Ali­ce in Er­zähl­schwung

TAGEBUCHEINTRÄGE, 12. UND 13. JUNI 1983

Sonn­tag, 12.6.

…mit dem Bus von Brig noch 70 Mi­nu­ten bis Saas-Fee. Wer­de dort von ei­ner Nach­ba­rin der Wit­we Zuck­may­er1, so­wie Mi­chae­la und ih­rem Mann Ha­rold ab­ge­holt. Mi­chae­la ist Toch­ter der Ali­ce aus er­ster Ehe2, d.h. al­so nicht Carl Zuck­may­ers Toch­ter – sie ist drei Jah­re äl­ter als ‘Win­ne­tou’3. Ber­ta, die Nach­ba­rin (Glas­au­gen­trä­ge­rin, Jahr­gang 1912), be­sitzt ein Elek­tro­ge­fährt – bringt mein Ge­päck ins Ho­tel »Gar­ni des Al­pes«. Ein schö­nes Ein­zel­zim­mer – le­ge mich nie­der, ver­su­che zu schla­fen, ein paar Mi­nu­ten ge­ling­ts. Und dann im Hau­se Zuck­may­er. Ali­ce warm­her­zig + herz­lich + ab­sto­ßend häss­lich – wir sit­zen in ih­rem Ar­beits­zim­mer, sie mir vis à vis, und ich las­se den Tape-Re­cor­der lau­fen – ih­re Er­zähl-Sint­flut. Ad Franz Wer­fel ei­ni­ge wich­ti­ge De­tails – neh­me nur F.W.-Bezügliches auf. Und rasch wird mir klar: Ali­ce ist ab­so­lut ga­ga – wie­der­holt in­ner­halb kur­zer Zeitab­schnitte die sel­ben Sto­ries. Je spä­ter es wird, de­sto mehr. Bin zum Abend­essen ein­ge­la­den – Mi­chae­la hat Kalb­fleisch und Ka­rot­ten ge­kocht – wir es­sen ge­mein­sam – und trin­ken Weiß­wein. Ali­ce spricht ein schreck­li­ches Eng­lisch, Ha­rold zu­lie­be müs­sen wir ja Eng­lisch spre­chen. (Ha­rold wirkt wie ein ca. An­fang 60-Jäh­ri­ger, ist aber im Jahr 1912 ge­bo­ren.) H. war im 2. Welt­krieg bei der In­fan­te­rie der US-Ar­my, hat ge­gen Na­zi-Deut­sche ge­kämpft, Mann ge­gen Mann – und ist Ju­de… »be­wuss­ter Ju­de« so­gar, wie mir Mi­chae­la spä­ter zu­flü­stern soll­te.

Beim Es­sen schüt­tet Ali­ce ih­re tau­sen­den Ge­schich­ten aus, von de­nen ich be­reits ei­ni­ge ge­hört ha­be – und schimpft auf Klaus Mann, den sie hass­te und schwärmt von Gu­stav Gründ­gens, den sie lieb­te und schimpft auf Emil Jan­nings, den sie hass­te. Und Mar­le­ne Diet­rich, mit der sie gut stand, die sie frag­te: »Hat Ih­nen die Ge­burt Ih­res Kin­des auch solch höl­li­sche Schmer­zen be­rei­tet?« Als Ali­ce die Fra­ge be­jah­te, sag­te Mar­le­ne: »Al­so ich bleib’ jetzt für min­de­stens zwei Jah­re les­bisch!«

Sol­che und ähn­li­che Ge­schich­ten en mas­se, bis es 10h wird und wir der Mei­nung sind, Ali­ce soll­te zu Bett ge­hen -. Mi­chae­la führt mich durchs Haus – zeigt mir das Sanc­tua­ry of Sanc­tua­ries, Carl Zuck­may­ers Ar­beits­stock­werk, sei­nen Schlaf­raum und ne­ben­an sein Schreib­zim­mer. (Im Vor­raum zu die­sem Zim­mer hängt sein Re­gen­man­tel, hängt sein Filz­hut.) Die vie­len Stei­ne und an­de­re »Na­tur-Fund­stücke«, an de­nen er hing, die er ge­sam­melt hat­te. Die Schön­heit des Rau­mes durch das Holz­ge­tä­fel­te rund­her­um be­son­ders un­ter­stützt – Holz­wär­me. Wie­der im Erd­ge­schoß, im ‘Sa­lon’ – an der Wand die Zeich­nung Zuck­may­ers von Ko­kosch­ka, an­geb­lich Ko­kosch­kas letz­te Ar­beit.

Um ca. halb 11h wer­de ich von den Gast­ge­bern ver­ab­schie­det. Küh­le in Saas Fee – wan­de­re zum Park­platz, um in der Ka­bi­ne zu telephonieren…Spreche kurz mit El­tern – Va­ter klingt tod­mü­de…

Mon­tag, 13.6.

Nach dem Früh­stück An­ruf Ali­ces, sie füh­le sich sehr schwach heu­te, müs­se im Bett blei­ben, ver­kühlt au­ßer­dem, kön­ne mich erst ge­gen halb 1h emp­fan­gen. (…) Ali­ce emp­fängt mich im Bett, wir ver­ein­ba­ren ei­nen spä­te­ren Ter­min, ich soll in­zwi­schen mit Mi­chae­la und Ha­rold Mit­tag es­sen. Heu­te ist Mi­chae­las 60. Ge­burts­tag. Zu­erst ist es mir pein­lich, da da­bei zu sein, aber M. gibt mir zu ver­ste­hen, daß sie sich über mein Da- und Da­bei­sein freue. Ha­rolds Er­in­ne­run­gen ad 2. Welt­krieg – daß man als ame­ri­ka­ni­scher Ju­de die Pflicht ge­habt ha­be, zu kämp­fen – er­wähnt auch ein Ge­met­zel in ei­nem Fluß, in Ita­li­en, schlech­ter Be­fehl ei­nes ame­ri­ka­ni­schen Of­fi­ziers, da­durch vie­le ame­ri­ka­ni­sche Ver­lu­ste. Und die Ge­fan­gen­nah­me Gö­rings, die er von wei­tem mit ansah…Die Be­to­nung, im­mer wie­der, des Grund­sat­zes: man ha­be den Be­fehl ge­habt, zu tö­ten + das tat man auch. Plötz­li­cher Auf­tritt Ali­ces, aus ih­rem Bett her­aus, im Schlaf­rock, sie ha­be so­eben er­fah­ren, dass Cle­mens Holz­mei­ster4 ge­stor­ben sei – nun müs­se man der Wit­we kon­do­lie­ren und im Na­men der Fa­mi­lie Zuck­may­er ei­nen Kranz ans Grab schicken, C.H. sei ein na­her Freund der Z.’s ge­we­sen, Ali­ce sehr auf­ge­regt. Sie er­zählt im­mer wie­der, wie nah man sich ge­we­sen sei, setzt sich zu uns an den Mit­tags­tisch – und ih­re Sprach­spring­flut ist nicht mehr auf­zu­hal­ten. Er­in­ne­run­gen an C.H., im­mer wie­der die sel­ben Wor­te. Mi­chae­la steht vom Tisch auf, sie haßt Ha­rolds Kriegs­ge­schich­ten und sie haßt Mut­ters Verkalkungs­monologe. Ich emp­feh­le dann Ali­ce, wie­der ins Bett zu ge­hen, um ca. halb 5h wer­de ich wie­der­kom­men. Sie gibt nach, nimmt mich aber ins Schlaf­zim­mer mit, sie sei jetzt so auf­ge­wühlt, daß sie nicht wer­de schla­fen kön­nen; al­so sit­ze ich an ih­rer Bett­kan­te, las­se den Re­cor­der lau­fen und wir spre­chen wie­der, ca. ein­ein­halb Stun­den lang. bis ich se­he, wie er­schöpft sie ist und mich ver­ab­schie­de…

Abends plant die Fa­mi­lie, in ein Re­stau­rant zu ge­hen, in dem es ei­ne Carl-Zuck­may­er-Stu­be gibt, da al­so wer­den die 3 »en fa­mil­le« sein. Su­che im Ort er­folg­los nach Blu­men für das Ge­burts­tags­kind und für Ali­ce. Will mich ver­ab­schie­den, aber als ich in’s Ho­tel kom­me, fin­de ich ei­ne Ein­la­dung vor, beim Ge­burts­tags-Es­sen in der C.Z.-Stube da­bei zu sein. Ru­fe Mi­chae­la an, wi­der­spre­che zu­nächst, sie be­steht dar­auf. Au­sser­dem kom­me ein Freund Ha­rolds da­zu, der sei heu­te an­ge­kom­men – al­so ge­be ich nach, bin um 7h in der Stu­be des Ho­tels »Glet­scher«, fin­de die Fei­ern­den vor, bis 10h sit­zen wir zu­sam­men, ei­gen­ar­ti­ge Stun­den, zwi­schen La­chen und Wei­nen. An den Wän­den Pho­tos des Dich­ters – und Buch­um­schlä­ge der ver­schie­de­nen Erst­aus­ga­ben. Die Be­sit­zer­fa­mi­lie be­son­ders unter­würfig, auch die 89-jäh­ri­ge Groß­mutter, die im Wal­li­ser Tracht­ge­wand ver­lo­ren grüßt, von ih­rer Toch­ter, der Glet­scher­che­fin ge­führt, als sei sie ein le­bend­gro­ßer Grei­sen­au­to­mat. Be­wegt sich auch ganz wie ei­ne Pup­pe, die Al­te. Bei Tisch nun al­so auch Os­si­an aus Stock­holm, Ha­rolds Freund (aus Kriegs­ta­gen?), ein Erz-Goy je­den­falls, der zur Zeit meist in New York lebt und mir von An­fang an su­spekt und un­sym­pa­thisch ist. Ali­ce hin­ge­gen be­gei­stert sich mehr und mehr für Os­si­an. Der Be­sit­zer beugt sich nach 10 Mi­nu­ten ver­le­gen zu Os­si­an, bringt nach Wor­ten tap­send schließ­lich her­vor, daß je­ner im­mer­zu an der Ser­vice­glocke an­kom­me und es da­durch in der Kü­che un­ent­wegt läu­te. Ich den­ke: da ist Zuck im Spiel, er neckt uns al­le, an die­sem Abend. (…) Der Kell­ner ei­ne Mi­schung aus Nu­re­jew und Tho­mas Holtz­mann, aber der Mund vol­ler Gold­zäh­ne, und er wirkt dü­ster und un­heim­lich. Wir sind laut, wir 5 (d.h. Mi­chae­la ei­gent­lich nie…) als ge­hör­te uns das Lo­kal, was ja durch die Na­mens­ge­bung auch bei­na­he den Tat­sa­chen ent­spricht.

Ali­ce in Er­zähl­schwung, ein paar Ge­schich­ten, die ich nun be­reits drei Mal ge­hört ha­be, flackern für Os­si­an wie­der auf: ih­re Mut­ter, die Phi­lo­se­mi­tin und Burgtheaterschau­spielerin – ihr er­ster Mann, der Kom­mu­nist war, durch und durch. Ich mer­ke, daß Ha­rold lei­det – und wie still Mi­chae­la bleibt! (…) Ha­rold be­ginnt wie­der vom Krieg zu spre­chen (Mi­chae­la hat­te als ein­zi­ge Be­din­gung für mein Mit­kom­men heu­te Abend ge­nannt: daß nicht vom Krieg ge­spro­chen wer­de – das bre­che bei Ha­rold in Ame­ri­ka nie aus, nur hier, in Eu­ro­pa, da kä­men die Er­in­ne­run­gen über ihn.) Ich re­agie­re mit kei­ner Sil­be – Augen­ausblicke auf M. ge­wor­fen, die mirs dankt, daß ich still blei­be und zu­gleich nach an­de­ren The­men sucht, wäh­rend Ali­ce auf Os­si­an ein­häm­mert und ihn vol­ler Lie­be an­starrt, von der Sei­te. Ha­rold lässt sich nicht be­ir­ren und ich blei­be stumm – dar­auf­hin ist er nun wie­der­um auf mich ein­ge­schnappt, di­stan­ziert, kühl. Er trägt üb­ri­gens ei­ne brei­te wein­ro­te Kra­wat­te, in die viel­fach das Ab­bild ei­nes Schä­fer­hun­des ein­ge­strickt ist, der se­he sei­nem ver­stor­be­nen Lan­ce­lot so ex­trem ähn­lich, das war sein Deut­scher (!) Schä­fer­hund.

Ein ca. 7‑jähriges Mäd­chen (Mi­chae­la: »Mei­ne Mut­ter haßt klei­ne Kin­der!«) sitzt plötz­lich ne­ben Ha­rold – und weicht nicht von sei­ner Sei­te, voll­kom­men fas­zi­niert. M. sagt, H. übe oft ei­nen sol­chen Zau­ber auf klei­ne Kin­der aus – und wie häß­lich die Klei­ne ist, mit ih­ren dicken Bril­len!

Ab ca. 1/410h wird dau­ernd auf die Uhr ge­se­hen, denn ab 10h war­tet ein Elek­tro­au­to vor der Tür. M. na­tür­lich trau­rig, daß es uns mit ihr of­fen­bar so un­in­ter­es­sant ist, daß wir dau­ernd schau­en müs­sen, ob’s schon 10h sei. Hät­te sie ei­nen klei­nen Self-Esteem, sagt sie, wür­de ihr das den Rest ge­ben. (Und ich den­ke dar­auf­hin: wahr­schein­lich ist ihr Self-Esteem sehr ge­ring!) Ali­ce flir­tet mit Os­si­an, Ha­rold ist ganz still ge­wor­den, ich be­ob­ach­te nur. M.’s Fra­ge, plötz­lich, was ich denn den­ke, war­um die jun­gen Men­schen heut­zu­ta­ge so ver­zwei­felt sei­en? Ich spre­che von mei­ner kon­kre­ten Kriegs­angst – und dem Feh­len ei­ner Ab­so­lu­ten Wahr­heit, der man trau­en kön­ne. Das gibt Ali­ce Ge­le­gen­heit, ad Mon­ar­chie zu spre­chen, sie ist ja, laut ih­rer Toch­ter, in Wirk­lich­keit Mon­ar­chi­stin.

Der Glet­scher­be­sit­zer hat uns 5 zum Es­sen ein­ge­la­den, wie sich beim Zah­len­wol­len her­aus­stellt…

Ab­schied von Os­si­an, dem Schmalz­tie­gel; bei letz­tem Abend­licht Elek­tro-Ta­xi­fahrt zum Hau­se Zuck­may­er, wir vier. Ich be­kla­ge mich bei Ali­ce, daß sie sich in O. ver­liebt ha­be, wäh­rend ich dabeisaß…Sie lobt dar­auf­hin – zur Wie­der­gut­ma­chung – mei­nen In­ter­viewstil, der ha­be ihr ge­fal­len.

Beim Haus an­ge­kom­men, läßt Mi­chae­la Mut­ter und Ha­rold vor­aus­ge­hen. Und er­klärt mir, wir ste­hen am Holz­zaun, war­um ihr der heu­ti­ge Ge­burts­tag kei­nes­wegs Freu­de be­rei­tet ha­be. Weil ihr äl­te­ster Sohn (nicht von Ha­rold, son­dern aus 1. Ehe) nicht mehr le­be – seit­her er­schei­ne ihr al­les so sinn­los, so freud­los, be­son­ders ein solch »run­der Ge­burts­tag«. Denn Pe­ter, so hieß er, er wä­re jetzt 36 Jah­re alt, Pe­ter hat sich um­ge­bracht. Er hat Dro­gen ge­nom­men, war Mu­si­ker, kurz nach der Er­mor­dung John Len­nons hat er sich auf­ge­hängt. Ei­gen­ar­tig sei er zwar im­mer ge­we­sen, aber das? Un­be­greif­lich, bis heu­te. Daß er sich nicht aus­ge­spro­chen hat…hinterläßt 2 Kinder…von 2 Frauen…die ihn bei­de ver­ließen. Ich mer­ke, durch die Fin­ster­nis, daß M. weint – was soll ich tun? (…) Fra­ge beim Ab­schied, ob ich sie um­ar­men dür­fe ? (Ha­rold ist ihr fremd, glau­be ich.) Nein, das ge­he (noch?) nicht, da ge­be es (noch?) zu vie­le Wän­de, sagt sie. So ge­hen wir aus­ein­an­der. Der Ab­schied von Ali­ce war herz­lich ge­we­sen, mit Wan­gen­bus­sis und A.’s Lob ad mei­ner Arbeit…Obwohl sie ja sehr ekel­haft sein kön­ne, mich ha­be sie ge­mocht, sagt sie. Spa­zie­re ei­ne Wei­le noch durch die Käl­te, will dann noch schrei­ben, um ca. 11h, bin aber zu mü­de nach die­sem selt­sa­men Tag…

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© Pe­ter Ste­phan Jungk


  1. Die Schriftstellerin Alice Herdan-Zuckmayer, 1901 – 1991, die Witwe Carl Zuckmayers, suchte ich auf, um mit ihr über Franz Werfel zu sprechen, dessen Biografie ich damals recherchierte, vgl. "Franz Werfel – Eine Lebensgeschichte", S. Fischer, Frankfurt am Main, 1987. (Carl Zuckmayer war sechs Jahre zuvor, 1977, gestorben.)  

  2. Michaelas Vater war Alice Herdan-Zuckmayers erster Mann, der politische Publizist Karl Frank (1893 – 1969); Michaela Weston starb im Oktober 2004. 

  3. Winnetou Guttenbrunner-Zuckmayer, geboren 1926 

  4. Der bekannte Architekt wurde 1886 geboren.