Das Cover ist in existentialistischem Schwarz, zeigt zwei Hände, die ein aufgeschlagenes Buch halten. Ansonsten ist nichts menschliches zu sehen. Darüber steht der Titel Die Bibliothek der verlorenen Bücher und man fragt sich zunächst, ob es nicht eher die Suche nach dem verlorenen Leser ist, aber das täuscht.
Alexander Pechmann ist der Autor, er ist Übersetzer, Schriftsteller und Herausgeber und diese Vielseitigkeit merkt man diesem Buch an. Es beginnt mit einer Vorrede eines fiktiven, namenlos bleibenden »Unter-Unter-Bibliothekars«, einem einsamen Regalhüter der Bibliothek der nicht geschriebenen, verbrannten oder verlorenen Bücher. Man ist zunächst aufgeschreckt ob des plüschigen Conférenciertons, aber im Laufe der folgenden dreißig Aufsätze meldet sich der Bibliothekar glücklicherweise nur noch selten und wenn, dann eher als Botschafter der Möglichkeiten, denn er hat sie natürlich alle, diese geheimnisvollen, dem normalen Sterblichen verborgenen Werke der Weltliteratur.
Bisweilen gibt es einen kleinen Einblick in die verschollenen Manuskripte, so bei In Ballast to the White Sea von Malcolm Lowry oder dem Stück eines antiken Theaterdichters aus Abdera. Und manchmal greift der »Unter-Unter-Bibliothekar« auch in die Literaturszene ein, holt das ein oder andere Manuskript aus seinem Bestand und versteckt es derart, dass es irgendjemand dann überraschend »wiederfindet«, wie etwa Mary Shelleys Erzählung Maurice oder die Fischerhütte, eine Entdeckung von 1997, rechtzeitig zum 200. Geburtstag der Autorin.
Es gibt viele Gründe, warum Manuskripte und bisweilen Bücher auch bekannter Schriftsteller nicht (mehr) verfügbar sind. Hemingways frühe Aufzeichnungen gingen etwa auf einem Transport quer durch die Welt verloren; er hatte sich inzwischen weiterentwickelt und grämte sich kaum. Ähnlich wie bei T. E. Lawrence, der seine verschlampten Manuskripte zu Die sieben Säulen der Weisheit aus dem Gedächtnis rekonstruierte. Häufig fielen sie allerdings der Vernichtung durch den Autor selber zum Opfer, sei es aus politischen Gründen (von Protagoras zu Abdera über Dr. John Dee [Shakespeares »Prospero«-Vorbild], Dostojewski, Puschkin, einige von Thomas Manns Tagebüchern bis Blaise Cendars) oder weil der Verfasser nicht zufrieden war mit dem Geschriebenen und aus Wut, Selbsthass oder einfach nur zu viel Alkohol zum »Autodafé« schritt, wie beispielsweise Balzac bei seiner Erzählung Der Landarzt oder James Joyces Monumentalmanuskript Stephen Hero.
Manchmal hatte der Autor es auch nur versäumt, Kopien anzulegen, wie Robert E. Howard, der seine Texte an Verlage sandte, die sie allerdings nicht mit ihrer Ablehnung zurückschickten oder verloren hatten. Legendär die Vernichtungswellen der Erben, wie etwa bei Lord Byron, aber auch Lawrence Sterne. Beide Male befürchtete man, dass eine Veröffentlichung Skandale hervorrufen würde. Sternes Erben merkten zu spät, dass man damit hätte Geld verdienen können – und verfassten dann nachträglich Fälschungen. Der im Alter misanthropische James Fenimore Cooper verfügte testamentarisch, dass seine Jugendschriften sowie alle Materialien vernichtet werden sollten, was seine Tochter Augusta ausführte. Ähnliches wird ja – auch von Pechmann – über Kafka berichtet, wobei es eine gegenteilige Aussage Max Brods aus dem Jahr 1965 im Gespräch mit Friedrich Luft gibt. Demnach hätte Kafka »auf dem Totenbett« nichts von einer Vernichtung gesagt; es hätte sich lediglich in seinen Papieren ein zusammengeknüllter Zettel mit diesem Wunsch gefunden.
Manche Bücher wurden nie geschrieben, existierten nur im Kopf des Autors, sei es mangels Gelegenheit wie etwa bei Goethe (Biografie eines Tigers) oder Thomas Hardy (einen grandiosen Einfall konnte er mangels Papier und Bleistift nicht festhalten) oder frühzeitigem Tod wie Ödön von Horváth oder Hart Crane. Mir fällt dazu noch Wolfgang Welt ein und das es zu diesem Buch nicht gekommen ist, bedauere ich wirklich sehr.
Natürlich werden auch die großen Brandkatastrophen fiktiver sowie realer Bibliotheken thematisiert. Pechmann geht zudem der Frage nach, warum zum Beispiel von den »Tausenden griechischen Tragödien« nur jene 32 von Aischylos, Sophokles und Euripides und nur zwei Heldenepen (Odyssee und Illias) überliefert sind. Die Antwort ist einfach: Waren philosophische, literarische oder dramatische Werke Schulstoff, dann stieg die Zahl der abgeschriebenen Kopien. Die Wahrscheinlichkeit war dann größer, dass sich einzelne Exemplare erhalten. Über das Kopieren haben sich schließlich auch die Metamorphosen von Ovid erhalten; das Original führte er wohl der Vernichtung zu, um härterer politischer Bestrafung zu entgehen.
Einige Aufsätze gleichen Anekdoten, etwa wenn von einen persischen Herrscher die Rede ist, der seine gesamte Bibliothek auf 400 Kamelen stets mit sich. Interessanter sind die subkutan neugierig machenden Literaturempfehlungen (etwa über Charles Brockden Brown oder Philip George Chadwick). So kann man unter den im Anhang aufgeführten Werken (»Aufgelesene und zitierte Literatur«) so manche Entdeckung machen. Hier wird deutlich, dass Alexander Pechmann etliche englischsprachige Werke übersetzt hat, unter anderem auch die im Buch vorkommenden Herman Melville und Mary Shelley, aber auch Mark Twain, Robert Louis Stevenson und das Ehepaar Fitzgerald.
Die Bibliothek der verlorenen Bücher ist leichte, trotzdem anspruchsvolle, bisweilen lehrreihe Sommerlektüre. Vielleicht sollte man nur zwei, drei Texte pro Tag lesen, um das Vergnügen zu verlängern.