Ich habe von Kultur gesprochen. Genauer, von kulturellen Produkten als wirtschaftlichem Einsatz, Existenzgrundlage weltweit tätiger Firmen. Deshalb der Eifer und Übereifer, mit dem heute Eigentumsrechte an letztlich immateriellen Dingen wie Filme und Popsongs, Figuren und Titel, Slogans und Designs geltend gemacht werden. In unseren Köpfen hallt die Drohung, wer einen Film kopiere, werde mit fünf Jahren Gefängnis bestraft. Und ein Großteil der Konsumenten-Produzenten, der Nutzer und Selbstdarsteller, der Kunden und Könige macht mit beim Gezeter, »das gehört doch mir« und »ich habe dafür bezahlt« und »ich will das Geld, das mir zusteht«. Der sogenannte Neoliberalismus ist tief in die Köpfe und Herzen eingedrungen, um dort Wurzeln zu schlagen. Horkheimer und Adorno haben nicht nur unter dem Eindruck der Massenbetörung durch den Nationalsozialismus, sondern gleichzeitig unter dem nachhaltigeren Eindruck von Hollywood und dem beginnenden Fernsehen ihre Theorie von der Gleichschaltung durch die Kulturindustrie entwickelt. Die Theorie wurde in ungeahntem Ausmaß von den nach und nach geschaffenen Fakten bestätigt. Mozart und Beethoven würden von dieser Industrie allein zu Werbezwecken eingesetzt, meinten die radikalen Kritiker. Sie konnten sich vermutlich nicht vorstellen, daß man sich eines Tages in der Öffentlichkeit – und teils in privaten Haushalten – gar nicht mehr bewegen kann, ohne von akustischer Kultur, durchbrochen von Werbeslogans, umfangen zu werden. Freilich nicht von Werken Mozarts oder Beethovens, sondern von seichtester Popmusik. Einer Popmusik, die in den fünfziger und sechziger Jahren als Gegenkultur antrat, inzwischen aber nahezu restlos von der musikindustriellen Herrschaftskultur gekapert worden ist. Der visuelle Siegeszug des Fernsehens und dessen geistige Folgen wurden in den achtziger Jahren von Neil Postman beschrieben. Fernsehstationen sind seither ins Kraut geschossen, es gibt keine Sekunde am Tag, in der die Bilderflut nicht auf den Konsumenten, den User lauern würde. Die digitale Vernetzung hat die Vorherrschaft des Visuellen nur verschärft. In den Zeiten vor der Einführung der Schulpflicht und der Erfindung des Buchdrucks war die Gesellschaft in einen literaten und einen illiterate Bevölkerungsteil gespalten; die Schriftunkundigen speiste man mit Bildern ab, um ihnen die Grundlagen der Kultur im Schoße der christlichen Religion zu vermitteln. Heute wendet sich die große Bevölkerungsmehrheit wieder den Bildern zu, ohne Zwang und auch nicht, weil sie gar keine Wahl hätte, sondern weil musikalisch untermalte Bilder leichter und rascher konsumierbar sind, da sie kein intellektuelles Engagement verlangen. Bequemlichkeit über alles: wie sollen da Mut und Tätigkeitsdrang gedeihen? Touchscreens und akustische Sensoren werden die Spaltung langfristig verschärfen, Analphabetismus könnte ein echtes Problem nicht nur an den Rändern der Gesellschaft werden. Warum lesen und schreiben, wo doch schauen, hören und berühren genügt?
Immanuel Kant hatte in seiner Schrift zur Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?« den selbständigen Gebrauch des eigenen Verstandes als Voraussetzung für Mündigkeit und damit letztlich für Demokratie dargestellt und an die Schriftkultur gebunden. Verkümmert die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert gefestigte Schriftkultur, verkümmern Mündigkeit und Demokratie. Unmündigkeit, schlichter gesagt: Dummheit, ist mit einer gesellschaftlichen Verfassung, wie Kant und die Aufklärer sie anstrebten, nicht vereinbar. Die Kulturindustrie fördert jedoch die Unmündigkeit, indem sie nicht den Verstand, sondern ausschließlich Emotionen, Sinne und Triebe anspricht. Je stärker gewisse Triebe involviert werden, desto besser für das Geschäft. Der popkulturelle Konsumkapitalismus heutiger Tage erzeugt und fördert Süchte nicht nur in Spielhallen und in der Splatter-Abteilung der harten Drogen, sondern an allen Fronten, besonders im Netz. So sieht das vorläufige Endstadium der umfassenden »Kulturalisierung« aus, die der Entwicklung von einem auf Produktion und Arbeit, Maß und Vernunft, sozialer Disziplin und persönlicher Selbstbeherrschung orientierten Kapitalismus zu einem konsumistischen und hedonistischen, hyperaktiven und zugleich angepaßten, augenblicksverhafteten, geschichtslosen Persönlichkeitsmodell im Rahmen der postmodernen Wirtschaftsform entspricht und dient.
Aber es gibt Nischen. Niemand wird gezwungen, jeder ist König und hat die Freiheit der Wahl. Ach ja, ich habe eingangs von Vielfalt gesprochen, und auf den ersten Blick herrscht heute größere Vielfalt denn je, man kann überall alles kaufen, während das Internet in seiner Virtualität sekundenschnell Zugang schafft zu allen Gruppen, Stilen, Moden, Orten, Landschaften, Zeiten... So scheint es. Und wie ist es? Die alte, von Hegel und Konsorten so hartnäckig gestellte Frage drängt sich neuerlich auf, denn während der kritischer Beobachter auf seinem verlorenen Posten das Wuchern der Möglichkeiten beobachtet, stellt sich gleichzeitig heraus, daß immer weniger Möglichkeiten wahrgenommen werden. Der Mainstream setzt sich durch, er fließt und wird dabei immer breiter und reißender, auch wenn er sich dem Anschein nach ruhig fortbewegt. Dämliche Videoclips mit und ohne Musik, die von Millionen »Besuchern« und fallweise auch bis zum Ende gesehen werden, findet man im Internet zuhauf. Ich möchte hier ein Beispiel schildern. Innerhalb weniger Monate wurde ein knapp einminütiger Clip in Japan ungeheuer populär. Er zeigt einen Mann mit recht durchschnittlichem, eher seriös wirkendem Gesicht und geschmackloser goldgelber Kleidung, der einen Song (oder eher Sprechgesang) zum Besten gibt und dazu eher unbeholfen tanzt. Der Song heißt PPAP, was eine Abkürzung für Pen-Pineapple-Pen ist. Der Text besteht aus nicht viel mehr als der Wortfolge »I have a pen, I have a apple, I have pinapple, apo pen...« Meine zehnjährige Tochter habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß es sich hier um miserables Englisch handelt. Ihre Antwort: »Das habe ich mir schon gedacht.« Die meisten japanischen Konsumenten des Clips, ob Kinder oder Erwachsene, kommen gar nicht auf die Idee, sich Gedanken über die sprachliche Richtigkeit zu machen. Im Japanischen gibt es keine Artikel; sie in einer Fremdsprache zu erlernen, ist für Japaner besonders schwer. Pikotaro, so der Künstlername des Performers, wiederholt schlicht und einfach die Fehler, die Japaner ständig machen. Ironiefrei, witzig, stur. Statt zur Verbesserung beizutragen, bestärkt er das Nichtwissen und die Unmündigkeit, die auch der gewöhnliche Schulunterricht nach meinen Beobachtungen zu beheben gar nicht gewillt ist. Pikotaro ist übrigens bei weitem nicht minderjährig, sondern 43 Jahre alt. Sein Clip hält im Januar 2017, ein halbes Jahr nach seiner Erstveröffentlichung, bei mehr als 110 Millionen – genau: 110.506.158 – Aufrufen. Am Silvesterabend habe ich Pikotaro in seiner tigergefleckten goldenen Kluft in der allseits beliebten, nur einmal pro Jahr ausgestrahlten Musiksendung kohaku uta gassen gesehen, bei einem Kurzauftritt mit PPAP, neben, wenn man so will, ernsthaften Sängern, Musikern und sogenannten »Idols« der Popmusikindustrie. Von fern erinnert mich PPAP an Da da da. Dieser Minimalpopsong wurde Anfang der achtziger Jahre, in der Zeit des beginnenden Neoliberalismus, von der neudeutschen Gruppe Trio immerhin noch mit einer gewissen Distanz zum eigenen Tun vorgetragen.
Ein ostentativ infantiler Typ, bis dato völlig unbekannt, ein sogenannter Youtube-Milliardär, der von einer ganzen Nation beklatscht wird: Pikotaro illustriert den Endsieg der von Horkheimer und Adorno in den vierziger Jahren prophezeiend beschriebenen Kulturindustrie. Das Internet hat ihm nichts entgegenzusetzen, es macht ihn erst vollständig. Daß daneben kleine Plattformen für alternative Performances bestehen, will ich nicht leugnen. Im österreichischen Radiosender Ö 3, mit dem ich in den sechziger und siebziger Jahren aufwuchs, hörte ich anspruchsvolle Popmusik, zum Beispiel von Bob Dylan, inzwischen Literaturnobelpreisträger, ich hörte französische Chansons und nordamerikanische Folkmusik oder diversen Jazz, von Walter Richard Langer, einem besonnenen Nachrichtensprecher, präsentiert und erläutert. Ö 3 ist heute vollständig kommerzialisiert, Jazz und anspruchsvollere Popmusik sind in den Klassik-Sender Ö 1 abgedrängt, der sich alle Mühe gibt, auch noch klassische Musik, Literatur und sogenannte »Wortsendungen« einzuschränken.
Wo es einen Mainstream gibt, gibt es auch Nebenflüsse. Diese münden früher oder später in den Hauptstrom, wobei der Rhythmus schneller wird, so daß die Nebenflüsse vom breiten Strom mitgerissen werden und darin ertrinken. Anything goes, hieß es in jenen fernen Zeiten, als die Postmoderne ausgerufen wurde. Schon damals waren schwächere Stimmen zu hören, die No Future! riefen. Tatsächlich haben Alternativen inzwischen wenig Raum und wenig Zukunft. Alles geht, und nichts geht mehr. Die Dynamik des Mainstreams wird durch das Internet und die flächendeckende Verbreitung mobiler Kommunikationsgeräte beschleunigt, was zuallererst den technischen Voraussetzungen, unter denen die Kommunikation stattfindet, geschuldet ist. Algorithmen arbeiten mit zuvor festgelegten Variablen und eingegebenen Daten, die sie allenfalls neu kombinieren können. Sie sind nicht kreativ, sondern wiederholen Bekanntes, schlagen den Nutzern Gleiches und Ähnliches vor und verstärken damit Trends, die sie einmal ausgemacht haben. Alles Neue ist dem Algorithmus fremd, Überraschungen läßt er nicht zu. Dies ist der tiefere Grund, weshalb das Internet Anpassung fördert, Gewohnheiten bedient, Süchte nährt und letzten Endes, besonders durch die strukturellen Stereotype seiner »sozialen Medien«, angepaßte Charaktere hervorbringt, denen es an echter Neugier mangelt. Das virtuelle Leben in der zugleich aufgedrängten und selbstgewählten Filterblase ist eine verbreitete Erscheinungsform dieses Befunds.
Bücher werden heute von einer Minderheit gelesen. Solche Bücher, die ich der Literatur, den belles lettres im Sinn der literarischen Tradition von Goethe über Flaubert zu Joyce, von Molière zu Tschechow, von Matsuo Basho zu Fernando Pessoa zurechnen würde, werden von einer sehr kleinen Minderheit innerhalb dieser Minderheit gelesen. Verfügbare Statistiken über Lesegewohnheiten teilen unterschiedliche Zahlen mit; ich finde sie verwirrend, lieber verlasse ich mich auf den eigenen Eindruck. (Ohnehin wirft jede solche Statistik sogleich die Frage auf, was Lesen eigentlich bedeutet, wie gelesen wird, ob und wie es meßbar ist, wie man Auskünfte darüber erhält, ob die Auskünfte vertrauenswürdig sind usw.) Die literarische Kultur war einst vorherrschend, sie besetzt heute, aufs Ganze gesehen, nur noch eine Nische, auch wenn engagierte Pädagogen, teils mit Erfolg, Kinder und Jugendliche bewußt zum Lesen anhalten. Nun ist es aber so, daß jene Vielfalt, von der hier die Rede ist, durch die Tätigkeit des Phantasierens hervorgebracht wird, also durch die Vorstellungs‑, Einbildungs und Erfindungskraft. Diese Fähigkeit wiederum wird durch die Schriftkultur wesentlich mehr entwickelt und beansprucht als durch eine Bilderflut, die den Konsumenten auf die gegebene Bildlichkeit festlegt und ihm, bei den gängigen Nutzungsweisen, zum Phantasieren gar keine Zeit läßt, auch wenn sie in einigen ihrer Genres – Horror und Fantasy – noch so sehr ins Phantastische oder Imaginäre schweift. Lesen bedeutet Vielfalt, Schreiben bedeutet Vielfalt, beides zusammen setzt die Menschen instand, sich Dinge und Welten vorzustellen und die Vorstellungen oder Einbildungen mit dem, was sie in ihrer Umgebung realiter erfahren, in Beziehung zu setzen. Der Möglichkeitssinn, den Ulrich, Musils Stellvertreter im Mann ohne Eigenschaften, propagiert, ist ein eminent literarischer Sinn. Kein Zufall, daß Ulrich das hypothetische Leben, das er vorschlägt, als Leben wie in einem Roman charakterisiert. Der Gebrauch dieses Sinns befreit das Subjekt, während die virtuelle Bilderwelt es inmitten all der Flüchtigkeit, die der elektronisch vernetzten Welt eignet, auf dasjenige festlegt, was ist oder zu sein vorgegeben wird.
Vom Buch blickt der Leser auf, sein Blick beginnt zu schweifen oder wendet sich nach innen. Kehrt dieser Leser, nachdem er sich in seiner eigenen Vorstellungs- und Gedankenwelt ergangen hat, zur Buchseite mit ihren Szenen, Bildern und Gedanken zurück, hat sich dort nichts verändert, der Leser findet ohne weiteres in den Fluß des Textes zurück. Daß Kinder vor dem Fernseher oder dem Computerdisplay mit halb geöffnetem Mund starren, sollte uns nicht beunruhigen; es ist der Ausdruck jener Konzentration, die sie beim Bücherlesen ebenfalls an den Tag legen. Das Problem liegt eher darin, daß sie als Zuseher gefesselt sind und mit dem Schauen nicht aufhören wollen, ja, oftmals sogar süchtig werden. Auch die Lektüre kann fesselnd sein, aber sie befreit und individualisiert, insofern jeder einzelne Leser seinen Weg finden und Bilder erfinden muß.
Im 21. Jahrhundert besteht keine Möglichkeit, die Leute dauerhaft von den Displays und Sensoren wegzuholen. Allenfalls können – und sollten – sie Raum lassen oder schaffen für andere Medien und für die unmittelbare, wenngleich ihrerseits medial beeinflußte Wahrnehmung dessen, was vor ihren Augen ist und sich bewegt; was dort, um es mit einem frühen Champion der Schriftkultur zu sagen, kreucht und fleucht. Aufmerksamkeit für Autos zum Beispiel, die den Weg des Fußgehers kreuzen könnten, oder für Fußgeher, die vom Fahrzeug des Lenkers, der womöglich gerade sein Handy (oder GPS) anstarrt, realiter erfaßt und ins zeitlose Jenseits befördert werden könnten. Aufmerksamkeit natürlich auch für die Schönheiten und die Nöte, die uns umgeben.
Das Gesagte gilt auch für die Schulen, für Pädagogik im allgemeinen, für Kidzania, für die Repúblicas de los niños in aller Welt. Es ist besser, der Digitalisierung und Vernetzung ins Auge zu blicken und sie in all ihren Grundlagen und Voraussetzungen, Möglichkeiten und Gefahren zu erforschen und zu erkennen, zum Beispiel in einem eigenen Schulfach, das einer ganz bestimmten, eben digitalen, vielleicht auch spielerischen Forschung, Recherche und Gestaltung Raum böte. Gleichzeitig aber bleibt es nötig, die überlieferten humanen, humanistischen Kompetenzen zu entwickeln und einzusetzen, Wissen nicht nur maschinell abrufen zu können, sondern sich anzueignen, so daß es Teil eines je spezifischen, individuellen Denkens wird, in dem Gründe und Wertungen ebenso eine Rolle spielen wie Häufigkeiten und Korrelationen. So ließen sich die Möglichkeiten des Denkens tatsächlich erweitern, die Literaten könnten auf Visualisierungen und Algorithmen zurückgreifen, die visuell Orientierten auf die Errungenschaften der Schriftkultur. Beide Verhaltensweisen wären in den Individuen vereint und sind es faktisch in zahlreichen Personen, denen man im wirklichen Leben begegnen kann. Wer das alles, Vergangenheit und Zukunft, auf den Nenner seiner menschlichen und persönlichen Existenz zu bringen versteht, hat einen weiteren Horizont und wird, im Glücksfall, auch weiterkommen, wird größere Fortschritte machen, da er sich der neuen Techniken bedienen kann. Für alle gefährlich wäre es, wenn die digitale Kultur ihre literarisch-humanistischen Wurzeln endgültig kappte. Anzeichen für diese Art von Gedankenlosigkeit sind massiv vorhanden, nicht zuletzt in den Institutionen, die über Bildung und Unbildung entscheiden. Eine Spaltung der Gesellschaft in (wenige) literati und (viele) illiterati wäre die Folge, und sie wäre vielleicht nie mehr gutzumachen. In den Eliten, nicht zuletzt bei den Programmierern und dank ihrer Programme, steigt die Intelligenz schwindelerregend, während in der Masse die nicht mehr nur selbstverschuldete, sondern selbstverliebte und selbstgenügsame Dummheit wächst. Die Illiteraten werden sich rächen wollen für das Unbehagen, das sie mit mehr oder weniger Recht in ihrer Welt von panis et circenses, von Bier und Video verspüren. An wem?
© Leopold Federmair
Ich wollte nur einen meiner Leitgedanken aus den letzten Tagen dazufügen: es hat den Anschein, als ob die Popkultur die bürgerliche »Salon-Kultur« ersetzt hat.
Der Prozess der Ablösung ist beinah schon abgeschlossen.
Damit will ich nicht auf die Unterscheidung Hoch-Dumm hinaus, denn dazu müsste man streng die Wissenschaften und Künste beiordnen, was natürlich schon wieder einen Zuschnitt auf die gebildeten Stände impliziert. Nein, ich meine ausgehend von meiner Faszination von Jane Austen wirklich die »Tea-Time-Kultur« des späten 18.Jahrhunderts (Kant!), also die künstlichen außerfamilialen Regeln der Begegnung und des Beisammenseins.
Natürlich sind die Widersinnigkeiten zahlreich, das will ich gerne zugestehen. Der Gedanke bewegt sich am Rande des Absurden. Aber ich meinte feststellen zu können, dass die Pop-Kultur bereits sehr zielgenau eine »öffentliche Persona« für die breite Masse anbietet, sogar verschiedene Typen. Und auch der Salon war ja mal »öffentlich«... Kann es sein, das die alten Leidenschaften für Schmetterlingssammlungen, Bridge-Spiele und Schopenhauer-Zitate dieselbe gesellige Funktion erfüllt haben, wie die Rapper und Gamer es in je ihrem Bereich in Anspruch nehmen?!
Natürlich bewege ich mich damit sehr weit vom elitären Marxismus fort, wie Adorno und Horkheimer es vorgeben.
Aber wenn wir den Profit und die Bildung mal beiseite lassen, bleibt eine Verkehrsform mit Interessenprofil übrig, die wir eine »spezifisch kulturalisierte außerfamiliale Persönlichkeit« (eben z.B. den Typ Rapper o.ä.) nennen könnten, bereit sich im allerkleinsten und klar, auch allerdümmsten Kreise sich mit anderen zu treffen und auseinander zu setzen.
Auch die Sorge um den Staat, der im Begriff der Bürgerlichkeit mitschwingt, wäre mit diesem Konzept eigentlich vom Tisch! Und wäre könnte leugnen, dass diese »Sorge« weniger wird... Die Koinzidenz ist augenfällig.
Danke schön für diesen Artikel, für diese Philippika (richtig geschrieben?)
Sie schreiben mir aus dem Herzen!
@Sophie
Die Ersetzung der Salonkultur durch die Popkultur (die ja, dem Wortsinn entsprechend, eine Massenkultur ist, im Unterschied zur Salonkultur) festzustellen, hilft beim Nachdenken über das, was vor sich geht. Man kann diese Ersetzung sogar goutieren, oder bestimmte Aspekte davon. Allerdings sollte man nicht aus den Augen verlieren (und das ist mir persönlich wichtig), daß in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s eine Gegen- und Subkultur gekapert und durchkommerzialisiert wurde (und heute digitalisiert, heißt auch: automatisiert wird), was ein Mainstream hervorgebracht hat, der alle Anklänge an Jane Austen, Kant oder – einer meiner Lieblinge – Montaigne mit seinem Freundschaftskult ausschließt.
Feststellen sollte man freilich auch, daß immer wieder Leute und (zwangsläufig minoritäre?) Bewegungen auftauchen, die das Gegenkulturelle, die individuelle Kommunikation, den persönlichen Ausdruck, schlicht und einfach: das Nachdenken jenseits der Automatismen neu beleben.
Ich bin mir auch nicht sicher, was die Bewertungen anbelangt. Und womöglich bleibt es bei dem Wortspiel Salon- versus Pop-Kultur. Pop selbst jedenfalls ist heterogen und insofern geschmacklos, als die Pop-Kultur im Zentrum zur Versatzstück-Hackung und zur Klischee-Ausbeutung neigt. An den Rändern des Leviathan exisistiert dann wohl eine Grauzone, wenn man an die Folk‑, Underground‑, oder sogar Klassikszene denkt.
Ist das ihre Idee, diese Zone möglicher Korruption sowohl bei den Künstler-Persönlichkeiten als auch den Werken, mitsamt der Auswahl durch die (!) PRODUZENTEN...
Das würde die Musik beschreiben, aber was ist mit der Literatur?! Gibt es da auch eine Grauzone, die nicht kategoriell sondern »entwicklungspsychologisch« zu fassen wäre?! Ich meine, der dynamische Aspekt ist doch entscheidend, was wird aus einem »kleinen Künstler«, dem Poet maudit?! Ein großer Künstler im Sinne der Genre-Treue, oder ein dekadenter A**** im Bannkreis der Kommerzialisierung.
Ich gebe zu, ich hab da ein echtes Subjektivitäts-Objektivitäts-Problem, vermutlich auch weil meine eigenen Sympathien nicht »reintönig« sind wie Montaigne es vorschwebt. Manchmal erscheint mir Pop sympathisch, aber mein Herz hängt an »komplizierteren Dingen«.
@Sophie
In meinem Text geht es mir in erster Linie um Zustandsbeschreibungen, dann um das Aufzeigen von Zusammenhängen, zuletzt auch um Wertungen. Ich glaube, vor allem wäre bei den in Ihren Kommentaren privilegierten Gesichtspunkten der Strukturwandel der Öffentlichkeit zu berücksichtigen, und zwar nicht der erste im 18. Jahrhundert, sondern der – ich weiß nicht wievielte – im 20./21 Jh. Der Salon stellt eine Öffentlichkeit von Leuten her, die einander persönlich kennen, mit der Möglichkeit der Vernetzung diverser Salons und dem Anschluß an Publikationsorgane, v. a. Zeitschriften. Massenmedien im heutigen Sinne sind das aber noch nicht. Popkultur basiert auf der Kulturindustrie, auf der endlosen technischen Reproduzierbarkeit. Die Wurzeln der mit der Digitalisierung im 21. Jh. gehäuft und verschärft auftretenden Phänomene wurden um die Mitte des 20. Jh.s von Benjamin, Adorno und einigen anderen bereits benannt (Benjamin positiver, Adorno strikt kulturpessimistisch). »Schuld« sind natürlich nicht die Computer, aber sie beschleunigen und verschärfen sehr. Aus all diesen Gründen ist eine allgemeine Rückkehr zur Öffentlichkeit der Salons kaum denkbar – man kann sie aber im Sinn einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dennoch hochhalten und pflegen und bestimmte Elemente in die mediale Popkultur einbringen. Es gibt ja auch in der deutschsprachigen Literatur eine bereits akademisch sanktionierte Pop-Strömung. Ein Beispiel für einen hervorragenden Autor aus dieser Strömung, der jedoch über sie hinausblickt und hinausgeht und das auch anstrebt, aber eben diese Pop-Elemente und ‑Haltungen sehr wohl einbringt, ist Thomas Melle. Ich habe den Verdacht, nach der Lektüre von »Die Welt im Rücken«, der Ernst seines Lebens hat ihn auf Distanz zu den Späßchen der speedigen Pop-Literaturen à la Stuckrad-Barre gebracht.
Um ein wenig eigene biographische Erfahrungen einzubringen (heute sehr einbringerisch drauf...): vor Jahren habe ich mich in diversen Tango-Szenen herumgetrieben. Es ist dies eine lokal wurzelnde, heute aber durchaus globalisierte Musik- und Tanzform, die sowohl volkstümliche Züge als auch, in bestimmten Ausprägungen, elitäre, sozusagen klassische Züge annimmt (Piazzolla z. B., aber auch, und grundsätzlich, der choreographierte Bühnentanz). In den sechziger Jahren war diese wunderbare, in sich widersprüchliche Kultur, die in zahllosen Salons gepflegt wird (»Milongas«) dem Aussterben nahe, und zwar wegen des Aufkommens der industrialisierten, technisch reproduzierbaren, mediatisierten Pop-Musik. Bis in die fünfziger Jahre konnte man keine Milongas ohne Orchester abhalten. Damit war es vorbei und ist es immer noch vorbei, auch wenn in Einzelfällen, wiederum im Sinne der Un/Gleichzeitigkeit, kleine Combos als Gustostückerln in die ansonsten von Computern und Lautsprechern bespielten Salons hereingebeten werden. Es gab in den achtziger Jahren ein erstaunliches weltweites Revival dieser Kultur, durchaus nicht nur »retro«, sondern mit neuen Formen, die da entstanden sind: zwischen Salon- und Popkultur, oder besser gesagt, mit Elementen aus beiden.
Tango ist minoritär, als Tänzer kann man nicht einfach nur konsumieren, wie das in der digitalen Welt üblich und sogar gefordert ist. Man muß aktiv werden, Fähigkeiten und Sinn und Urteilskraft entwickeln, kurz: etwas tun, für sich, für die anderen, für den Salon. Diese Art des Minoritären (was ja immer auch heißt: des Kleinen) ist nach meinem Verständnis unbedingt hochzuhalten. Insgesamt ist das Bedürfnis danach da und in der Summe auch gar nicht sooo minoritär. Der große Gegner ist der Populismus in allen seinen Spielarten mit seinem Großmächtigkeitsstreben. Kein Zufall, daß er sich mit den sog. »sozialen Medien« – die in bestimmten Abteilungen ja auch den Salon imitieren wollen – so gut verträgt.
Sie analysieren das wunderbar genau. In der Tat bin ich irgendwie bei dem letzten »Strukturwandel der Öffentlichkeit« auf der Strecke geblieben, auch rein intellektuell. Allein die technische Beschreibung in dieser Begrifflichkeit machte mir schon von Anfang an zu schaffen. Ich sehe inzwischen den narzisstischen Subjekt-Typus als Antwort auf diesen »Strukturwandel«, diesmal in sarkastischen Anführungszeichen. Es war eine Entgrenzung, genau wie Sie es schildern. Der Habitus, das »öffentlich wohl_angepasste« Subjekt, das diesen Wandel bewältigt, ist nie definiert worden, der Mensch in seinem natürlichen Vermögen als Maßstab verschwunden.
Diese Leerform wird anschließend (seit den 90er Jahren) von den narzisstisch orientierten Persönlichkeiten ausgefüllt, gewissermaßen frevelhaft substituiert. Ja, warum nicht Stuckrad-Barre hier anführen, er wird es mir nachsehen... Die Selbstdarsteller sind die einzig mögliche Verkehrsform in dieser Totalisierung.
Mit ihren Verweisen auf die lebendigen Minoritäten kann ich dennoch viel anfangen. Der Tango ist wirklich wundervoll. Diese Echtheiten wird es weiterhin geben.
Vorab: In Ihrem Text habe ich mich sehr angesprochen und heimisch gefühlt. Am meisten im zweiten Teil, weil der so wunderbar beobachtend, verwundert, erstaunt über das Bild das sich ihm bietet. So kam es jedenfalls an.
Wenn ich – in Kommentarspalten blogosphär leider weit verbreitet – ein Haar in der Suppe finden wollte, dann allenfalls, dass Sie mir hier im letzten Teil doch ein wenig zu sehr mit der gesellschaftskritische Abendlanduntergangsstimmung flirten, von der Sie sonst zum Glück immer so weit entfernt waren.
Selbst als Programmierer taumele ich nur durch den digitalen Wandel, das Merkelsche Neuland es ist auch mir weitestgehend unverständlich, selbst wenn ich weiß wie man einen IP-Header liest oder TCP-Sockets öffnet, habe ich seit Twitter irgendwie das Gefühl abgehängt, alt zu sein. Und muss doch meinem dreijährigen Sohn durch diesen Mediendschungel irgendwann eine Bresche schlagen, dass er nicht den Überblick verliere, während ich selbst nicht einmal meine Youtube-Abhängigkeit im Griff habe.
»Der Tango ist wirklich wundervoll. Diese Echtheiten wird es weiterhin geben.«
Eben. Ich weiß nicht, ob Majorität vs. Minoritäten, Schrift- vs. Bildkultur so sehr die Frage ist, weil wir dann die imaginär Wertungen, emotional-metaphorische Belegungen für die Seiten einbringen – vielleicht weil wir dies zur Orientierung benötigen. Bei dem »Verfall« der Schriftkultur bin ich mir da in mehrfacher Hinsicht unsicher. Zum einen ist das WWW textlicher Struktur, wie auch die meiste Kommunikation auf Facebook, Twitter oder per SMS – die Quantität von Text, die Jugendliche täglich konsumieren und produzieren dürfte deutlich gestiegen sein. Vielleicht ist das meiste Junk, aber so ist es mit der Literatur doch auch.
Zum anderen tue ich mich schwer damit dem Wort, der textlichen Fixierung unserer Kultur, den höchstens Stellenwert einzuordnen. Es mag in unserem Kulturkreis, und anderen auch, eine ererbte, über die Jahrhunderte festeingeschliffene Denkform sein – ja, im Anfang war das Wort – aber ist es nicht manchmal auch nur ein leerer Götzendienst, netter, sinnloser bookshelf porn auf den wir uns etwas zu viel einbilden?
Ich möchte den Bogen der Kulturkritik nicht allzu nietzeanisch überspannen, aber alle Kultur hat eben auch eine Zurichtung des Geistes auf gewisse, vielleicht sogar widernatürliche Weise. Wenn z.B. so große Areale unseres Gehirns auf visuelle Wahrnehmung trainiert wurden, warum sollen wir es dann so verhaustieren, indem wir uns krumm nur über diese Abfolge der immergleichen Symbole beugen? Weil wir das animal symbolicum sind? Vielleicht – aber es gibt, wenn wir Cassirer dann bemühen wollen, eben genau auch nicht-sprachliche oder nicht/vor-rationale Symbolwelten.
Von hier könnte man noch zur Symbolkritik Huxleys stoßen und den Lisp-Machinen der Firma Symbolics, aber ’s ist schon genug der Tour de force.
(Wenn mir eine sehr tangentielle Frage erlaubt sei: Haben Sie in Japan eine Reaktion auf Alpha-Go wahrgenommen? Das Lee-Sedol-Match hatte Korea und viele doch sehr geschockt, schien mir, fast wie einstens Kasparov-Deep-Blue.)