Eine schöne Beschreibung für diesen prächtigen Band: »Eine Spurensuche« nennt Alexander Rosenstock, stellvertretender Leiter der Stadtbibliothek Ulm, seine Schrift über das Losbuch des Lorenzo Spirito von 1482. Das Losbuch ist die vermutlich kostbarste Inkunabel des Bibliotheksbestands. In jedem Fall handelt es sich um ein Unikat – zwar mit Gebrauchsspuren, aber durchaus gut erhalten. Der Büchersammler Erhard Schad (1604–1681) hatte das Buch erworben. Es kam mit seiner Bibliothek 1826 in die Stadtbibliothek Ulm. Zu Beginn beweist Rosenstock mit kriminalistisch-bibliographischer Finesse, dass Lorenzo Spiritos Losbuch tatsächlich das erste gedruckte Würfellosbuch ist und von 1482 stammt. Gezeigt werden die Irrwege und falschen Quellenangaben genau so wie die Lösung des Falls.
Rosenstock erklärt, was es mit solchen Losbüchern auf sich hatte. Lange hatte man sich mit Büchern solchen trivialen Inhalts nicht besonders beschäftigt. Da sie meistens für das »einfache Volk« gedacht waren, kam es verhältnismäßig selten vor, dass sie gedruckt waren. Handschriftliche Exemplare waren dagegen sehr verbreitet. Ihre Hochzeit hatten sie von Ende des 15. Jahrhunderts bis Ende des 17. Jahrhunderts, insbesondere in Italien, Frankreich und Spanien; weniger bis gar nicht in Deutschland.
Schließlich wird erläutert, wie man dieses Würfellosbuch verwendete. Zwanzig Fragen standen zur Auswahl. Es gab Entscheidungshilfen, beispielsweise ob der oder die Auserwählte nun der richtige Ehepartner sei. Oder ob ein Geschäft einen Gewinn erwarten ließe. Auch Fragen nach dem grundsätzlichen Fortgang des Lebens wurden beantwortet: Ob man glücklich und/oder reich werde. Oder ob eine Person wieder von einer Krankheit genese. Man wählt nun eine dieser Fragen aus (beispielsweise über ein Glücksrad) und wird zu einer von 20 Königsfiguren geführt. Dort steht eine Anweisung zu einem von wiederum 20 Symbolen (ein Tier, ein Sternzeichen oder eine Allegorie). Dort sind nun alle 56 Würfelkombinationen aufgeführt, die sich mit drei Würfeln erzielen lassen (wobei alle Würfel »gleichberechtigt« sind, d. h. jede Kombination wird nur einmal gewertet). Nachdem gewürfelt wurde, wird man nun zu astrologischen oder astronomischen Zeichen geführt. Und dort wird dann auf einen bestimmten Propheten verwiesen, der einem einen Sinnspruch als Antwort auf die Frage gibt. So kann der Ratschlag, ob man eine bestimmte Reise machen soll je nach gewürfelter Zahl positiv (»Geh auf die Reise und zweifle nicht,// dass der Anlass gut ist zu gehen,// Schlechtes wird dir nicht zustoßen«) oder negativ (»Glaube diesem meinem neuen Orakelspruch//nicht zu gehen, warum sage ich dir nicht, aber//diesen Weg zu gehen wird schlecht für dich sein«) ausfallen. Das Beispiel illustriert, wie deutlich und verbindlich die Orakelsprüche waren. Auf eine höhere metaphorische Deutungsebene wie weiland bei Pythia verzichtete man, zumal man kaum die gebildeten Schichten ansprach.
Sehr interessant, wie Rosenstock das Losbuch als literarische Gattung untersucht und tatsächlich die heutigen Zeitungshoroskope als letzte Residuen dieses einst in Blüte stehenden Genres ausmacht. Ausführlich wird auf die unterschiedlichen Formen und Interpretationen von Losbüchern eingegangen. Neben den klassischen Büchern, die konkrete Handlungsanweisungen für bestimmte Entscheidungen geben sollten, gab es auch satirische Losbücher, die in ihren Orakeln die Gattung ironisierten. Oder »geistliche« oder moralisierende Losbücher, die den Betrachter zu Demut und Reflexion im Sinne Gottes anhalten wollten – und schnell von der Kirche verboten wurden. Überhaupt gab es enorme Anfeindungen des Klerus, die diese Form des »Wahrsagenspielens« als Aberglaube und »verlorene Zeit« geißelte. Hinzu kam, dass das Spiel mit Würfeln als der Inbegriff des Heidnischen galt. So wurde das »Losen« der Wärter um die Gewänder Jesu in der Kreuzigungsgeschichte des Johannes-Evangeliums (Joh. 19, 24) in mittelalterlichen Darstellungen als Würfelspiel dargestellt.
Orakelbücher wurden flugs zum Glücks- bzw. Hasardspiel erklärt, was zumindest auf das Buch von Spirito und deren direkte Nachfolger nicht zutraf. Aber man brauchte einen Grund, diesen Blick in die Zukunft, der nur Gott zustand, zu verbieten. Aber der Drang des Menschen, in die Zukunft schauen zu wollen, war stärker als alle Verbote. Im 17. Jahrhundert schwenkte man auf das »Gedruckte« um. Von den mehr und mehr entstehenden Kartenlosbüchern ging es schnell zu den gedruckten Spielkarten. Tarot bzw. Tarock reüssierten, wobei Rosenstock anmerkt, dass die »begriffliche Unterscheidung zwischen dem Kartenspiel und der esoterischen Wahrsagepraxis« nur im Deutschen existiert. Die Würfel blieben Unterhaltung für die Bauern, Soldaten und Handwerksgesellen.
Die Zeitreise in die Losbuchgeschichte zeigt, wie das Orakeln in den heutigen Zeitschriften auf das plumpe Zitieren von Allgemeinplätzen heruntergekommen ist. Von der oppulenten Form der Darstellung ganz abgesehen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass heutzutage mehr in der Gegenwart gelebt und in Anbetracht einer deutlich höheren Lebenserwartung das Zukünftige als potentielle Einschränkung des Status quo eher verdrängt wird. Positiv wäre hingegen der Aspekt, dass das Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft zu Ungunsten eines Schicksalsglaubens zugenommen hat. Wie auch immer: Sprachkundige können nach Rosenstocks Ausführungen anhand der hervorragenden farbigen Faksimiles, die das vollständige Losbuch zeigen, sofort beginnen, ihrer Zukunft gewiss zu werden. Das ist allemal lustiger, als privaten Fernsehsendern das Geld in den Rachen zu werfen. Bleibt nur noch die Ermahnung des Lesers, nicht so lange zu würfeln, bis das Ergebnis mit der gewünschten Prophezeiung übereinstimmt.