TAGEBUCHEINTRAGUNGEN ZWISCHEN 23. AUGUST 1983 UND 11. SEPTEMBER 1983 – 1. Teil
23.8., Dienstag
Die Ankunft in Los Angeles – um 13h20 L.A.-Zeit – mit dem üblichen Glücksgefühl. Der Flughafen wird umgebaut, eine Hölle, alles improvisiert, eineinhalb Stunden bis zum Einstieg in den Bus nach Hollywood. Die erstaunlich genauen Fragen des Zollbeamten, obwohl er doch meinen amerikanischen Pass sieht – die selben Fragen, die man Ausländern stellt: wie viel Geld tragen Sie bei sich? Warum sind Sie hier? Wie lange bleibend? Warum? Warte ewig auf das Gepäck, danach nochmals die gleichen Fragen wie zuvor. Ich möchte wissen: warum? Keine echte Erklärung...»Zum Schutz...«; vielleicht auch wegen möglicher Steuerhinterziehung? denke ich...Fahre zum Roosevelt-Hotel, meines Buchs1 wegen vor allem, aber auch, weil ich vorläufig nichts Anderes zum Wohnen habe. Bin überrascht: es kostet nur $ 45, erwartete viel mehr. Bekomme ein schönes, großes Zimmer im 8. Stock, 822; fühle mich seltsam, wie im Traum. Der Heimatlose in Person. Um halb acht lege ich mich bereits schlafen, wache um halb 2h wieder auf, schlafe weiter, bis es um ca. 7h nicht mehr geht.
24.8., Mittwoch
Ab 13h habe ich ein Mietauto: eine kleine Chevette. Bin bei Anna und Albrecht Joseph2 erwartet, bilde mir ein: dort werde ich wohnen! Mit dem Wagen zum Sunset Boulevard, Ecke Laurel Canyon, esse mit Heißhunger bei »Schwab’s« Drugstore, wie eigenartig, wieder hier zu sein, begreife es noch nicht ganz. Danach den Laurel Canyon hinauf gefahren, wie in Gedanken so oft, bin ja hier zum ersten Mal seit Schreiben des Buchs, schrieb ja aus der Erinnerung...und jetzt stehe ich vor unserem damaligen Haus am Oakstone Way...Weiterfahrt nach Beverly Glen – zur Adresse Oletha Lane, das Haus Annas: ein Holzgebäude, wie eine verfallende Dschungelhütte. Die beiden wie Fleisch und Blut aus meiner Familie – Ersatz-Verwandtschaft, und als ob wir einander weit länger und ausführlicher kennen würden, als in Wirklichkeit. Meine Sorge, als sie mich nicht fragen: Where do you live? Erst nach ca. 2 Stunden will Anna meine Telefonnummer haben, und ich stottere: Hotel, oder eventuell bei Bekannten, noch unklar...Gehe kurz ins Badezimmer, kehre wieder, da »eröffnen« die beiden mir: ich soll bei ihnen wohnen, falls ich möchte – auf ihrer Couch im Hauptzimmer. (Alles ganz kaputt und verschmutzt und beinahe verwahrlost, in diesem Haus – und das stört mich überhaupt nicht!) Sage natürlich sofort und wirklich glücklich: einverstanden! Das ist genau, was ich wollte. Fahre später, mir meine Sachen aus dem Hotel zu holen...Zurück bei den beiden, wir trinken Rotwein – über Alma wird viel gesprochen, weit mehr als über Franz Werfel.3 Ich muß bald zu Bett – wir machen meine Couch – viel zu kurz – und auf und ab, wie auf hoher See. Albrecht Joseph geht zu Bett, Anna spricht zu mir ad ihrer Chinareise, hat Reisefieber, glaube ich. Wir sprechen ad ALTERN – sie habe von Kindheit an das Gefühl gehabt, wie von einem BAND gezogen zu werden, das Talent als Kraft verspürend – und plötzlich, seit ganz kurzer Zeit, habe sie das Talentgefühl verlassen; früher arbeitete sie unentwegt, jetzt könne sie mit der Skulptur, die beinahe fertiggestellt sei, nicht zurechtkommen – jetzt sei der Moment gekommen, auf jene längstersehnte Chinareise zu gehen. Jetzt. Und das sei wohl auch der letzte Moment – 79 ist sie – sie spricht darüber, mit welcher Faszination sie das eigene Altern beobachte, das sei absolut »breathtaking«, zu sehen, wie man altere. Nicht physisch (sie ist physisch ganz DA), sondern psychisch. Wie man nach und nach ABBAUT. Erfahre, daß viele Menschen von Anna finanziell abhängen – bin überrascht. Es scheint, daß (recht viele?) Menschen regelmäßig GELD von ihr bekommen. Wahrscheinlich Anti-Mutter-Haltung, denn Alma sagte immer: »Wer Hilfe benötigt, ist ihrer nicht würdig!« Und jetzt ihre sehr teure Chinareise und sie macht sich Vorwürfe, für sich so viel Geld auszugeben! Versuche, sie zu »beschimpfen«, ihr zu sagen, daß sie das doch x‑fach »verdiene«. Abschied um ca. halb 10h, Tiefschlaf, aber in der Nacht das Aufwachen, auf hoher Couch-See.
25.8., Donnerstag
(...) Abends ein Gast zu Besuch bei A. + A., soignierter Herr, Ende 60, Anfang 70? Ein Arzt für Geschlechtskrankheiten, ein Emigrant, vielleicht nichtjüdisch, bin unsicher, sehr nett, sicherlich schwul. Wir trinken, essen, reden – auch wieder ad Alma, daß sie alle ihre Briefe zerstörte – ich müsste ununterbrochen mein Tonbandgerät mitlaufen lassen. Nach Abschied des Arztes – mit Anna mein »Bett« bereitet, ihr Monolog ad EIFERSUCHT, und daß ich nicht wisse, was Eifersucht wirklich sei. Ich sei ahnungslos. ECHTE Eifersucht richte sich nicht allein gegen einen denkbaren anderen Geliebten, sondern gegen ALLES + JEDEN, der mit dem Menschen, den man besitzen will, in Berührung komme – also auch gegen Hunde, Katzen, Schulfreunde, Eltern, Geschwister, etc., etc. Aber mit welcher Sicherheit Anna sagt, ich wisse nichts über Eifersucht! Und dann geht sie zu Bett – überlässt mich meinem Wellenlager.
© Peter Stephan Jungk
"Stechpalmenwald", 12 Kurzgeschichten aus Hollywood, Collection S.Fischer, 1978 ↩
Anna Mahler, 1907 – 1987, Bildhauerin, Tochter von Gustav Mahler und Alma Mahler-Werfel; Albrecht Joseph, Annas Ehemann, 1901 – 1991, Film-Cutter und Drehbuchautor ↩
Ich suchte das Ehepaar auf, um mit ihnen über Franz Werfel zu sprechen, dessen Biografie ich damals recherchierte, vgl. "Franz Werfel – Eine Lebensgeschichte", S. Fischer, Frankfurt am Main, 1987. (Werfel war - durch seine Ehe mit Alma Mahler - Annas Stiefvater.) ↩