Mit dem dritten Band Das Haus der Häuser setzte Andrea Giovene die fiktive Autobiographie des Giuliano di Sansevero fort. Abermals hat der Galiani-Verlag für seine Neuauflage ein stimmiges Bild von Felice Casorati (1883–1963) zu diesem Roman als Cover ausgewählt – ein Stillleben voller Symbolkraft für die Epoche, die in diesem Buch hervorschimmert. Es sind die Jahre zwischen 1934 und 1940, wobei der Schwerpunkt auf die vier Jahre bis 1938 liegt. Sansevero hat sich nach dem unverhofften Erbe des Großvaters Don Michele im kalabrischen Ort Licudi, einem kleinen Dorf »außerhalb von Zeit und Erinnerung«, »am äußersten Rand der menschlichen Gemeinschaft«, mit vielleicht 200 oder 300 Einwohnern, niedergelassen. Die Haupteinnahmequelle ist der Olivenanbau. Der größte Plantagenbesitzer ist ein gewisser Don Calì; auch Sansevero gehören jetzt durch das Erbe einige Olivenbäume.
Der nächste Ort ist die zehn Kilometer entfernte Stadt San Giovanni. Zwischen den beiden Orten existiert keine Straße. Das hält die Bewohner nicht davon ab, Rivalität, ja Feindschaft, für- bzw. gegeneinander zu empfinden. Während Licudi ein fiktiver Ort ist, könnte es sich bei der Stadt um Campora San Giovanni handeln. Dafür spricht nicht zuletzt die Wahl des Stillleben-Covers – es zeigt rote Zwiebeln, eine Spezialität der Stadt.
Sansevero ist jetzt wohlhabend; das einst sparsame Leben ist nicht mehr notwendig. Er lebt bei und mit einer Fischerfamilie und genießt den »feierlichen Frieden miteinander«. Die Abgeschiedenheit des Dorfes versetzt ihn in eine andere Stimmung. Im Alltag herrscht innerhalb der Dorfgemeinschaft eine Art Naturalwirtschaft – wer einen Esel, ein Werkzeug oder eine Dienstleistung braucht, bekommt sie ohne pekuniäre Entlohnung. Im Gegenzug wird erwartet, dass man sich selber ebenso verhält. Bald wird auch der Erzähler eingebunden, in dem er Behördendinge oder einfach nur Briefe für die Dorfbewohner liest, schreibt oder formuliert (nicht wenige haben Familienangehörige, die ausgewandert sind).
Dass die Eingaben Don Calìs beim Gemeinderat, eine Verbindungsstraße nach San Giovanni zu bauen, immer wieder abschlägig beziehungsweise gar nicht beschieden werden, stört ihn nicht, eher im Gegenteil. Dennoch oder gerade deswegen beschließt er eines Tages, ein Haus zu bauen. Der einzige Architekten und Baumeister des Dorfes, einen gewissen Janaro Mammola, genannt »Mastro«, ist sofort Feuer und Flamme und holt seine diversen Brüder aus dem ganzen Land für alle möglichen Aufgaben heran. Nach dem ursprünglichen Plan hätte man ca. 40.000 Steine à 40 kg benötigt. Ein Esel würde pro Tag 2 x 40 kg über die Trampelpfade schaffen; ein Maultier drei Mal. Esel gäbe es vielleicht sechs oder sieben, die dann den anderen Dorfbewohnern nicht zur Verfügung stünden; hingegen gibt es nur ein Maultier. Somit wird die Anzahl der benötigten Steine auf 20.000 reduziert. Die Materialbeschaffung verlangt Kreativität und Organisationstalent. So reist Sansevero beispielsweise nach Cerenzia, um dort die Reste eines abgerissenen Palastes zu erwerben. Man wählt, wo es geht, den Weg über das Meer und das ganze Dorf hilft bei den Bau- und Transportarbeiten. Hierfür erhalten die Helfer gute Löhne vom Bauherrn. Aus dem Fremden wird jetzt Don Guilì, einen Titel, den er zwar ablehnt, aber den aufkommenden Status anzeigt.
Dass sein entstehendes Haus wuchtiger sein wird als Don Calìs Kastell, trübt das von Respekt und Achtung geprägte Verhältnis der beiden nicht. Ab November ruhen die Baumaßnahmen zu Gunsten der Olivenernte. Er ist nun in den »Lebenskreis« von Licudi eingetreten, »mit Großzügigkeit, Sorglosigkeit und Annäherung an die Natur«, fügt sich den Gegebenheiten und verkauft nach längerem Überlegen den größten Teil seines Öls an den gleichen Händler wie Don Calì. Der Rest, so erwartet man dies, soll angemessen an die Bewohner verteilt werden, die ihm dafür zu Weihnachten üppige Portionen Schweinefleisch schenken.
Er fühlt sich wohl, alles ist »einfach, ehrlich und menschlich«; er feiert »Orgien von Einsamkeit und heimlicher Begeisterung«. Oder fährt mit den Fischern aus, lernt von ihnen die unterschiedlichen Fangarten, Orientierung und Gefahren des Meeres und erfreut sich am einsamen Strand. Hier gelingen Giovene stimmungsvolle Szenen. Die schriftstellerischen Ambitionen scheint Sansevero ad acta gelegt zu haben; er beginnt stattdessen die Dorferzählungen aufzuschreiben. Aber auch dieser »Hort des Friedens« bleibt nicht von Zwischenfällen verschont. Bei einem Unwetter bleibt einer der Schwertfischer, die weit heraus fahren müssen, vermisst. Später wird er die Witwe unterstützen; es ist der Beginn seiner karitativen Engagements. Unterdessen gerät Mastro, sein Baumeister, in Streit mit seiner Geliebten, die man »Tredici« (also dreizehn) nennt, eine mystisch beschriebene »Zigeunerin«. Die beiden haben zwei Kinder miteinander. Als eines der Kinder in einem Unfall umkommt und sich Mastro von ihr brieflich trennt, spricht sie einen Fluch auf den Baumeister aus und verschwindet aus dem Dorf.
Soweit wie möglich will Sansevero alle äußeren Einflüsse auf sein paradiesisches Leben abwehren. Eine Zeitung, sei sie auch Monate alt, nimmt er nicht in die Hand. Von einem Radioapparat in einem Lokal bei Don Calì hört er widerwillig vom Kriegsbeginn in Äthiopien; Italien begann im Oktober 1935 den Abessinienkrieg. Mit Mussolinis Großmachtambitionen kann er nichts anfangen. Das Haus der Häuser macht Fortschritte, obwohl sich der ehrgeizige Zeitplan ein ums andere Mal verzögert. Kurz nachdem die Mauern stehen und das Dach fertig ist, beginnt der Baumeister über immer stärkere Kopfschmerzen zu klagen, ist manchmal tagelang abwesend. Was tun? Der Aberglaube ist stark verwurzelt und in Kenntnis des Fluches geht Sansevero mit einigen Dorfbewohnern auf eine Wallfahrt. Vergeblich. Der Mastro liegt im Sterben; Tage später ist er tot. Der Fluch hat binnen weniger Monate gewirkt.
Wie auch immer: Das Haus der Häuser wirkt inzwischen »schlicht und würdevoll«. Über weitere Bau- und Ausbaufortschritte schweigt sich der Erzähler von nun an aus. Die Inneneinrichtung karrt er aus den Zimmern des Erbonkels in Paola herbei. Immer weiter wird Sansevero nun in den Soziotop von Licudi gezogen. Onkel Gedeones Ratschlag, sich nicht in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen, ist schwerlich umzusetzen. So nimmt er Anteil an den Ereignissen auf der Cerza-Burg, auf halbem Weg zwischen Licudi und San Giovanni gelegen. Dort residiert der als »Menschenfeind« apostrophierte »Don Michele«, der allerdings seit Monaten todkrank sein soll. Es gibt Gerüchte, dass sein Leibarzt ihn nur so lange am Leben erhält, bis Don Michele der hübschen Amalia testamentarisch seine Güter vermacht und er diese dann ehelichen kann. Sansevero verspürt den »Impuls der Einmischung«. Über die Nichte der Dienerin des Kranken knüpft er Kontakt mit Amalia, die ihm selber gut gefällt. Als das Testament im Sinne des Arztes erstellt wurde, stirbt Michele kurz darauf. Die Zwickmühle, in der Amalia, die in einer andern Stadt einen heimlichen Geliebten hat, steckt, löst Sansevero mit Hilfe seines aus Staatsdiensten inzwischen pensionierten Onkels Gedeone, der »personifizierten Redlichkeit«, und dessen Anwalt mit einem »Beilschlag«.
Längst ist er produktiver Teil der Dorfgemeinschaft – mit den dazugehörigen (informellen) Pflichten. Er flechtet Körbe, macht sich nützlich. Alles, was er bisher gelernt hatte, ist jetzt unbrauchbar. Wie das Handeln als »einheitliches Ganzes« der Dorfgemeinschaft ist, bemerkt er, als fast gleichzeitig Waldbrände ausbrechen und eine Tollwut unter den Hunden festgestellt wird. Beide Male geht man zielstrebig vor. Den Brand bekämpft man trotz Wasserknappheit mit der Errichtung von Gräben, wozu notfalls auch Olivenbäume gefällt werden müssen. Um die Tollwut zu bekämpfen hat man sich entschlossen, mit »spartanischer Unerbittlichkeit« alle Hunde zu töten; die »Ausrottung« verschont auch nicht die Tiere von Don Calì.
Sansevero wird nahegelegt, das Haus zu öffnen und es ziehen (meist nur vorübergehend) Familien ein. Viele junge Mädchen und Frauen bewerben sich, um bei ihm zu dienen. Er bemerkt Zuneigungen, aber die Frauen sind still und zurückhaltend. Sansevero hingegen ist vernarrt in Arrichetta, der sechsten von neun Kindern des Schaf- und Ziegenhüter Tommaso. Als er sie das erste Mal sieht, ist sie zwölf Jahre alt, was ihn nicht davon abhält, sie als eine »Göttin« zu sehen. Als ein Bruder stirbt, unterstützt er die Familie. Später fungiert er als Strohmann, damit Tommaso eine Schafherde von Don Calì kaufen kann. Sansevero erkennt, dass er eine »Nymphe für den Preis einer Schafherde« gekauft habe.
Die Zeit vergeht. Mit Arrichetta macht er einen Ausflug nach Neapel, vordergründig, um dem kränkelnden Mädchen einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen (wie oft bei Giovene wird der Leser auch hierzu nie ein Ergebnis erfahren). Seine Verwandten, vor allem Onkel Gedeone, besucht er nicht; seine Schwärmerei soll verborgen bleiben. Er erfreut sich an ihrer Neugier in der großen Stadt, kleidet sie ein und bezahlt die Geschenke, die sie ihrer Familie machen möchte. Gewissensbisse und Schuldgefühle plagen ihn ob der »krankhaften Phantasie« und des »absurden Begehrens« (wie einst bei Nele, einer anderen unglücklichen Liebe). Arrichetta ist jetzt vierzehn, aber das Gesetz hat die Grenze bei sechzehn definiert. Er verlässt Licudi über Weihnachten 1937 und reist bis nach Sizilien. Als er zurückkehrt, empfängt ihn Arrichetta mit einer blühenden Blume. Er wähnt, den »Gipfel des Lebens« erreicht zu haben; dieser Logik nach kann nur noch der Abstieg folgen. Giovene bleibt hart: Ob Mädchen oder Frau – die Lieben seines Sansevero bleiben wehmutsvoll.
Der Abstieg Licudis beginnt bereits unmerklich kurz zuvor. Sansevero entdeckt zufällig ein paar alte Scherben, Teile von Vasen und Figuren, die »dreißig Jahrhunderte« alt sein könnten. Für die Dörfler ist das nichts Neues. Er kauft ihre »Schätze«, denen sie nie besondere Beachtung schenkten, auf. Nach einigen Monaten hat er eine gigantische Sammlung. Licudi scheint eine antike Kultstätte gewesen zu sein. Und als es wieder einmal darum geht, für den Bau einer Straße beim Gemeinderat vorstellig zu werden, schlägt Sansevero vor, dies mit den archäologischen Funden und der Notwendigkeit der Erschließung zu begründen. Die Initiative weckt nach einiger Verzögerung alle möglichen Protagonisten gleichzeitig. Die Politik in Form der Faschisten, die Tourismusindustrie, die Kulturbürokraten – alle beschäftigen sich nun mit Licudi. Wie nicht anders zu erwarten, stockt die kommunalpolitische Bürokratie, aber der Tourismusverband springt ein und bezahlt jetzt die Straße, die rasch entsteht.
Jetzt gibt es kein Halten mehr. Horden von Fremden, Touristen, Forschern und Immobilienspekulanten fallen in den Ort ein (auch Tredici kommt zurück). Die Bewohner geraten in Streit um Grundstücksgrenzen, Behörden sind überfordert mit neu eingereichten Infrastrukturprojekten, jahrhundertalte Olivenbäume werden gefällt, nur um Durchgangsstraßen zu bauen. Die »Schwarzhemden« instrumentalisieren die Funde als Kulturerbe. Das komplette dörfliche Leben wird umgestürzt; die Bevölkerung vervielfacht sich unterdessen, obwohl viele Einheimische gehen und sogar auswandern. Sansevero erfährt dies fast alles nur noch aus Briefen seiner Haushälterin Incoronata; er »atmet« derweil das Haus seines verstorbenen Erbonkels in Paola, versucht, dessen Leben zu rekapitulieren und vergräbt sich in dessen Bibliothek. Er fühlt sich schuldig an der Zerstörung des Paradieses, verschenkt schließlich sein Haus und gibt Tommaso den Auftrag, es für den Fall anzuzünden, wenn es für ein Schwimmbad oder ein Casino weichen sollte. Später erfährt er, dass das Haus der Häuser vorübergehend als Maultierstall diente. Sansevero fährt zum Onkel nach Neapel, aber der Zug wird angehalten. Es ist der 10. Juni 1940. Lautsprecherdurchsagen und Extrameldungen verkünden Italiens Eintritt tritt in den Zweiten Weltkrieg. Sansevero ist 38; der Roman endet.
Giovene lässt seinen Protagonisten mit dem Wissen der späteren Zeit erzählen, ohne Entwicklungen vorwegzunehmen. Nur einmal macht er eine Ausnahme, wenn es heißt, dass er in Licudi den »Zenit seines Lebens« verbracht, die Vollkommenheit des »perfekten Augenblicks« erlebt habe. Tatsächlich war er für einige Jahre zur Ruhe gekommen. Ein Indikator war seine Reisetätigkeit – sobald er diese in größerem Stil aufnahm, begannen die arkadischen Zustände brüchig zu werden. Seine bisweilen subtile Arroganz, die er in den ersten beiden Bänden manchmal ausstellte, ist hier weitgehend abgelegt. Als ihn am Ende Incoronata zum Abschied die Hand küsst, ist er eher peinlich berührt.
Die Schilderung des Einfalls der Moderne, des Kapitalismus und der unwiderrufliche Verlust des alten Lebens und der Traditionen in dieses »Zauberdorf« ist ein bisschen schematisch erzählt. Natürlich zerstört man das Refugium des Großstädters und Genussmenschen, der glaubt, seine »glückselige Sattheit« im Mispelbaum seiner Kindheit in San Sebastiano, an den Hängen des Vesuvs, des Urlaubsdomizils seiner Eltern, wiedergefunden zu haben und auf das Dorf, »sein« Dorf, transformieren zu müssen. Aber wer kann den Licudern verdenken, dass sie jetzt plötzlich auch einmal Anschluss an ein solches Leben finden wollen? Vielleicht ist Sanseveros Anteil an der Zerstörung seines Idylls auch damit begründet, dass er keine Möglichkeit für seine Liebe sieht.
Das Haus der Häuser ist ein subtiler Roman, in den besten Momenten erhellt von mittelmeerischer Sonne, aber auch immer wieder mit Einfällen von Stürmen und Unwettern. Man kann diese eigenartige Stimmung, die bei der Lektüre entsteht, lange nicht vergessen, obwohl man natürlich früh ahnt, dass das alles keinen Bestand haben wird (und daher ein bisschen langsamer als sonst liest). Hierfür ist der Kontrast zur fast zwanghaft verweigerten Kenntnis über die Weltpolitik schlichtweg zu deutlich. Und dann ist man schon wieder neugierig auf die nächsten Bände, die im Herbst und Winter erscheinen sollen.