Andere Werke Bernhards kommen meist nur vor, um Querverweise oder Parallelen aufzuzeigen. Nach einer jeweils kurzen Einführung ist den Kapiteln eine umfangreiche Bibliografie vorangestellt, was in Anbetracht der Tatsache, dass es am Ende noch einmal eine 30seitige Gesamtbibliografie gibt, ein bisschen redundant anmutet. In den dann folgenden Texten fächert Judex literaturwissenschaftliche Deutungen auf, die sich zum Teil (naturgemäß!) durchaus widersprechen. Dieses Verfahren verschafft einen Überblick über die Variationen der Rezeption des jeweiligen Werkstücks. Manchmal dreht das Auslegungskarussell derart schnell, dass dem Leser ein bisschen schwindlig werden kann. Und bisweilen entsteht eine gewisse unfreiwillige Komik, die in der Gegenüberstellung der divergierenden Interpretationen liegt. Da wird dann der Theatermacher Bruscon zunächst als satirische Karikatur des Theaterbetriebs sowie der Gesellschaft ausgemacht, um kurz darauf in einer anderen Auslegung als größenwahnsinnige und lächerliche Figur gesehen zu werden. Oder wenn die Überlassung der Villa Wolfsegg durch den Protagonisten in »Die Auslöschung« an eine jüdische Organisation als eine »Verhöhnung der jüdischen Opfer« interpretiert wird. Auch der Versuch, Bernhards komplexes Dramenwerk zu strukturieren, schlägt fehl. Nachdem zwei Grundformen ausgewiesen werden (Künstler- oder Beziehungsdrama) entdeckt man nur wenig später Ausnahmen bzw. Überschneidungen, die den potentiellen Neuleser mehr verwirren als aufklären. Zu disparat sind diese oft in großem Furor (und Eile) geschriebenen Stücke.
Auch wenn sich Judex zumeist eines eigenen, dezidierten Urteils enthält, ist an der Gewichtung der ausgesuchten Reaktionen eine Tendenz zu erkennen. So zitiert er ausgiebig Wendelin Schmidt-Dengler und Hans Höller (beides ausgewiesene Kenner) – andere Exegeten dagegen sehr viel weniger. Dennoch birgt dieses Verfahren auch Gefahren. Etwa wenn er mit vielen, unterschiedlichen Verweisen belegen möchte, dass die »Auslöschung« Bernhards Opus Magnum sein soll oder »Heldenplatz« als einen der Schlüsseltexte der österreichischen Literatur nach 1945 markiert. So, als würde die »Mehrheit« der übereinstimmenden Meinungen für deren Richtigkeit zeugen. Manche Thesen werden etwas forsch vertreten, etwa wenn auf Bernhards vermutete Homosexualität hingewiesen wird (der Verweis in diesem Zusammenhang auf Honegger unterbleibt allerdings). Auch auf eine komparative Auseinandersetzung zwischen Spät- und Frühwerk verzichtet Judex weitgehend (vielleicht, weil auch diese Differenzierung ein wenig künstlich daherkommt). Hier ist es von Nachteil, dass die einzelnen Schaffensperioden fast hermetisch-deskriptiv behandelt bzw. nur einzelne Motive als Entwicklungen fortgeschrieben werden. Da genügt es nicht alleine, die Veränderung der Erzählperspektive in Bernhards Prosa herauszustellen.
Judex zeigt, dass Bernhards autobiografische Pentalogie um mindestens drei zusätzliche Bücher erweitert werden kann (»Ja«, »Die Billigesser«, und natürlich vor allem »Wittgensteins Neffe«) und fügt noch kühn »Der Untergeher« und »Holzfällen« hinzu. Sehr schön wie herausgearbeitet wird, dass diese Bücher nicht als »authentische« Lebensschilderung aufgefasst werden dürfen, sondern durch eine Art Filter, der durch den zeitlichen Abstand des Erlebten zur Gegenwart entstanden ist, als erzählte Wirklichkeit betrachtet werden müssen. Auch in Bezug auf andere Verweise hat Judex berechtigterweise ziemlichen Respekt vor der Autobiographiefalle. Gelungen ist es auch, den Leser sanft auf eher schwierig zu findende Motive Bernhards hinzuweisen wie beispielsweise das nicht nur im Frühwerk immer wiederkehrende Baumotiv, die Musikalität der Prosa oder die sogenannte »Kleiderthematik«.
Es muss kein Fehler sein, dass die Ende vergangenen Jahres publizierte Korrespondenz Bernhards mit Siegfried Unseld nicht mehr verarbeitet wurde. Das Buch verschafft dennoch einen hervorragenden Überblick über die Bernhard-Rezeption. Es ist sehr gut lesbar, was hauptsächlich daran liegt, dass der Autor auf ärgerliche Germanisten-Floskeln weitgehend verzichtet hat (lediglich die in Klammern gesetzten Quellenangaben stören gelegentlich ein bisschen den Lesefluss). Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung solcher Arbeiten muss darin liegen, ob ein potentieller Leser danach überhaupt noch Lust hat, sich mit den Primärtexten zu befassen. Dies muss in diesem Fall eindeutig bejaht werden. Und man fragt sich, ob nicht bald wieder mal Zeit für »Frost« ist.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.