Aus­lö­schung (3)

— Teil 2

3

Ich ha­be von Kul­tur ge­spro­chen. Ge­nau­er, von kul­tu­rel­len Pro­duk­ten als wirt­schaft­li­chem Ein­satz, Exi­stenz­grund­la­ge welt­weit tä­ti­ger Fir­men. Des­halb der Ei­fer und Über­ei­fer, mit dem heu­te Ei­gen­tums­rech­te an letzt­lich im­ma­te­ri­el­len Din­gen wie Fil­me und Pop­songs, Fi­gu­ren und Ti­tel, Slo­gans und De­signs gel­tend ge­macht wer­den. In un­se­ren Köp­fen hallt die Dro­hung, wer ei­nen Film ko­pie­re, wer­de mit fünf Jah­ren Ge­fäng­nis be­straft. Und ein Groß­teil der Kon­su­men­ten-Pro­du­zen­ten, der Nut­zer und Selbst­dar­stel­ler, der Kun­den und Kö­ni­ge macht mit beim Ge­ze­ter, »das ge­hört doch mir« und »ich ha­be da­für be­zahlt« und »ich will das Geld, das mir zu­steht«. Der so­ge­nann­te Neo­li­be­ra­lis­mus ist tief in die Köp­fe und Her­zen ein­ge­drun­gen, um dort Wur­zeln zu schla­gen. Hork­hei­mer und Ador­no ha­ben nicht nur un­ter dem Ein­druck der Mas­sen­be­tö­rung durch den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, son­dern gleich­zei­tig un­ter dem nach­hal­ti­ge­ren Ein­druck von Hol­ly­wood und dem begin­nenden Fern­se­hen ih­re Theo­rie von der Gleich­schal­tung durch die Kul­tur­in­du­strie ent­wickelt. Die Theo­rie wur­de in un­ge­ahn­tem Aus­maß von den nach und nach geschaf­fenen Fak­ten be­stä­tigt. Mo­zart und Beet­ho­ven wür­den von die­ser In­du­strie al­lein zu Wer­be­zwecken ein­ge­setzt, mein­ten die ra­di­ka­len Kri­ti­ker. Sie konn­ten sich ver­mut­lich nicht vor­stel­len, daß man sich ei­nes Ta­ges in der Öf­fent­lich­keit – und teils in pri­va­ten Haus­hal­ten – gar nicht mehr be­we­gen kann, oh­ne von aku­sti­scher Kul­tur, durch­bro­chen von Wer­be­slo­gans, um­fan­gen zu wer­den. Frei­lich nicht von Wer­ken Mo­zarts oder Beet­ho­vens, son­dern von seich­te­ster Pop­mu­sik. Ei­ner Pop­mu­sik, die in den fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­ren als Ge­gen­kul­tur an­trat, in­zwi­schen aber na­he­zu rest­los von der mu­sik­in­du­stri­el­len Herr­schafts­kul­tur ge­ka­pert wor­den ist. Der vi­su­el­le Sie­ges­zug des Fern­se­hens und des­sen gei­sti­ge Fol­gen wur­den in den acht­zi­ger Jah­ren von Neil Post­man be­schrie­ben. Fern­seh­sta­tio­nen sind seit­her ins Kraut ge­schos­sen, es gibt kei­ne Se­kun­de am Tag, in der die Bil­der­flut nicht auf den Kon­su­men­ten, den User lau­ern wür­de. Die di­gi­ta­le Ver­net­zung hat die Vor­herr­schaft des Vi­su­el­len nur ver­schärft. In den Zei­ten vor der Ein­füh­rung der Schul­pflicht und der Er­fin­dung des Buch­drucks war die Ge­sell­schaft in ei­nen li­te­ra­ten und ei­nen il­li­te­ra­te Be­völ­ke­rungs­teil ge­spal­ten; die Schrif­tun­kun­di­gen spei­ste man mit Bil­dern ab, um ih­nen die Grund­la­gen der Kul­tur im Scho­ße der christ­lichen Re­li­gi­on zu ver­mit­teln. Heu­te wen­det sich die gro­ße Be­völ­ke­rungs­mehr­heit wie­der den Bil­dern zu, oh­ne Zwang und auch nicht, weil sie gar kei­ne Wahl hät­te, son­dern weil mu­si­ka­lisch un­ter­mal­te Bil­der leich­ter und ra­scher kon­su­mier­bar sind, da sie kein in­tel­lek­tu­el­les En­ga­ge­ment ver­lan­gen. Be­quem­lich­keit über al­les: wie sol­len da Mut und Tä­tig­keits­drang ge­dei­hen? Touch­screens und aku­sti­sche Sen­so­ren wer­den die Spal­tung lang­fri­stig ver­schär­fen, An­alpha­be­tis­mus könn­te ein ech­tes Pro­blem nicht nur an den Rän­dern der Ge­sell­schaft wer­den. War­um le­sen und schrei­ben, wo doch schau­en, hö­ren und be­rüh­ren ge­nügt?

Im­ma­nu­el Kant hat­te in sei­ner Schrift zur Be­ant­wor­tung der Fra­ge »Was ist Auf­klä­rung?« den selb­stän­di­gen Ge­brauch des ei­ge­nen Ver­stan­des als Vor­aus­set­zung für Mün­dig­keit und da­mit letzt­lich für De­mo­kra­tie dar­ge­stellt und an die Schrift­kul­tur ge­bun­den. Ver­kümmert die zwi­schen dem 18. und 20. Jahr­hun­dert ge­fe­stig­te Schrift­kul­tur, ver­küm­mern Mün­dig­keit und De­mo­kra­tie. Un­mün­dig­keit, schlich­ter ge­sagt: Dumm­heit, ist mit ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ver­fas­sung, wie Kant und die Auf­klä­rer sie an­streb­ten, nicht ver­ein­bar. Die Kul­tur­in­du­strie för­dert je­doch die Un­mün­dig­keit, in­dem sie nicht den Ver­stand, son­dern aus­schließ­lich Emo­tio­nen, Sin­ne und Trie­be an­spricht. Je stär­ker ge­wis­se Trie­be in­vol­viert wer­den, de­sto bes­ser für das Ge­schäft. Der pop­kul­tu­rel­le Kon­sum­ka­pi­ta­lis­mus heu­ti­ger Ta­ge er­zeugt und för­dert Süch­te nicht nur in Spiel­hal­len und in der Splat­ter-Ab­tei­lung der har­ten Dro­gen, son­dern an al­len Fron­ten, be­son­ders im Netz. So sieht das vor­läu­fi­ge End­sta­di­um der um­fas­sen­den »Kul­tu­ra­li­sie­rung« aus, die der Ent­wick­lung von ei­nem auf Pro­duk­ti­on und Ar­beit, Maß und Ver­nunft, so­zia­ler Dis­zi­plin und per­sön­li­cher Selbst­be­herr­schung ori­en­tier­ten Ka­pi­ta­lis­mus zu ei­nem kon­su­mi­sti­schen und hedonis­tischen, hy­per­ak­ti­ven und zu­gleich an­ge­paß­ten, au­gen­blicksver­haf­te­ten, ge­schichts­lo­sen Per­sön­lich­keits­mo­dell im Rah­men der post­mo­der­nen Wirt­schafts­form ent­spricht und dient.

Aber es gibt Ni­schen. Nie­mand wird ge­zwun­gen, je­der ist Kö­nig und hat die Frei­heit der Wahl. Ach ja, ich ha­be ein­gangs von Viel­falt ge­spro­chen, und auf den er­sten Blick herrscht heu­te grö­ße­re Viel­falt denn je, man kann über­all al­les kau­fen, wäh­rend das In­ter­net in sei­ner Vir­tua­li­tät se­kun­den­schnell Zu­gang schafft zu al­len Grup­pen, Sti­len, Mo­den, Or­ten, Land­schaf­ten, Zei­ten... So scheint es. Und wie ist es? Die al­te, von He­gel und Kon­sor­ten so hart­näckig ge­stell­te Fra­ge drängt sich neu­er­lich auf, denn wäh­rend der kri­ti­scher Be­ob­ach­ter auf sei­nem ver­lo­re­nen Po­sten das Wu­chern der Mög­lich­kei­ten be­ob­ach­tet, stellt sich gleich­zei­tig her­aus, daß im­mer we­ni­ger Mög­lich­kei­ten wahr­ge­nom­men wer­den. Der Main­stream setzt sich durch, er fließt und wird da­bei im­mer brei­ter und rei­ßen­der, auch wenn er sich dem An­schein nach ru­hig fort­be­wegt. Däm­li­che Vi­deo­clips mit und oh­ne Mu­sik, die von Mil­lio­nen »Be­su­chern« und fall­wei­se auch bis zum En­de ge­se­hen wer­den, fin­det man im In­ter­net zu­hauf. Ich möch­te hier ein Bei­spiel schil­dern. In­ner­halb we­ni­ger Mo­na­te wur­de ein knapp ein­mi­nü­ti­ger Clip in Ja­pan un­ge­heu­er po­pu­lär. Er zeigt ei­nen Mann mit recht durch­schnitt­li­chem, eher se­ri­ös wir­ken­dem Ge­sicht und geschmack­loser gold­gel­ber Klei­dung, der ei­nen Song (oder eher Sprech­ge­sang) zum Be­sten gibt und da­zu eher un­be­hol­fen tanzt. Der Song heißt PPAP, was ei­ne Ab­kür­zung für Pen-Pi­neapp­le-Pen ist. Der Text be­steht aus nicht viel mehr als der Wort­fol­ge »I have a pen, I have a ap­ple, I have pin­app­le, apo pen...« Mei­ne zehn­jäh­ri­ge Toch­ter ha­be ich dar­auf aufmerk­sam ge­macht, daß es sich hier um mi­se­ra­bles Eng­lisch han­delt. Ih­re Ant­wort: »Das ha­be ich mir schon ge­dacht.« Die mei­sten ja­pa­ni­schen Kon­su­men­ten des Clips, ob Kin­der oder Er­wach­se­ne, kom­men gar nicht auf die Idee, sich Ge­dan­ken über die sprach­li­che Rich­tig­keit zu ma­chen. Im Ja­pa­ni­schen gibt es kei­ne Ar­ti­kel; sie in ei­ner Fremd­spra­che zu er­ler­nen, ist für Ja­pa­ner be­son­ders schwer. Pi­ko­ta­ro, so der Künst­ler­na­me des Per­for­mers, wie­der­holt schlicht und ein­fach die Feh­ler, die Ja­pa­ner stän­dig ma­chen. Iro­nie­frei, wit­zig, stur. Statt zur Ver­bes­se­rung bei­zu­tra­gen, be­stärkt er das Nicht­wis­sen und die Unmündig­keit, die auch der ge­wöhn­li­che Schul­un­ter­richt nach mei­nen Be­ob­ach­tun­gen zu be­he­ben gar nicht ge­willt ist. Pi­ko­ta­ro ist üb­ri­gens bei wei­tem nicht min­der­jäh­rig, son­dern 43 Jah­re alt. Sein Clip hält im Ja­nu­ar 2017, ein hal­bes Jahr nach sei­ner Erstveröffent­lichung, bei mehr als 110 Mil­lio­nen – ge­nau: 110.506.158 – Auf­ru­fen. Am Sil­ve­ster­abend ha­be ich Pi­ko­ta­ro in sei­ner ti­ger­ge­fleck­ten gol­de­nen Kluft in der all­seits be­lieb­ten, nur ein­mal pro Jahr aus­ge­strahl­ten Mu­sik­sen­dung ko­ha­ku uta gas­sen ge­se­hen, bei ei­nem Kurz­auf­tritt mit PPAP, ne­ben, wenn man so will, ernst­haf­ten Sän­gern, Mu­si­kern und so­ge­nann­ten »Idols« der Pop­mu­sik­in­du­strie. Von fern er­in­nert mich PPAP an Da da da. Die­ser Minimal­popsong wur­de An­fang der acht­zi­ger Jah­re, in der Zeit des be­gin­nen­den Neo­li­be­ra­lis­mus, von der neu­deut­schen Grup­pe Trio im­mer­hin noch mit ei­ner ge­wis­sen Di­stanz zum ei­ge­nen Tun vor­ge­tra­gen.

Ein osten­ta­tiv in­fan­ti­ler Typ, bis da­to völ­lig un­be­kannt, ein so­ge­nann­ter You­tube-Mil­li­ar­där, der von ei­ner gan­zen Na­ti­on be­klatscht wird: Pi­ko­ta­ro il­lu­striert den End­sieg der von Hork­hei­mer und Ador­no in den vier­zi­ger Jah­ren pro­phe­zei­end be­schrie­be­nen Kul­tur­in­du­strie. Das In­ter­net hat ihm nichts ent­ge­gen­zu­set­zen, es macht ihn erst voll­ständig. Daß da­ne­ben klei­ne Platt­for­men für al­ter­na­ti­ve Per­for­man­ces be­stehen, will ich nicht leug­nen. Im öster­rei­chi­schen Ra­dio­sen­der Ö 3, mit dem ich in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren auf­wuchs, hör­te ich an­spruchs­vol­le Pop­mu­sik, zum Bei­spiel von Bob Dy­lan, in­zwi­schen Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger, ich hör­te fran­zö­si­sche Chan­sons und nord­ame­ri­ka­ni­sche Folk­mu­sik oder di­ver­sen Jazz, von Wal­ter Ri­chard Lan­ger, ei­nem be­son­ne­nen Nach­rich­ten­spre­cher, prä­sen­tiert und er­läu­tert. Ö 3 ist heu­te voll­stän­dig kom­mer­zia­li­siert, Jazz und an­spruchs­vol­le­re Pop­mu­sik sind in den Klas­sik-Sen­der Ö 1 ab­ge­drängt, der sich al­le Mü­he gibt, auch noch klas­si­sche Mu­sik, Li­te­ra­tur und so­ge­nann­te »Wort­sen­dun­gen« ein­zu­schrän­ken.

Wo es ei­nen Main­stream gibt, gibt es auch Ne­ben­flüs­se. Die­se mün­den frü­her oder spä­ter in den Haupt­strom, wo­bei der Rhyth­mus schnel­ler wird, so daß die Ne­ben­flüs­se vom brei­ten Strom mit­ge­ris­sen wer­den und dar­in er­trin­ken. Anything goes, hieß es in je­nen fer­nen Zei­ten, als die Post­mo­der­ne aus­ge­ru­fen wur­de. Schon da­mals wa­ren schwä­che­re Stim­men zu hö­ren, die No Fu­ture! rie­fen. Tat­säch­lich ha­ben Al­ter­na­ti­ven in­zwi­schen we­nig Raum und we­nig Zu­kunft. Al­les geht, und nichts geht mehr. Die Dy­na­mik des Main­streams wird durch das In­ter­net und die flä­chen­decken­de Ver­brei­tung mo­bi­ler Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­rä­te be­schleu­nigt, was zu­al­ler­erst den tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen, un­ter de­nen die Kom­mu­ni­ka­ti­on statt­fin­det, ge­schul­det ist. Al­go­rith­men ar­bei­ten mit zu­vor fest­ge­leg­ten Va­ria­blen und ein­ge­ge­be­nen Da­ten, die sie al­len­falls neu kom­bi­nie­ren kön­nen. Sie sind nicht krea­tiv, son­dern wie­der­ho­len Be­kann­tes, schla­gen den Nut­zern Glei­ches und Ähn­li­ches vor und ver­stär­ken da­mit Trends, die sie ein­mal aus­ge­macht ha­ben. Al­les Neue ist dem Al­go­rith­mus fremd, Über­ra­schun­gen läßt er nicht zu. Dies ist der tie­fe­re Grund, wes­halb das In­ter­net An­pas­sung för­dert, Ge­wohn­hei­ten be­dient, Süch­te nährt und letz­ten En­des, be­son­ders durch die struk­tu­rel­len Ste­reo­ty­pe sei­ner »so­zia­len Me­di­en«, an­ge­paß­te Cha­rak­te­re her­vor­bringt, de­nen es an ech­ter Neu­gier man­gelt. Das vir­tu­el­le Le­ben in der zu­gleich auf­ge­dräng­ten und selbst­ge­wähl­ten Fil­ter­bla­se ist ei­ne ver­brei­te­te Er­schei­nungs­form die­ses Be­funds.

Bü­cher wer­den heu­te von ei­ner Min­der­heit ge­le­sen. Sol­che Bü­cher, die ich der Li­te­ra­tur, den bel­les lett­res im Sinn der li­te­ra­ri­schen Tra­di­ti­on von Goe­the über Flau­bert zu Joy­ce, von Mo­liè­re zu Tschechow, von Matsuo Bas­ho zu Fer­nan­do Pes­soa zu­rech­nen wür­de, wer­den von ei­ner sehr klei­nen Min­der­heit in­ner­halb die­ser Min­der­heit ge­le­sen. Ver­fügbare Sta­ti­sti­ken über Le­se­ge­wohn­hei­ten tei­len un­ter­schied­li­che Zah­len mit; ich fin­de sie ver­wir­rend, lie­ber ver­las­se ich mich auf den ei­ge­nen Ein­druck. (Oh­ne­hin wirft je­de sol­che Sta­ti­stik so­gleich die Fra­ge auf, was Le­sen ei­gent­lich be­deu­tet, wie ge­le­sen wird, ob und wie es meß­bar ist, wie man Aus­künf­te dar­über er­hält, ob die Aus­künf­te vertrauens­würdig sind usw.) Die li­te­ra­ri­sche Kul­tur war einst vor­herr­schend, sie be­setzt heu­te, aufs Gan­ze ge­se­hen, nur noch ei­ne Ni­sche, auch wenn en­ga­gier­te Päd­ago­gen, teils mit Er­folg, Kin­der und Ju­gend­li­che be­wußt zum Le­sen an­hal­ten. Nun ist es aber so, daß je­ne Viel­falt, von der hier die Re­de ist, durch die Tä­tig­keit des Phan­ta­sie­rens hervor­gebracht wird, al­so durch die Vorstellungs‑, Ein­bil­dungs und Er­fin­dungs­kraft. Die­se Fä­hig­keit wie­der­um wird durch die Schrift­kul­tur we­sent­lich mehr ent­wickelt und be­an­sprucht als durch ei­ne Bil­der­flut, die den Kon­su­men­ten auf die ge­ge­be­ne Bild­lich­keit fest­legt und ihm, bei den gän­gi­gen Nut­zungs­wei­sen, zum Phan­ta­sie­ren gar kei­ne Zeit läßt, auch wenn sie in ei­ni­gen ih­rer Gen­res – Hor­ror und Fan­ta­sy – noch so sehr ins Phan­ta­sti­sche oder Ima­gi­nä­re schweift. Le­sen be­deu­tet Viel­falt, Schrei­ben be­deu­tet Viel­falt, bei­des zu­sam­men setzt die Men­schen in­stand, sich Din­ge und Wel­ten vor­zu­stel­len und die Vor­stel­lun­gen oder Ein­bil­dun­gen mit dem, was sie in ih­rer Um­ge­bung rea­li­ter er­fah­ren, in Be­zie­hung zu set­zen. Der Mög­lich­keits­sinn, den Ul­rich, Mu­sils Stell­ver­tre­ter im Mann oh­ne Eigen­schaften, pro­pa­giert, ist ein emi­nent li­te­ra­ri­scher Sinn. Kein Zu­fall, daß Ul­rich das hy­po­the­ti­sche Le­ben, das er vor­schlägt, als Le­ben wie in ei­nem Ro­man cha­rak­te­ri­siert. Der Ge­brauch die­ses Sinns be­freit das Sub­jekt, wäh­rend die vir­tu­el­le Bil­der­welt es in­mit­ten all der Flüch­tig­keit, die der elek­tro­nisch ver­netz­ten Welt eig­net, auf das­je­ni­ge fest­legt, was ist oder zu sein vor­ge­ge­ben wird.

Vom Buch blickt der Le­ser auf, sein Blick be­ginnt zu schwei­fen oder wen­det sich nach in­nen. Kehrt die­ser Le­ser, nach­dem er sich in sei­ner ei­ge­nen Vor­stel­lungs- und Ge­dan­ken­welt er­gan­gen hat, zur Buch­sei­te mit ih­ren Sze­nen, Bil­dern und Ge­dan­ken zu­rück, hat sich dort nichts ver­än­dert, der Le­ser fin­det oh­ne wei­te­res in den Fluß des Tex­tes zu­rück. Daß Kin­der vor dem Fern­se­her oder dem Com­pu­ter­dis­play mit halb ge­öff­ne­tem Mund star­ren, soll­te uns nicht be­un­ru­hi­gen; es ist der Aus­druck je­ner Kon­zen­tra­ti­on, die sie beim Bü­cher­le­sen eben­falls an den Tag le­gen. Das Pro­blem liegt eher dar­in, daß sie als Zu­se­her ge­fes­selt sind und mit dem Schau­en nicht auf­hö­ren wol­len, ja, oft­mals so­gar süch­tig wer­den. Auch die Lek­tü­re kann fes­selnd sein, aber sie be­freit und in­di­vi­dua­li­siert, in­so­fern je­der ein­zel­ne Le­ser sei­nen Weg fin­den und Bil­der er­fin­den muß.

Im 21. Jahr­hun­dert be­steht kei­ne Mög­lich­keit, die Leu­te dau­er­haft von den Dis­plays und Sen­so­ren weg­zu­ho­len. Al­len­falls kön­nen – und soll­ten – sie Raum las­sen oder schaf­fen für an­de­re Me­di­en und für die un­mit­tel­ba­re, wenn­gleich ih­rer­seits me­di­al be­ein­fluß­te Wahr­neh­mung des­sen, was vor ih­ren Au­gen ist und sich be­wegt; was dort, um es mit ei­nem frü­hen Cham­pi­on der Schrift­kul­tur zu sa­gen, kreucht und fleucht. Auf­merk­sam­keit für Au­tos zum Bei­spiel, die den Weg des Fuß­ge­hers kreu­zen könn­ten, oder für Fuß­ge­her, die vom Fahr­zeug des Len­kers, der wo­mög­lich ge­ra­de sein Han­dy (oder GPS) an­starrt, rea­li­ter er­faßt und ins zeit­lo­se Jen­seits be­för­dert wer­den könn­ten. Auf­merk­sam­keit na­tür­lich auch für die Schön­hei­ten und die Nö­te, die uns um­ge­ben.

Das Ge­sag­te gilt auch für die Schu­len, für Päd­ago­gik im all­ge­mei­nen, für Kid­za­nia, für die Repú­b­li­cas de los ni­ños in al­ler Welt. Es ist bes­ser, der Di­gi­ta­li­sie­rung und Ver­net­zung ins Au­ge zu blicken und sie in all ih­ren Grund­la­gen und Vor­aus­set­zun­gen, Mög­lich­kei­ten und Ge­fah­ren zu er­for­schen und zu er­ken­nen, zum Bei­spiel in ei­nem ei­ge­nen Schul­fach, das ei­ner ganz be­stimm­ten, eben di­gi­ta­len, viel­leicht auch spie­le­ri­schen For­schung, Re­cher­che und Ge­stal­tung Raum bö­te. Gleich­zei­tig aber bleibt es nö­tig, die über­lie­fer­ten hu­ma­nen, hu­ma­ni­sti­schen Kom­pe­ten­zen zu ent­wickeln und ein­zu­set­zen, Wis­sen nicht nur maschi­nell ab­ru­fen zu kön­nen, son­dern sich an­zu­eig­nen, so daß es Teil ei­nes je spe­zi­fi­schen, in­di­vi­du­el­len Den­kens wird, in dem Grün­de und Wer­tun­gen eben­so ei­ne Rol­le spie­len wie Häu­fig­kei­ten und Kor­re­la­tio­nen. So lie­ßen sich die Mög­lich­kei­ten des Den­kens tat­säch­lich er­wei­tern, die Li­te­ra­ten könn­ten auf Vi­sua­li­sie­run­gen und Al­go­rith­men zu­rück­grei­fen, die vi­su­ell Ori­en­tier­ten auf die Er­run­gen­schaf­ten der Schrift­kul­tur. Bei­de Ver­hal­tens­wei­sen wä­ren in den In­di­vi­du­en ver­eint und sind es fak­tisch in zahl­rei­chen Per­so­nen, de­nen man im wirk­li­chen Le­ben be­geg­nen kann. Wer das al­les, Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft, auf den Nen­ner sei­ner mensch­li­chen und per­sön­li­chen Exi­stenz zu brin­gen ver­steht, hat ei­nen wei­te­ren Ho­ri­zont und wird, im Glücks­fall, auch wei­ter­kom­men, wird grö­ße­re Fort­schrit­te ma­chen, da er sich der neu­en Tech­ni­ken be­die­nen kann. Für al­le ge­fähr­lich wä­re es, wenn die di­gi­ta­le Kul­tur ih­re li­te­ra­risch-hu­ma­ni­sti­schen Wur­zeln end­gül­tig kapp­te. An­zei­chen für die­se Art von Ge­dan­ken­lo­sig­keit sind mas­siv vor­han­den, nicht zu­letzt in den Insti­tutionen, die über Bil­dung und Un­bil­dung ent­schei­den. Ei­ne Spal­tung der Ge­sell­schaft in (we­ni­ge) li­te­ra­ti und (vie­le) il­li­te­ra­ti wä­re die Fol­ge, und sie wä­re viel­leicht nie mehr gut­zu­ma­chen. In den Eli­ten, nicht zu­letzt bei den Pro­gram­mie­rern und dank ih­rer Pro­gram­me, steigt die In­tel­li­genz schwin­del­erre­gend, wäh­rend in der Mas­se die nicht mehr nur selbst­ver­schul­de­te, son­dern selbst­ver­lieb­te und selbst­ge­nüg­sa­me Dumm­heit wächst. Die Il­li­te­ra­ten wer­den sich rä­chen wol­len für das Un­be­ha­gen, das sie mit mehr oder we­ni­ger Recht in ih­rer Welt von pa­nis et cir­cen­ses, von Bier und Vi­deo ver­spü­ren. An wem?

© Leo­pold Fe­der­mair

7 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich woll­te nur ei­nen mei­ner Leit­ge­dan­ken aus den letz­ten Ta­gen da­zu­fü­gen: es hat den An­schein, als ob die Pop­kul­tur die bür­ger­li­che »Sa­lon-Kul­tur« er­setzt hat.
    Der Pro­zess der Ab­lö­sung ist bei­nah schon ab­ge­schlos­sen.
    Da­mit will ich nicht auf die Un­ter­schei­dung Hoch-Dumm hin­aus, denn da­zu müss­te man streng die Wis­sen­schaf­ten und Kün­ste bei­ord­nen, was na­tür­lich schon wie­der ei­nen Zu­schnitt auf die ge­bil­de­ten Stän­de im­pli­ziert. Nein, ich mei­ne aus­ge­hend von mei­ner Fas­zi­na­ti­on von Ja­ne Austen wirk­lich die »Tea-Time-Kul­tur« des spä­ten 18.Jahrhunderts (Kant!), al­so die künst­li­chen au­ßer­fa­mi­lia­len Re­geln der Be­geg­nung und des Bei­sam­men­seins.
    Na­tür­lich sind die Wi­der­sin­nig­kei­ten zahl­reich, das will ich ger­ne zu­ge­ste­hen. Der Ge­dan­ke be­wegt sich am Ran­de des Ab­sur­den. Aber ich mein­te fest­stel­len zu kön­nen, dass die Pop-Kul­tur be­reits sehr ziel­ge­nau ei­ne »öf­fent­li­che Per­so­na« für die brei­te Mas­se an­bie­tet, so­gar ver­schie­de­ne Ty­pen. Und auch der Sa­lon war ja mal »öf­fent­lich«... Kann es sein, das die al­ten Lei­den­schaf­ten für Schmet­ter­lings­samm­lun­gen, Bridge-Spie­le und Scho­pen­hau­er-Zi­ta­te die­sel­be ge­sel­li­ge Funk­ti­on er­füllt ha­ben, wie die Rap­per und Ga­mer es in je ih­rem Be­reich in An­spruch neh­men?!
    Na­tür­lich be­we­ge ich mich da­mit sehr weit vom eli­tä­ren Mar­xis­mus fort, wie Ador­no und Hork­hei­mer es vor­ge­ben.
    Aber wenn wir den Pro­fit und die Bil­dung mal bei­sei­te las­sen, bleibt ei­ne Ver­kehrs­form mit In­ter­es­sen­pro­fil üb­rig, die wir ei­ne »spe­zi­fisch kul­tu­ra­li­sier­te au­ßer­fa­mi­lia­le Per­sön­lich­keit« (eben z.B. den Typ Rap­per o.ä.) nen­nen könn­ten, be­reit sich im al­ler­klein­sten und klar, auch al­ler­dümm­sten Krei­se sich mit an­de­ren zu tref­fen und aus­ein­an­der zu set­zen.
    Auch die Sor­ge um den Staat, der im Be­griff der Bür­ger­lich­keit mit­schwingt, wä­re mit die­sem Kon­zept ei­gent­lich vom Tisch! Und wä­re könn­te leug­nen, dass die­se »Sor­ge« we­ni­ger wird... Die Ko­in­zi­denz ist au­gen­fäl­lig.

  2. @Sophie
    Die Er­set­zung der Sa­lon­kul­tur durch die Pop­kul­tur (die ja, dem Wort­sinn ent­spre­chend, ei­ne Mas­sen­kul­tur ist, im Un­ter­schied zur Sa­lon­kul­tur) fest­zu­stel­len, hilft beim Nach­den­ken über das, was vor sich geht. Man kann die­se Er­set­zung so­gar gou­tie­ren, oder be­stimm­te Aspek­te da­von. Al­ler­dings soll­te man nicht aus den Au­gen ver­lie­ren (und das ist mir per­sön­lich wich­tig), daß in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jh.s ei­ne Ge­gen- und Sub­kul­tur ge­ka­pert und durch­kom­mer­zia­li­siert wur­de (und heu­te di­gi­ta­li­siert, heißt auch: au­to­ma­ti­siert wird), was ein Main­stream her­vor­ge­bracht hat, der al­le An­klän­ge an Ja­ne Austen, Kant oder – ei­ner mei­ner Lieb­lin­ge – Mon­tai­gne mit sei­nem Freund­schafts­kult aus­schließt.
    Fest­stel­len soll­te man frei­lich auch, daß im­mer wie­der Leu­te und (zwangs­läu­fig mi­no­ri­tä­re?) Be­we­gun­gen auf­tau­chen, die das Ge­gen­kul­tu­rel­le, die in­di­vi­du­el­le Kom­mu­ni­ka­ti­on, den per­sön­li­chen Aus­druck, schlicht und ein­fach: das Nach­den­ken jen­seits der Au­to­ma­tis­men neu be­le­ben.

  3. Ich bin mir auch nicht si­cher, was die Be­wer­tun­gen an­be­langt. Und wo­mög­lich bleibt es bei dem Wort­spiel Sa­lon- ver­sus Pop-Kul­tur. Pop selbst je­den­falls ist he­te­ro­gen und in­so­fern ge­schmack­los, als die Pop-Kul­tur im Zen­trum zur Ver­satz­stück-Hackung und zur Kli­schee-Aus­beu­tung neigt. An den Rän­dern des Le­via­than exi­si­stiert dann wohl ei­ne Grau­zo­ne, wenn man an die Folk‑, Underground‑, oder so­gar Klas­sik­sze­ne denkt.
    Ist das ih­re Idee, die­se Zo­ne mög­li­cher Kor­rup­ti­on so­wohl bei den Künst­ler-Per­sön­lich­kei­ten als auch den Wer­ken, mit­samt der Aus­wahl durch die (!) PRODUZENTEN...
    Das wür­de die Mu­sik be­schrei­ben, aber was ist mit der Li­te­ra­tur?! Gibt es da auch ei­ne Grau­zo­ne, die nicht ka­te­go­riell son­dern »ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gisch« zu fas­sen wä­re?! Ich mei­ne, der dy­na­mi­sche Aspekt ist doch ent­schei­dend, was wird aus ei­nem »klei­nen Künst­ler«, dem Po­et mau­dit?! Ein gro­ßer Künst­ler im Sin­ne der Gen­re-Treue, oder ein de­ka­den­ter A**** im Bann­kreis der Kom­mer­zia­li­sie­rung.
    Ich ge­be zu, ich hab da ein ech­tes Sub­jek­ti­vi­täts-Ob­jek­ti­vi­täts-Pro­blem, ver­mut­lich auch weil mei­ne ei­ge­nen Sym­pa­thien nicht »rein­tö­nig« sind wie Mon­tai­gne es vor­schwebt. Manch­mal er­scheint mir Pop sym­pa­thisch, aber mein Herz hängt an »kom­pli­zier­te­ren Din­gen«.

  4. @Sophie

    In mei­nem Text geht es mir in er­ster Li­nie um Zu­stands­be­schrei­bun­gen, dann um das Auf­zei­gen von Zu­sam­men­hän­gen, zu­letzt auch um Wer­tun­gen. Ich glau­be, vor al­lem wä­re bei den in Ih­ren Kom­men­ta­ren pri­vi­le­gier­ten Ge­sichts­punk­ten der Struk­tur­wan­del der Öf­fent­lich­keit zu be­rück­sich­ti­gen, und zwar nicht der er­ste im 18. Jahr­hun­dert, son­dern der – ich weiß nicht wie­viel­te – im 20./21 Jh. Der Sa­lon stellt ei­ne Öf­fent­lich­keit von Leu­ten her, die ein­an­der per­sön­lich ken­nen, mit der Mög­lich­keit der Ver­net­zung di­ver­ser Sa­lons und dem An­schluß an Pu­bli­ka­ti­ons­or­ga­ne, v. a. Zeit­schrif­ten. Mas­sen­me­di­en im heu­ti­gen Sin­ne sind das aber noch nicht. Pop­kul­tur ba­siert auf der Kul­tur­in­du­strie, auf der end­lo­sen tech­ni­schen Re­pro­du­zier­bar­keit. Die Wur­zeln der mit der Di­gi­ta­li­sie­rung im 21. Jh. ge­häuft und ver­schärft auf­tre­ten­den Phä­no­me­ne wur­den um die Mit­te des 20. Jh.s von Ben­ja­min, Ador­no und ei­ni­gen an­de­ren be­reits be­nannt (Ben­ja­min po­si­ti­ver, Ador­no strikt kul­tur­pes­si­mi­stisch). »Schuld« sind na­tür­lich nicht die Com­pu­ter, aber sie be­schleu­ni­gen und ver­schär­fen sehr. Aus all die­sen Grün­den ist ei­ne all­ge­mei­ne Rück­kehr zur Öf­fent­lich­keit der Sa­lons kaum denk­bar – man kann sie aber im Sinn ei­ner Gleich­zei­tig­keit des Un­gleich­zei­ti­gen den­noch hoch­hal­ten und pfle­gen und be­stimm­te Ele­men­te in die me­dia­le Pop­kul­tur ein­brin­gen. Es gibt ja auch in der deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur ei­ne be­reits aka­de­misch sank­tio­nier­te Pop-Strö­mung. Ein Bei­spiel für ei­nen her­vor­ra­gen­den Au­tor aus die­ser Strö­mung, der je­doch über sie hin­aus­blickt und hin­aus­geht und das auch an­strebt, aber eben die­se Pop-Ele­men­te und ‑Hal­tun­gen sehr wohl ein­bringt, ist Tho­mas Mel­le. Ich ha­be den Ver­dacht, nach der Lek­tü­re von »Die Welt im Rücken«, der Ernst sei­nes Le­bens hat ihn auf Di­stanz zu den Späß­chen der spee­di­gen Pop-Li­te­ra­tu­ren à la Stuck­rad-Bar­re ge­bracht.

    Um ein we­nig ei­ge­ne bio­gra­phi­sche Er­fah­run­gen ein­zu­brin­gen (heu­te sehr ein­brin­ge­risch drauf...): vor Jah­ren ha­be ich mich in di­ver­sen Tan­go-Sze­nen her­um­ge­trie­ben. Es ist dies ei­ne lo­kal wur­zeln­de, heu­te aber durch­aus glo­ba­li­sier­te Mu­sik- und Tanz­form, die so­wohl volks­tüm­li­che Zü­ge als auch, in be­stimm­ten Aus­prä­gun­gen, eli­tä­re, so­zu­sa­gen klas­si­sche Zü­ge an­nimmt (Piaz­zolla z. B., aber auch, und grund­sätz­lich, der cho­reo­gra­phier­te Büh­nen­tanz). In den sech­zi­ger Jah­ren war die­se wun­der­ba­re, in sich wi­der­sprüch­li­che Kul­tur, die in zahl­lo­sen Sa­lons ge­pflegt wird (»Mi­lon­gas«) dem Aus­ster­ben na­he, und zwar we­gen des Auf­kom­mens der in­du­stria­li­sier­ten, tech­nisch re­pro­du­zier­ba­ren, me­dia­ti­sier­ten Pop-Mu­sik. Bis in die fünf­zi­ger Jah­re konn­te man kei­ne Mi­lon­gas oh­ne Or­che­ster ab­hal­ten. Da­mit war es vor­bei und ist es im­mer noch vor­bei, auch wenn in Ein­zel­fäl­len, wie­der­um im Sin­ne der Un/Gleichzeitigkeit, klei­ne Com­bos als Gu­sto­stückerln in die an­son­sten von Com­pu­tern und Laut­spre­chern be­spiel­ten Sa­lons her­ein­ge­be­ten wer­den. Es gab in den acht­zi­ger Jah­ren ein er­staun­li­ches welt­wei­tes Re­vi­val die­ser Kul­tur, durch­aus nicht nur »re­tro«, son­dern mit neu­en For­men, die da ent­stan­den sind: zwi­schen Sa­lon- und Pop­kul­tur, oder bes­ser ge­sagt, mit Ele­men­ten aus bei­den.
    Tan­go ist mi­no­ri­tär, als Tän­zer kann man nicht ein­fach nur kon­su­mie­ren, wie das in der di­gi­ta­len Welt üb­lich und so­gar ge­for­dert ist. Man muß ak­tiv wer­den, Fä­hig­kei­ten und Sinn und Ur­teils­kraft ent­wickeln, kurz: et­was tun, für sich, für die an­de­ren, für den Sa­lon. Die­se Art des Mi­no­ri­tä­ren (was ja im­mer auch heißt: des Klei­nen) ist nach mei­nem Ver­ständ­nis un­be­dingt hoch­zu­hal­ten. Ins­ge­samt ist das Be­dürf­nis da­nach da und in der Sum­me auch gar nicht sooo mi­no­ri­tär. Der gro­ße Geg­ner ist der Po­pu­lis­mus in al­len sei­nen Spiel­ar­ten mit sei­nem Groß­mäch­tig­keits­stre­ben. Kein Zu­fall, daß er sich mit den sog. »so­zia­len Me­di­en« – die in be­stimm­ten Ab­tei­lun­gen ja auch den Sa­lon imi­tie­ren wol­len – so gut ver­trägt.

  5. Sie ana­ly­sie­ren das wun­der­bar ge­nau. In der Tat bin ich ir­gend­wie bei dem letz­ten »Struk­tur­wan­del der Öf­fent­lich­keit« auf der Strecke ge­blie­ben, auch rein in­tel­lek­tu­ell. Al­lein die tech­ni­sche Be­schrei­bung in die­ser Be­griff­lich­keit mach­te mir schon von An­fang an zu schaf­fen. Ich se­he in­zwi­schen den nar­ziss­ti­schen Sub­jekt-Ty­pus als Ant­wort auf die­sen »Struk­tur­wan­del«, dies­mal in sar­ka­sti­schen An­füh­rungs­zei­chen. Es war ei­ne Ent­gren­zung, ge­nau wie Sie es schil­dern. Der Ha­bi­tus, das »öf­fent­lich wohl_angepasste« Sub­jekt, das die­sen Wan­del be­wäl­tigt, ist nie de­fi­niert wor­den, der Mensch in sei­nem na­tür­li­chen Ver­mö­gen als Maß­stab ver­schwun­den.
    Die­se Leer­form wird an­schlie­ßend (seit den 90er Jah­ren) von den nar­ziss­tisch ori­en­tier­ten Per­sön­lich­kei­ten aus­ge­füllt, ge­wis­ser­ma­ßen fre­vel­haft sub­sti­tu­iert. Ja, war­um nicht Stuck­rad-Bar­re hier an­füh­ren, er wird es mir nach­se­hen... Die Selbst­dar­stel­ler sind die ein­zig mög­li­che Ver­kehrs­form in die­ser To­ta­li­sie­rung.
    Mit ih­ren Ver­wei­sen auf die le­ben­di­gen Mi­no­ri­tä­ten kann ich den­noch viel an­fan­gen. Der Tan­go ist wirk­lich wun­der­voll. Die­se Echt­hei­ten wird es wei­ter­hin ge­ben.

  6. Vor­ab: In Ih­rem Text ha­be ich mich sehr an­ge­spro­chen und hei­misch ge­fühlt. Am mei­sten im zwei­ten Teil, weil der so wun­der­bar be­ob­ach­tend, ver­wun­dert, er­staunt über das Bild das sich ihm bie­tet. So kam es je­den­falls an.
    Wenn ich – in Kom­men­tar­spal­ten blogo­sphär lei­der weit ver­brei­tet – ein Haar in der Sup­pe fin­den woll­te, dann al­len­falls, dass Sie mir hier im letz­ten Teil doch ein we­nig zu sehr mit der ge­sell­schafts­kri­ti­sche Abend­land­un­ter­gangs­stim­mung flir­ten, von der Sie sonst zum Glück im­mer so weit ent­fernt wa­ren.
    Selbst als Pro­gram­mie­rer tau­me­le ich nur durch den di­gi­ta­len Wan­del, das Mer­kel­sche Neu­land es ist auch mir wei­test­ge­hend un­ver­ständ­lich, selbst wenn ich weiß wie man ei­nen IP-Hea­der liest oder TCP-Sockets öff­net, ha­be ich seit Twit­ter ir­gend­wie das Ge­fühl ab­ge­hängt, alt zu sein. Und muss doch mei­nem drei­jäh­ri­gen Sohn durch die­sen Me­di­en­dschun­gel ir­gend­wann ei­ne Bre­sche schla­gen, dass er nicht den Über­blick ver­lie­re, wäh­rend ich selbst nicht ein­mal mei­ne You­tube-Ab­hän­gig­keit im Griff ha­be.

    »Der Tan­go ist wirk­lich wun­der­voll. Die­se Echt­hei­ten wird es wei­ter­hin ge­ben.«
    Eben. Ich weiß nicht, ob Ma­jo­ri­tät vs. Mi­no­ri­tä­ten, Schrift- vs. Bild­kul­tur so sehr die Fra­ge ist, weil wir dann die ima­gi­när Wer­tun­gen, emo­tio­nal-me­ta­pho­ri­sche Be­le­gun­gen für die Sei­ten ein­brin­gen – viel­leicht weil wir dies zur Ori­en­tie­rung be­nö­ti­gen. Bei dem »Ver­fall« der Schrift­kul­tur bin ich mir da in mehr­fa­cher Hin­sicht un­si­cher. Zum ei­nen ist das WWW text­li­cher Struk­tur, wie auch die mei­ste Kom­mu­ni­ka­ti­on auf Face­book, Twit­ter oder per SMS – die Quan­ti­tät von Text, die Ju­gend­li­che täg­lich kon­su­mie­ren und pro­du­zie­ren dürf­te deut­lich ge­stie­gen sein. Viel­leicht ist das mei­ste Junk, aber so ist es mit der Li­te­ra­tur doch auch.
    Zum an­de­ren tue ich mich schwer da­mit dem Wort, der text­li­chen Fi­xie­rung un­se­rer Kul­tur, den höch­stens Stel­len­wert ein­zu­ord­nen. Es mag in un­se­rem Kul­tur­kreis, und an­de­ren auch, ei­ne er­erb­te, über die Jahr­hun­der­te fest­ein­ge­schlif­fe­ne Denk­form sein – ja, im An­fang war das Wort – aber ist es nicht manch­mal auch nur ein lee­rer Göt­zen­dienst, net­ter, sinn­lo­ser books­helf porn auf den wir uns et­was zu viel ein­bil­den?
    Ich möch­te den Bo­gen der Kul­tur­kri­tik nicht all­zu niet­zea­nisch über­span­nen, aber al­le Kul­tur hat eben auch ei­ne Zu­rich­tung des Gei­stes auf ge­wis­se, viel­leicht so­gar wi­der­na­tür­li­che Wei­se. Wenn z.B. so gro­ße Area­le un­se­res Ge­hirns auf vi­su­el­le Wahr­neh­mung trai­niert wur­den, war­um sol­len wir es dann so ver­haus­tie­ren, in­dem wir uns krumm nur über die­se Ab­fol­ge der im­mer­glei­chen Sym­bo­le beu­gen? Weil wir das ani­mal sym­bo­li­cum sind? Viel­leicht – aber es gibt, wenn wir Cas­si­rer dann be­mü­hen wol­len, eben ge­nau auch nicht-sprach­li­che oder nich­t/­vor-ra­tio­na­le Sym­bol­wel­ten.

    Von hier könn­te man noch zur Sym­bol­kri­tik Hux­leys sto­ßen und den Lisp-Ma­chi­nen der Fir­ma Sym­bo­lics, aber ’s ist schon ge­nug der Tour de force.
    (Wenn mir ei­ne sehr tan­gen­ti­el­le Fra­ge er­laubt sei: Ha­ben Sie in Ja­pan ei­ne Re­ak­ti­on auf Al­pha-Go wahr­ge­nom­men? Das Lee-Se­dol-Match hat­te Ko­rea und vie­le doch sehr ge­schockt, schien mir, fast wie ein­stens Kas­pa­rov-Deep-Blue.)