Knapp ein Jahr nach ihrem spielerisch-expressionistischen Roman »Nil«, der insbesondere in den deutschen Feuilletons vermutlich aufgrund seiner Komplexität eher gemieden wurde, legt Anna Baar mit »Divân mit Schonbezug« nun (vordergründig) einen Erzählband vor. Dass das Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches steht, ist kein Lapsus. Denn tatsächlich sind die 30 Erzählungen (mit sehr unterschiedlichen Längen – von einer bis dreizehn Seiten) miteinander verwoben und selbst die scheinbar abseitigen, meist kurzen, anekdotisch gehaltenen Splitter fügen sich in den Korpus ein.
Dabei ist erstaunlich, mit welcher Brillanz Anna Baar zwischen Empörung und Furor über die politischen Verhältnisse (vor allem in Kärnten und im Detail an der »Landrandhauptstadt K.«) und Familiengeschichten, Kindheitserinnerungen und Reiseerlebnissen pendelt und zu einem eindrucksvollen Erzählkunstwerk verknüpft.
Immer wieder wird zwischen Persönlichem und Öffentlichem changiert. Da wird eine rhetorische Glut entfacht, die bei der Geschichte Kärntens und dem Verhalten der Deutsch-Österreicher den Kärtner Slowenen gegenüber in ein veritables Feuer übergeht. »Endlich waren die Bösen benannt«, so rekapituliert die Erzählerin: »Es waren die Kärntner Slowenen, und, schlimmer noch: Jugoslawen, denn die waren drauf aus, sich Kärnten anzueignen. Die Guten aber waren die Männer vom Heimatdienst, Landesverteidigungsmeister in stattlichen Uniformen, die man auf den Fotos ausgiebig bewundern konnte.« Und sie erinnert sich als Kind auf dem Stiftsgymnasium zusammen mit vier anderen nicht aufgezeigt zu haben, als es darum ging, sich zur Zweisprachigkeit zu bekennen.
Die Flammen dieses rhetorischen Feuers schlagen kaskadenhaft bei der Gegenwart in die Höhe, eine Gegenwart, die sich auf die Vergangenheit bezieht, ein Kontinuum bildet, ein unheilvolles. Wer kennt ihn nicht, den ehemaligen Landeshauptmann, der mit 142 km/h tödlich verunglückte aber immerhin eine Gasse im Zentrum von Klagenfurt erhalten hat, genau wie jener Arzt, der während des Nationalsozialismus Menschen kastrierte. Während man Gerd Jonke und Christine Lavant als Straßenpaten an die Ränder schiebt. Denn »Straßen sind geduldig. Sie können nichts für die Namen, die sie ungeachtet der redlichen Einwohner tragen.«
Es wechselt zwischen Aufruhr und Resignation. Mit »Die Wahrheit bleibt unzumutbar« wird die berühmte Ingeborg Bachmann kontrastiert, um wenig später das Unzumutbare auszusprechen. Die Erzählerin, der man aufgrund von einigen Indizien eine große Nähe zur Autorin attestieren darf, kam irgendwann aus einem inzwischen nicht mehr existierenden Land mit einigen anderen Familienmitgliedern nach Österreich, nach Kärnten. Im Geburtsland wie im neuen Land die ähnliche Erfahrung: Die Herkunft wird bestimmend, gar entscheidend. Sie tarnt sich mit »Heldengeschichten«, »war die ruhmreiche Tochter meiner römischen Mutter«. Wunsch eines anderes Anderssein als das ihrer Herkunft. Schließlich schloss sie sich denen an, »die ebenso fremd waren« wie sie selber, »jedenfalls ähnlich befremdet.« In diesem Kosmos »gab es nur englische Lieder«.
Auch im »Friedensreich Wien«, später dann, fand sich die Studentin »kaum noch zurecht«, kann sich mit den neuen Nationalitäten nicht recht anfreunden und bemerkt, wie die Nationalismen, die in ihrem Heimatland zum Krieg geführt hatten, auch an der Universität Einzug hielten. Im Slawistik-Studium hatte man sich plötzlich zwischen Kroatisch und Serbisch zu entscheiden. Überall diese »Sprachvorschriften«. »Wo Herkunft oder Mundart wieder darüber bestimmen, ob einer mitreden darf, landen wir tief im Gestern.« Sie wirft hin, flüchtet in Geschichten, nein: mit Geschichten.
Die Erinnerungen in diesem Erzählband treffen sich bisweilen mit denen in ihrem Roman »Die Farbe des Granatapfels«. Manchmal geht sie noch tiefer, ins Jahr 1984, den Olympischen Winterspielen in Sarajevo, wieder-holt diese Zeit mit Hilfe des bis heute noch unbespielten Maskottchens. Und was ist daraus geworden? Was ist aus diesem Land geworden, dass damals die Welt empfing und eine Welt war? Wut speist sich wie so häufig aus Verlusten.
Und so wütend die Ausflüge ins Kärnten der »Grinsgeselligkeit« (Peter Handke), so deutlich auch die Ablehnung der »Selbstgerechten auf der anderen Seite, wenn sie sich heute gefahrlos als Antifaschisten outen oder fürs Leid ihrer Ahnen selbst bemitleiden lassen«. Es sind Partikularhumanisten« für sie, die »unter dem Glorienschein vorgeblicher Toleranz« »sich zum Fremdeln bekennen und sich nur um die scheren, die vom Fremden bedroht sind – wirklich oder vermeintlich«.
Nein, vereinnahmen lässt sich die Erzählerin nicht und manchmal ist das ein bisschen anstrengend, aber es wird niemals eine bloß-rhetorische Geste. Da werden dem Leser die Sätze um die Ohren geschmettert, etwa wenn es sich um den »aufrechte[n] Kinderschänder« handelt, dessen »Kinderfolter« »Behörden und treue Mitarbeiter allerdings zuverlässig im Verborgenen hielten«, solange, bis es nicht mehr ging und sie ihm den Orden aberkennen mußten.« Nichts hat sich geändert: »Nirgendwo treibt Gewalt ähnlich üppige Blüten wie im Dunstkreis von verherrlichten Autoritäten und ihres feigen Gefolges.« (Bedrückend aktuell, gerade jetzt.)
Aber es gibt noch ein zweites Feuer in diesem Buch, das Feuer der Liebe, der Zärtlichkeit. Dies lodert immer dann, wenn von der Großmutter die Rede ist, etwa wenn die Erzählerin die Schöne und unendlich Tapfere im viereinhalb Zugfahrtstunden entfernten Heim besucht und beide ihr Leben und Zusammenleben noch einmal erinnern. Manches ändert sich nie, wie die »Zigarettenlänge, seit jeher ihr heiliges Zeitmaß«. Und sie »hatte nie aufgehört, zu jenem Kind zu reden, das ich in den Trümmern meiner Jugendexzesse lange verschüttet glaubte.« Da ist die Mischung aus Schüchternheit und Furcht; Scham, nicht genug für die Großmutter zu tun, Furcht vor dem unausweichlichen Ende und dem Weiterleben alleine danach.
»Weißt du noch«, befragt die Erzählerin am Ende die Verstorbene, »wie du immer vor der Grabtafel knietest, während ich gelangweilt von Grabstein zu Grabstein schlenzte? Und wie du immer sagtest, wenn du nicht mehr wärest, würde ich endlich sehen, wie gut ich es bei dir hatte? Und wirklich, ich bin dir so dankbar: Wo wäre ich ohne dich, die mich unentwegt Trotz und Genügsamkeit lehrte, Liebe und Dankbarkeit, Zähigkeit, Tatendrang – und unsere liebe Sprache.« Die Beerdigung – bei aller Trauer – eine Feier des Lebens und ein Versprechen: »Ich werde so gut ich kann unsere Stellung halten.«
Und wenn dann noch die »heilige Eintönigkeit, die man fotografisch gar nicht einfangen konnte« entdeckt wird, das »Zittern der Anisdolden im Spätnachmittagswind« und mit ihm der Augenblick nach dem Regen als »die Spatzen und Amseln in Schwärmen zusammenfanden, um winzig kleine Geschöpfe von der Erde zu picken, die vom Tröpfeln geweckt aus ihren Verstecken krochen« – dann ereignet sich die Lust auf die Welt, das Staunen am und im Dasein; keine falsche Idylle, sondern das richtige Leben, wie es ist, sein könnte, sein müsste.
Aber dann ist dieses Buch auch schon zu Ende. Leider.
(Anmerkung: Die Zitate aus Anna Baars Buch beziehen sich auf die mir Ende Januar zugeschickten Fahnen. Das redigierte Buch liegt mir nicht vor.)