Wie kurzweilig und quälend, wie ausufernd und aufputschend, wie fremd und aufwühlend können doch knapp einhundertvierzig Seiten mit einundzwanzig Erzählungen sein. Natürlich gibt es berührende und kitschige, großartige und schematische, gute und weniger gute. Immer erzählt eine Frau oder es wird aus der Sicht einer Frau erzählt; meistens in der Ich-Form. Aber es wandelt sich im Laufe des Buches etwas Grundsätzliches. Nicht nur der zunächst lakonische, ja fast coole Ton. Die Erzählung vom herunterfallenden, auf das Straßenpflaster niederknallende Klavier ist lustig, die Rede an den imaginären Fötus im Mutterleib düster und die Erzählung der selbsterfüllten Mord-Prophezeiung skurril und sie treibt einem den ersten Schauer über den Rücken, aber das war nicht alles. Schon am Anfang heißt es fast programmatisch: Es ist immer noch alles viel grauer, als es sein sollte.
Unmerklich gerät der Leser in diesen Strudel. Es ist kein Roman und dann gibt es doch plötzlich diese Klammer. Dieses gemeinsame Thema. Die Hörigkeit. Die Protagonistinnen können nicht anders. Sie geben sich als Dienerin, Sklavin, Serva hin. Sie erleben das alles nicht, es erlebt sie. Es sind keine Gewaltphantasien mehr, es ist Gewalt. Es sind Träume, die echter sind als die Wirklichkeit.
Erstaunlich, wie diskret das Bizarre erzählt wird; nie vulgär oder obszön. Der Leser wird auch nicht zum Zeugen oder Voyeur degradiert. Durch dieses Taktgefühl gelingt es Barbara Gresslehner, die Innen‑, die Seelenwelt der Figuren besonders hervorzuholen und auszubreiten. Ihre Lust, ihre Verzweiflung. Ihr Streben nach Ausbruch – und ihre Besessenheit, die dies verhindert. Es sind Aufzeichnungen von Niederlagen. Niederlagen, von denen man jede Sekunde, jeden Augenblick fühlt und bevor man wirklich unterliegt, hat man schon viele Male verloren. Und man spürt, dass hier jemand weiss, wovon er erzählt (die Betonung liegt auf »erzählt«).
Eine Figur heisst »O« (ein Name mit einem gewissen Klang in der Szene) und man erfährt: Jede Strafe endet irgendwann; wenn sie sich wehrte, dauerte es nur länger. Irgendwann verschwand der Körper unter dem Schmerz, wurde durchsichtig; wie ein Schemen; danach hatte sie nicht mehr die Kraft, zu knien, den Rücken gerade zu halten, der Kopf zu schwer, alles zu schwer, um etwas anderes zu tun, als zu seinen Füßen zu liegen und zu spüren, wie er mit Blut und einem Finger Muster auf ihre[n] Rücken malte und später legte er sie in die Wanne, heiß auf der Haut und noch heißer in den Wunden, ein Fegefeuer… (Und ihr »Herr« ist lautmalerisch identisch mit einem Pseudonym auf einer durchaus schnell zu findenden, einschlägigen Webseite.)
In der besten Erzählung (»Homesick«) findet sich die Ich-Erzählerin in einer Art Anstalt wieder. Ihre sexuell konnotierte Servilität darf nicht mit mangelndem Selbstbewusstsein verwechselt werden. Ich bin nicht krank, nein, das bin ich nicht. Warum sollte ich krank sein? Ich bin nur ich. Dass man nicht wie jedermann ist, heisst doch nicht, dass man krank ist. Sie erhält Besuch. Von Jan, dem lieben Kerl, der irgendwann entnervt die Türe knallt und nicht mehr wiederkommt. Er versteht sie nicht. Und da ist Tom, der Herrscher, der sich so gut mit ihrer Mutter verstand, aber ein Gewitter über mich hereinbrechen lassen konnte, die Blitzeinschläge blau und grün, und mich einen Tag darauf anschauen und es war alles gut und Tom schlägt nie die Tür hinter sich zu.
Unfassbar die Einblicke in diese Frau, diese schiere Verzweiflung, als Tom nicht mehr kommt: Er hat mich angesehen und gelächelt, er sagte, dass ich zu instabil sei, zu verletzbar, dass er eine Frau bräuchte, die stärker ist, die ihm in die Augen sehen kann. Ich habe nichts gesagt oder getan, ich senkte nur den Blick. Und seitdem lebe ich nicht mehr wirklich, ich bin nur noch blass und ganz am Rande hier, sogar meine Haut wird durchscheinend… Und was ist das jetzt? Eine veritable Depression? Oder Paranoia? Der Leser ist unschlüssig, ja: gespalten; fast geht es ihm (freilich auf einer anderen Ebene) wie der Protagonistin.
Alle Beziehungen zwischen Sklavin und Herr in diesen Erzählungen sind oder waren gescheitert. Es sind Rekurse und Erinnerungen auf die Vergangenheit, (nicht abgeschickte) Briefe an den Verflossenen oder Selbstgeißelungen. In »Das Luftfenster« braucht es nur noch ein imaginäres Gegenüber: Edelstahl mit kunststoffüberzogenen Spitzen, deren Muster sich schon bald auf jeder beliebigen Stelle meines Körpers wiederfinden wird. Ich entscheide, wo. (sic!) Sorgfältig einstudierte Handgriffe, konzentriert und mit Hingabe ausgeführt: Ich fasse etwas Haut an den Innenseiten meiner Oberschenkel zwischen Daumen und Zeigefinger, befestige auch daran Klemmen; sie schmerzen sofort dank der zusammengepressten Beine. Die Seiten meines Bauches sind ebenso empfindlich, blaue Flecken vom letzten Mal sind noch zu sehen. Wenn mein Körper sich zwischen Boden und Fesseln spannt, werden sie empfindlich schmerzen. Sie sind mein Eingang, meine Luftpforte. Und schließlich reicht ein Griff zur von der Decke baumelnden Kette um diese zu fassen und das Schloß um meine Handfesseln zu legen, es rastet ein, mit ihm die Zeitschaltuhr. Luftfensterzeit.
Es gibt Momente in diesem Buch, in denen meisterlich zwischen der hörigen Fixierung auf eine Person und Residuen eines Selbstbehauptungswillens changiert wird und alles möglich erscheint. Dabei wird Gresslehner nie moralisch; es gibt keine Wertung, es gibt kein richtig und falsch. Ihre Figuren sind keine Außenstehenden, keine Betrachterinnen mit der Möglichkeit, jederzeit auszusteigen. Es handelt sich nicht um gelangweilte Mittelstandsgattinnen, die ihre »Grenzerfahrungen« machen möchten, um danach ins warme Wohnzimmer zurückkehren zu können. Grasslehners Figuren sind in der »Szene« eingetaucht, erkennen sich an einem bestimmten Ring, werfen sich geheimbündlerische Blicke zu. Und selbst wenn eine Figur, wie in »Incognito«, in einem Café auf eine Internetbekanntschaft wartet und sich mit simulierten Zynismen die Zeit verkürzt, ist sie dennoch immer eine potentielle Serva.
Ist diese monothematische Massierung nicht ein Nachteil? Besteht nicht die Gefahr dass der Leser mit der Zeit abstumpft oder sich zum Selbstschutz den Mantel der Gleichgültigkeit überzieht? Und tatsächlich ahnt man gegen Ende manchmal zu schnell, worauf es hinausläuft. Nicht nur deshalb wäre ein nochmaliges sorgfältiges Lektorat durchaus sinnvoll. Dennoch gelingen eindrucksvolle, expressive, erschreckende und verstörende Passagen, in denen ein großes Talent aufblitzt und eine fast klaustrophobische Intensität erzeugt wird. Etwa wenn Stille zur Angst wird; zu wattige[n] Blätter[n]. Da muss man das Buch weglegen, kann nicht weiterlesen.
Aber auch das hält man nicht lange aus. Und dann nimmt man wieder die Lektüre auf. Seltsam, wie dann das Martyrium der Figuren eine Art Lektüre-Martyrium wird. Zugegeben, etwas Seltenes und fast unzumutbar Erscheinendes in einer Welt des sich zumeist selbstfeiernden Schickeria-Feuilletons, welches Bücher wie dieses mit der schlimmsten (und leider wirkungsvollsten) ihrer möglichen Reaktionen versieht: der Ignoranz. Sie überlassen die Entdeckungen lieber den wahren Lesern. Denn »viele Bücher, die ihre entscheidende literarische Prägung noch nicht empfangen haben, müssen erscheinen, um einen jungen Autor zu fördern und die Bahn frei zu machen für das nachfolgende reife Werk.« (Samuel Fischer; zitiert gemäss »S. Fischer – Der Verleger« von Barbara Hoffmeister.)
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
@Gregor Keuschnig
Werde mir dieses Buch zukommen lassen und bin gespannt auf das Innenleben. LG
Stilistik im Wandel der Zeit
Es ist schon sehr interessant, dass moderne Autoren sich mehr und mehr über einstige Tabus der vergangenen Jahrhunderte hinwegsetzen können. Das bezieht sich vor allem auf die Sexualität.
Naja, die Tabus in der Sexualität sind spätestens in der Moderne »gefallen«; die Methoden der Enthemmung sind allerdings durchaus radikaler geworden. Literatur reflektiert ja immer auf ihre Zeit.
Es gab allerdings immer wieder Ausreisser. Man denke z. B. an Boccaccios Decamerone.
Leider habe ich etwa die erste Hälfte des Buchs in schlechter Leseumgebung »genossen«, und war relativ unkonzentriert, was mir im Nachhinein leid tut – vielleicht lese ich die eine oder andere Erzählung noch einmal.
In Summe ging es mir ähnlich: Manchmal staunt man einfach nur, dann denkt man sich wieder, dass man das selbst auch kann (stimmt natürlich nicht), und irgendwann beginnt man die (mono)thematische Überraschung zu ahnen.
Weil Du kitschig schriebst, welche Geschichte(n) hast Du da im Auge?
Und dann ist da eine Stelle in »Like you used to« (S 117/118), auf die ich mir keinen Reim machen kann (vorletzter Absatz): An diesem zweiten [...] Ich war nicht bei ihm. und im ersten Absatz der folgenden Seite passiert dann genau das [...] und als wir später zu ihm gingen [...]. Ich wüsste nicht wer sonst gemeint sein könnte, als derjenige von dem gerade die Rede ist, und kann mir den Widerspruch auch nicht anders erklären – hast Du da eine Idee?
Schon wieder eine sehr schöne Rückantwort
Kitschig empfand ich vielleicht weniger einzelne Geschichten, als manches Bild, wobei es durchaus innerhalb der Erzählungen wechselte: Mal gab es sehr starke Bilder, dann wieder welche, die überhaupt nicht stimmten. Ein bisschen kitschig fand ich »Die Wortgräberin« und auch vorher »Das Klavier«. Manche Szenen fand ich ein bisschen prätentiös.
Zu der von Dir zitierten Stelle – ich weiss es auch nicht. Evtl. ist es ein Fehler. Obwohl die Erzählerin ja von mehreren Männern spricht, die sie kennengelernt hat und die ganze Geschichte ja auch einem Mann erzählt zu werden scheint. Dann müsste da freilich stehen »Ich war nicht bei Dir«.
Man könnte natürlich auf die Idee kommen, die Formulierung einmal rein formal als örtliche Bestimmung zu lesen (also sie war nicht bei ihm – in der Wohnung), andererseits dann als sinnliche Beschreibung (sie war bei ihm – bspw. im Sexualakt).
Mich würde jetzt interessieren, was Du als schlechte Leseumgebung bezeichnest (ich gehe in Vorlage: Für mich ist zum Beispiel die U‑Bahn eine schlechte Leseumgebung; generell Räume mit vielen Menschen. In einem Café kann ich höchstens Zeitungen lesen).
Schon wieder eine erstaunliche Besprechung
Du hast einen sehr schönen Bogen mit und um die Erzählungen gewoben, und ich dachte ein paar Mal, worüber ich doch hinweg gelesen habe...
Ja, das stimmt, manche Bilder waren schief. Vielleicht mit ein Grund warum ich nach dem Lesen der ersten Geschichte lange gebraucht habe, um das Buch wieder in die Hand zu nehmen (Schmelzpunkt des menschlichen Gehirns).
Und auch wenn sich der Verlag auf seiner Seite rühmt noch zu lektorieren, ein paar Kleinigkeiten waren doch dabei – nicht schlimm, aber aufgefallen sind sie.
Zur Nichtörtlichkeit: Ja, andererseits steht im Absatz darüber: Mein Kopf war voll von ihm, von dem, was er zu mir gesagt [...]. Es könnt auch eine Beruhigung des »Du« sein, aber dafür ist sie zu missverständlich (wenn man es aus der fiktionalen Situation betrachtet). Aber es wäre möglich (wie der von Dir angesprochene sexuelle Bezug).
Es ist bei mir ähnlich, daher lese ich in öffentlichen Verkehrsmitteln nur mehr Zeitung. Im konkreten Fall war es aber anders: Ich habe mir vor etwa drei Wochen meinen Finger gebrochen, den musste man dann doch (auf Grund der Röntgenaufnahme meinte man nein, nach der Computertomographie entschied man anders) operieren, und ich habe zwei Nächte im Krankenhaus verbracht. Zimmerkollegen, Fernseher (zwar leise) und die generelle Situation waren meiner, ohnehin sehr störungsanfälligen, Konzentration sehr abträglich. Die Zeitung war zu Ende, fernsehen wollte ich nicht, und sich den ganzen Tag unterhalten geht auch nicht...
Völlig OT
Heisser Tip bei solchen Örtlichkeiten: Podcasts von Radiosendungen hören. Qualitätsprogramme gibt’s bei Euch bestimmt auch; ich weiss nicht, inwiefern Du deutsche Podcasts bspw. von DRA, DLR Kultur, HR2 und SWR2 »bekommst«.
Ja, das wäre gegangen. Allerdings habe ich mir das Radiohören völlig abgewöhnt, was mir eigentlich leid tut, und es wäre in der Tat eine Möglichkeit gewesen (zumal ich sogar darauf hingewiesen wurde).
Was ich noch anhängen wollte: Der Klappentext trifft einmal mit Poesie ins Schwarze und dann mit »Wortgewalt« völlig daneben (dafür sind die Erzählungen zu intim).
Es ist ja im klassischen Sinne kein Radiohören. Man lädt sich die Sendungen herunter und hört sie dann konzentriert und vor allem, wann man möchte. Im Vergleich zu Fernsehsendungen schneiden Radioproduktionen meiner Erfahrung nach meist Klassen besser ab. Es gibt – besonders bei Gesprächssendungen – sehr viel weniger Eitelkeiten und mehr Sachbezüge. Und vor allem mehr Zeit, Argumente zu formulieren und auszutauschen.
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Ja, Klappentexte... »Poesie« ist auch so ein schwammiger Begriff, den man mit Vorsicht verwenden sollte.
Muss ich ausprobieren, hört sich aber vielversprechend an. Wohl eine Richtung die sich noch weiter entwickeln wird, auch was Fernsehsendungen betrifft. Letztere müssen etwas Bildhaftes bieten, das m.E. aber für die Sache oft nicht entscheidend ist, da sind Gespräche im Vorteil, weil sie nicht in Versuchung geraten, bzw. zur Fokussierung gezwungen sind.
Nochmal OT
Vernüftige MP3-Player gibt’s schon ab 30–40 Euro. Muss ja kein Ei-Pott sein.
Wenn ich mir nur nicht beim Anblick all der verkabelten Menschen dächte: Bloß nicht!
Aber es ist eine Überlegung wert, ja.
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Etwas anderes, in eigenem Interesse: Meinst Du wäre es sinnvoll, bzw. möglich den Menüpunkt »Literatur« mit zwei Unterkategorien »Romane« und »Erzählungen« zu versehen? Dann wäre es etwas praktikabler Dein Archiv zu durchstöbern...
Unterkategorien
sind hier (twoday) leider nicht möglich. Im gewünschten Fall hielte ich es auch nicht für hilfreich. Mancher »Kurzroman« könnte auch als Erzählung »durchgehen«. Wo bliebe die Novelle? Was, wenn sich ein Autor weigert, seine langen Erzählungen Romane zu nennen?
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Ja, die verkabelten Menschen. Ich musste mich auch erst überwinden. Die Alternative ist allzu häufig, das Gewummere aus den Musikkisten der anderen mitzubekommen. Die Abschottung der anderen verlangt die eigene Absonderung. Wenn es denn sein muss, dann eben so. Habe ich für mich entschieden.