peinliche Salbader gemahnte ist die Kirche. Vielleicht scheint dort tatsächlich die elterliche Prägung als Pfarrerstochter durch. Für mich schien’s jedenfalls unverkennbar der Duktus einer (miesen) Predigt, bei der man von der Kanzel noch ein bisschen seine Schäfchen tätschelt. (Kein Wunder, dann das manche aufbegehren und sich nicht als Covidioten beschimpfen lassen wollen)
@Phorkyas
Kissler bringt eindrückliche Beispiele für Merkels Sprache und schließt durchaus auf absichtsvolles Handeln. Und ja, die Kirchen...
@Leopold Federmair
Mir ist noch eine Ergänzung eingefallen: Die Infantilisierung bzw. Verdummung ist ja längst kein Phänomen der sozialen Medien mehr. Daher hat Kissler das auch nur am Rande noch bearbeitet. Es ist längst eingesickert in den Medien-Mainstream der großen Zeitungen und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Genau darum geht es primär: Wandel durch Anbiederung (um eine politische Programmatik abzuwandeln).
Greta Thunberg und der Wolf
Das Problem mit der Greta Thunberg ist nicht, dass die sich engagiert, sondern dass sie alarmistisch auftritt und sehr kenntnisfrei über Zusammenhänge redet, die zu durchdringen ihr nicht zuletzt die formale Qualifikation fehlt.
Sie macht, um auf einen ihrer Fehler konkret einzugehen, häufig ein Gleichheitszeichen zwischen Wissenschaft und – ihrer alarmistischen Sicht auf die Erderwärmung. Sie versteht nicht, dass man trennen muss zwischen methodischen Fragen und Bewertungsfragen. Muss; – trennen muss, denn ohne diesen methodischen Unterschied gibt es keine vernünftige Indienstnahme von Wissenschaft. Kissler sieht im Zitat oben das Problem, verortet es aber im Kontext der Unabschließbarkeit des wissenschftlichen Prozesses, der hier partiell irreführend ist, denn viele wissenschaftliche Bereiche sind aus praktischer Sicht durchaus in befriedigender Weise abgeschlossen (die Baustatik, die Hydraulik, die Newton’sche Physik etc. – auch die Schulmathematik). Andere Bereiche sind nicht abgeschlossen – manche sowieso unabschließbar (cf. Enzensberger – Rebus), auch das kapiert die Greta Thunberg nicht (nicht hinreichend?). Das macht sie dann unduldsam und nährt ihre Panik (cf. der Typus des ewig unzufriedenen Teeanagers als – soziales, ne – Perpetuum mobile). Und der Wolf als dessen allerneustes Wappentier.
@ Gregor Keuschnig und Phorkyas
Angela Merkels Bezugnahme auf eine metaphorische Betrachtungsweise des CO-19-Geschehens durch eine ausgewiesene Wissenschaftlerin ist der umgekehrte Fall der Greta-Problematik. Denn nun wird aufgrund erheblicher Kenntnissse und einiger Sprachkompetenz eine metaphorische Komplexitätsreduktion vorgenommen. Wenn einem das nicht passt – müsste man insbesondere sagen, in welcher praktischen Hinsicht, wie ich finde. Denn der Kanzlerin ging es – gerade auch an dieser Stelle – um die Plausibilisierung praktischer Maßnahmen – also um konkretes Regierungshandeln und: Um die Bereitschaft der Staatsbürger, an die sie sich wendet, das eingeforderte Distanzierungsgeschehen diszipliniert mitzutragen. Ich finde übrigens, daran sei an sich nichts auszusetzen.
Ob die Autorin des Virus-Textchens eine Wissenschaftlerin ist oder nicht spielt keine Rolle. Es ist in jedem Fall eine Infantilität, die den Rezipienten in den Kindergarten schickt. So kann man Kleinkindern die Sache erklären und dann ist das in Ordnung. Ich erwarte von einem Regierungschef etwas anderes.
Bin verwirrt: Kissler partiell irreführend, weil Newton korrekt, aber Greta simplifiziert Forschungs-Ergebnisse durch alarmistische Bewertung...
Da leg’ ich noch einen drauf: hochbegabter Physiker im Kanzleramt leitet 2012 in Absprache mit 5 Theologen und 1 Vertreter der Industrie beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie ein...
Thema Vertrauen: Ich finde, Merkel wie auch beispielsweise Söder tun recht daran, bei Entscheidungen mit hoher Ungewissheit die Karte »Vertrauen« auszuspielen. Für mich ist die Messe allerdings gelesen, nach 2012 (s.o.) und 2015.
Vielleicht brauchen wir eine neue politische Entscheidungstheorie: was muss ich wissen, um anderen die Hölle heiß zu machen (siehe, Greta! Antwort: gar nichts...). Was muss ich wissen, um wichtige Schritte für eine Energiepolitik der Zukunft zu unternehmen (siehe Angela! Antwort: gar nicht viel, Hauptsache, die anderen wissen noch weniger als ich...).
@ Gregor Keuschnig wg. des von Angela Merkel vorgetragenen Zitats einer metaphorischen CO-19-Bemerkung der solide ausgebildeten promovierten Chemikerin und erfolgreichen Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim und
@ Sophie wg. Vertrauen
Ich bleibe sozusagen gegenbeweislich mal allein auf der ästhetischen Ebene und sage – ja, ich verstehe den persönlichen Vorbehalt, den Sie, Gregor Keuschnig, hier gegen Frau Merkels Regierrungserklärung äußern.
Freilich: Die Kanzlerin richtete sich mit ihrer Rede an alle Deutschen. Ich sags mal mit dieser Metapher:
Eine solche Regierungserklärung ist wie ein Personenzug, und da sind z. B. auch Behindertenplätze drin.
- Also: Da Angela Merkel will, dass alle sich so verhalten, wie sie es beschreibt, zitiert sie eine CO-19-Metapher, die leicht zu verstehen ist und sich selbst kognitiv und ästhetisch weniger gut durchtrainierten Zeitgenossen intuitiv erschließt und auch bei denen via Vertrauensbildung handlungsleitende Kraft entfaltet. Darunter vermutlich nicht wenige unserer muslimischen Mitbürgerinnen, wie ich aus Erfahrung weiß, aber auch alle möglichen anderen Leute, die es oft so genau sowieso nicht wissen wollen.
Es ist klug, wenn eine Regierungschefin auch diese (vermutlich insgesamt größte) Gruppe der Deutschen Staatsbürger in einer Regierungsansprache mit bedenkt.
- Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, wie umstritten es innerhalb der Fachwelt ist, basale Aspekte des Infektionsgeschenes korrekt zu benennen und einzuordnen. Gerd Gigerenzer hat dazu z. T. stupende Befunde – : – Ganze wissenschaftlich gebildete Berufszweige, die im Hinblick auf basale Zusammenhänge in ihrem (!) Fach wie die organisierte fachliche Inkompetenz erscheinen. Gerd Gigerenzer ist neben X Y ein weiterer der ragenden Gegenwarts-Versteher. Beide können mit quantitativen Verfahren (statistischen Methoden) perfekt umgehen. Das ist eine leider stiefmütterlich behandelte Kernkompetenz beim Verständnis moderner Lebensumstände. Das weiß ich nicht zuletzt von Mai Thi Nguyen-Kim-Leiendecker (ok – geschummelt – aber nur ein ganz klein wenig, eigentlich).
PS @ Sophie wg. gelesener Messe
Yep, für Sie mag das stimmen, aber – in echt, wie wir als Kinder gerne sagten, geht dagegen alles immer wieder von vorne los. – »Ob Wiederholungen so etwas Schlechtes seien,/ wisse er nicht genau. / Ohne Zwangsvorstellungen / gebe es keine Arbeit. – (....) Ende der Abschweifungen.«
Ja, klar, Merkels Ansprache geht an alle. An alle Erwachsenen. Nicht an Kinder. Im übrigen waren ihre anderen Ausführungen auch nicht gerade Universitätsjargon. Man kann das verstehen, wenn man es will. Auch ohne die Anthropomorphisierung eines Virus.
Die Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim ist promoviert, hat in Harvard studiert. Alles schön. Für ihren Youtube-Kanal sind solche Gleichnisse angemessen. Für eine Regierungschefin nicht.
@Kief: Der Verweis auf die Qualifikation der Bundesverdienstkreuzträgerin ist doch bloß das rhetorische Mittel des Verweises auf Autorität. Das verfängt hier wenig. Im Übrigen kann man Mai Thi Nguyen-Kim schätzen, so wie meine Frau und ich, und trotzdem ihren Textschnipsel missbilligen – gerade als Wissenschaftler. Interessanterweise spielte ich meiner Frau diesen Ausschnitt vor und ihre spontane, erste Reaktion war: Die spricht ja wie mit einem Kind.
Die wohlmeinende Absicht erkennen wir an, es ist nur »und wenn sie auch
Die Absicht hat, den Freunden wohlzuthun,
So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«
Ich bestreite ihre gleichsam diskurs-ästhetischen Einwände nicht grundsätzlich, Phorkyas und Gregor Keuschnig.
Was Sie meiner Meinung nach freilich nicht hinreichend berücksichtigen ist, dass es auch unter den Wahlberechtigten Erwachsenen massenhaft schwache Köpfe und schwache Gemüter gibt. Und die sind alle gleichwohl ansteckend, und sollen überzeugt werden, sich angemessen zu verhalten, so Frau Dr. Merkel.
Bon, ich kehre nochmal zu der Frage zurück, ob sich die Kanzlerin durch die Applikation dieser Mai Thi Nguyen-Kimschen – - Metapher – - der Kindsköpfigkeit im Sinne Kisslers schuldig gemacht habe? – Nun, ich meine, diese Frage mit ja zu beantworten bedeute, Frau Merkel etwas anzukreiden, was doch eine Stärke sei: Sich nämlich bei der Wahl der Worte einer Regierungserklärung z. B. nicht allein von den je eigenen ästhtetischen und kognitiven Neigungen leiten zu lassen, sondern auch die Perspektive von Menschen einzunehmen, die den eigenen Geschmack und die eigenen Präferenzen auf dem Feld der »feinen Unterschiede« (Pierre Bourdieu) nicht durchgängig teilen. Es ist, ich wiederhole mich, klug, und ich füge hinzu: Keineswegs regressiv oder kindisch, wenn eine Regierungschefin das ganzen kognitive und emotionale Spektrum ihrer Zuhörerschaft anspricht, – solange sie dabei nichts wissenschaftlich Falsches sagt. Was weder sie noch Mai Thi Nguyen-Kim tat, da sind wir uns vermutlich einig.
Mit Friddarich, wie die Lauffener sagen, Hölderlin zu schließen, den Helle, wie die Ludwigshafener sagen, Kohl bekanntlich ganz großartig fand:
»Größeres wolltest auch du, aber die Liebe zwingt / all’ uns nieder (...).« – Derlei war es im Übrigen, was Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger und deren Adept Heiner Müller z. B. an der Demokratie nicht passte, ne?
Nur kurz und dann ist dieser Punkt hoffentlich erledigt, weil alle Argumente dargelegt: Die Metapher ist, um das klarzustellen, nur nach meiner Interpretation eine »Kindsköpfigkeit im Sinne Kisslers«. Im Buch kann es ja gar nicht auftauchen. Den konkreten Fall kann Kissler womöglich anders beurteilen.
Demnächst dann weiter in Kindergarten-Sprache von Onkel Steinmeier. Over and out.
>Es ist, ich wiederhole mich, klug
Da muss ich eines meiner Lieblingszitate von Schiller anbringen:
»In der That, sehr lobenswürdige Anstalten, die Narren im Respekt und den Pöbel unter dem Pantoffel zu halten, damit die Gescheiden es desto bequemer haben.«
Ich fürchte, Sie unterschätzen den Pöbel; der ganze Pegida, AfD-Sumpf nährt sich doch zu einem großen Teil aus der entschiedenen Ablehnung dieser »subtilen« Bevormundung durch Merkel oder die »linkssiffigen« Medien. Allein der Name »Mai Thi Nguyen-Kim« ist den Corona-Skeptikern doch schon ein rotes Tuch, so dass diejenigen, die das Zitat erreichen sollte, schon auf Durchzug geschaltet haben werden.
Manchmal wünschte ich mir auch der Paternalismus würde verfangen, wünschte zum Beispiel Merkels »Wir schaffen das!« als Antwort auf die Flüchtlings»krise« wäre anders aufgenommen worden. Dass die sanfte Bevormundung und Lenkung dort nicht zu einer Spaltung geführt hätte, sondern die Leute versammelt hätte im Guten. Wenn die Doku »Das Dilemma mit den sozialen Medien« recht hat, so ist die Form unserer Internetnutzung Schuld an einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, dass im selbstverstärkenden Sog unsres Newsfeeds wir unsere Positionen verhärten, radikalisieren oder gar ins verschwörungstheoretische Abseits geraten. Diskurs nicht mehr möglich – Mit der übermäßigen Smartphonenutzung hätten wir uns selbst in Skinner-Boxen gesperrt mit denen die vier Reiter der Technopolypse nun das menschliche Verhalten minen. Unser Bewusstsein reduziert auf Reiz-Reaktionsschema, die Verwirklichung der Matrix v0.98 beta?
Schon traurig, wenn man überlegt mit welchen Idealen des Teilens und der Teilhabe aller das WWW und auch die Blogs gestartet waren. Jetzt ist 2020 und ein Kleinkind ( https://www.youtube.com/watch?v=9P1IVQJdVvE ) regiert immer noch auf Twitter,.. um zumindest partiell beim Thema zu bleiben.
@ Phorkyas – oh, Schiller – nicht weit weg von Lauffen zur Welt gekommen!
Sie verrechnen die geistig eher schwachen mit den AfD-lern und sonstigen CO-19 Skeptikern, das scheint mir aber nicht richtig zu sein. Soziologisch gesehen sind die AfD-Wählerinnen überdurchschnittlich – kognitiv wie materiell. Ich meinte die kognitiv und materiell Unterdurchschnittlichen. Behinderte, Leute, die des Deutschen nicht so mächtig sind, usw. Ein paar Millionen immerhin, die Frau Merkel mit ihrer Ansprache an der inkriminierten Stelle eher erreicht haben dürfte – eben genau durch die Wahl ihrer sprachlichen Mittel, die Gregor Keuschnig, wie er nun bekräftigt, der »Kindsköpfigkeit« zeiht.
Naja, mir ist das Geraune mit Trump als Endprodukt einer Infantilisierung auch ein bisschen — langweilig. Am Wochenende lief eine dreistündige Doku auf phoenix, die die ersten rd. 400 Tage Trumps aus Sicht der New York Times und ihrer Journalisten spiegelte. Die Leute waren praktisch 24/7 mit Laptop, Smart Phone und Computer dauererregt. Was twittert Trump? Was hat er wann wo gesagt? Setzt man nicht besser doch ein »vermutlich« vor der Behauptung? Kann man jetzt sagen, er lügt? Wie ist das, wenn man dauernd von Lüge spricht – nutzt sich das nicht irgendwann ab? Egal, es geht weiter. Fast süchtig starrten sie auf ihre Endgeräte um irgend etwas herauszufinden. Wenn sie nichts fanden, war das eben die Nachricht. Schon klar, dass man die NYT-Leute als die Guten erkennen sollte, aber es war doch arg schauerkich zu beobachten, wie gefangen sie sind in dem eigenen Newsfeed, den sie produzieren. Dieser Stolz, wen sie etwas zehn Minuten bevor der Konkurrenz melden konnten... Sie taten mir erst leid, dann gingen sie mir auf die Nerven. Sie haben gar nicht mitbekommen, wie sehr sie sich auf Trumps Spielchen eingelassen haben. Und es geht immer weiter...
Gerade die »alten« Medien hätten die Möglichkeit, die Aufmerksamkeits- und Erregungsspiralen herunterzufahren. Sie machen aber längst das Gegenteil. Auch im Beschwichtigen reagieren sie nur. Zudem verwechseln die meisten Journalisten Meinung mit Fakten, raunen gar davon, dass es keinen faktenbasierten Journalismus braucht, sondern schwadronieren von »Haltung«. Damit treibt man die Leute in die Verschwörungsgruppen.
@Dieter Kief
»Kindsköpfigkeit« ist ein Zitat von Ihnen. Hier.
@ Gregor Keuschnig – das Zitat von mir haben Sie sich in Ihrem Kommentar No. 18 zu eigen gemacht – darauf hab’ ich mich bezogen. Für mich hängt aber nicht viel an diesem speziellen Ausdruck. Klar ist jedenfalls, Sie fanden die von der Bundeskanzlerin zitierte Metapher falsch im Sinne Alexander Kisslers – das genau hab’ ich oben sowieso geschrieben gehabt: »Im Sinne Kisslers«, also als Beispiel einer infantilen oder emt infantilisierenden Sprachverwendung. Ich habe nicht behauptet und auch nicht gemeint oder geschrieben, dass Kissler dieses Beispiel im Buch behandelt habe. Es wunderte mich ehrlich gesagt, dass Sie meinten, diesen Punkt thematisieren zu sollen. Aber gut.
@#21: Das war genau der Sinn des verlinkten Beitrages, bzw. meines Einwurfs: Schon 2016 hieß es da alternativ formuliert: »Don’t feed the troll!« – aber es war schon damals abzusehen, dass das nicht verfangen würde. Mehr möchte ich über »him who must not be named« auch nicht mehr an Worten verlieren.
@#20 Kief: das muss ich erstmal gelten lassen. Aber Sie werden verstehen, dass so mancher dann nostalgisch sich einen Kanzler oder eine Zeit wie Brandts o.ä. zurückwünscht, wo die Sprache nicht auf den vermuteten Volksdurchschnitt heruntergedummt wurde (e.g. https://www.willy-brandt-biografie.de/quellen/videos/regierungserklaerung-1969/)