Wieder eine kleine Eruption in der Literaturkritik. Der von mir geschätzte Carsten Otte hat ein Gedicht von Till Lindemann, dem Sänger der von mir nicht geschätzten Band »Rammstein«, rezensiert. Ihm gefallen die Vergewaltigungsträumereien des lyrischen Ich nicht. Die Wellen schlagen hoch; die Kunstfreiheit wird beschworen und die Hohepriester der Fraktion »Betreutes Lesen« meldeten sich auch schon aus ihren Plüschsesseln. In der Diskussion geht Ottes Idee unter: Warum beschweren sich jetzt nicht all die Feminismusapologeten? Wo sind die äquivalenten Protestierer von Kiepenheuer und Witsch, Lindemanns Verlag, die noch vor Wochen bei Rowohlt die deutsche Ausgabe der Autobiographie von Woody Allen verhindern wollten? (Otte hatte dem Ansinnen der Protestler damals vehement widersprochen.) Herr Lobo hätte sehr wohl dabei sein können, denn sein aktuelles Buch war ja nicht bei Rowohlt, sondern bei Kiepenheuer erschienen. Was sagt eigentlich eine Sibylle Berg dazu, die doch sonst auch immer sofort mit ihrer Meinung spazieren geht? Und vor allem die Literaturexegetin und Spargelexpertin Stokowski? Schweigen. Warum wohl.
Die Frage ist nämlich nicht, ob Lindemann ein (schlechtes) Gedicht mit womöglich perversen Phantasien veröffentlichen darf, sondern nach welchen Kriterien diese Publikation nicht skandalisiert sondern als »Kunst« betrachtet wird, während anderes von moralinsauren Möchtegernsaubermännern und –frauen verbannt wird. Entscheidend ist heutzutage, WER dieses Gedicht, dieses Buch, was auch immer, geschrieben hat. Ist es eine Person, die in der Kulturblase positiv besetzt ist oder nicht? Die Trennung von Autor und Werk geht endgültig – für viele: endlich! – verloren: Das Werk wird stets nach der Herdenmeinung zum Autor beurteilt werden. Ist er ein »Guter« oder ein »Böser«? Danach richtet sich dann das Urteil über das jeweilige Werk. Alles andere wird irrelevant.
Wohin dies führt, dürfte klar sein.
Julia Encke greift in der FAS die inflationäre Corona-Tagebuch-Literatur im Netz an (55 cent bei Blendle). Sie spricht von »Poesiealbumhaftes«. Und »…die Leere, das macht der Schriftsteller klar, darf nicht leer sein, sie muss mit Sinn erfüllt werden. Die Isolation zu Hause soll kein bloßes Warten bleiben, sie wird zur Chance auf Erneuerung stilisiert.« Weiter: »Wenn man morgens das Mobiltelefon einschaltet (falls man es nachts überhaupt ausgeschaltet hat), kommt einem die neue Zuversichtsprosa von überall entgegen; der Krise muss einfach unbedingt etwas abzugewinnen sein. Die wortreich beschworene Erneuerung bleibt aber meistens nur auf Kalenderspruch-Niveau. Sie ist kein gewagter gedanklicher Entwurf, sondern vor allem ästhetische Entgleisung.« Kein gutes Haar lässt sie an Igor Levit oder Carolin Emcke; die Corona-Tagebücher kuratiert von Klaus Kastberger kommen noch milde davon.
Grundsätzlich finde ich ihre Vorwürfe zutreffend. Besonders schlimm wird es, wenn noch eine Jeremiaden-Ästhetik mit Bettelprosa dazugebastelt wird. Noch schlimmer, und das schreibt Encke, das Erneuerungskitschgerede.
Der Grund für die Unlesbarkeit und Stilblütenhaftigkeit so mancher Schreiber liegt darin, dass man offensichtlich im Auge des Tornado nicht gut sehen kann. Alltagsschilderungen gehen gerade noch, aber die Überhöhung des Geschehenen muss misslingen, weil man zeitlich zu stark an die Gegenwart gefesselt ist. Daher muss der Zustand irgendwie metaphysisch überhöht werden.
Das, was sich derzeit ereignet, ist im Detail ja recht ereignisarm. Von denen, die da schreiben, ist scheinbar niemand infiziert oder direkt von einem Todesfall betroffen. Die Probleme der meisten Schriftsteller, die sich hier äußern, sind fast ausnahmslos materieller Art. Ihre Erlebnisse sind daher übersichtlich und von einer relativen Belanglosigkeit. Der Leser kann keine Entdeckungen machen: das Toilettenpapier fehlt jedem. Aber mehr auch nicht. Da sind Videos vom Maskennähen wichtiger. Und Twitter-Threads von Alleinerziehenden, die mit Kindern im Home Office arbeiten und ihren Tagesablauf schildern interessanter. Die haben etwas zu erzählen.
(Und ja, auch ich habe eigentlich nichts zu erzählen.)
Vielen Dank für den Hinweis auf Enckes Artikel – den ich übersehen hatte. Intuitiv hätte ich das Kritisierte allerdings sowieso nicht gelesen.
Emckes und Livits Texte kannte ich auch nicht; ich würde nie auf die Idee kommen, dass diese Personen etwas zu sagen haben, das mich interessieren könnte. Die Autorin hätte noch auf andere Texte im Netz eingehen können, aber de waren ihr wohl nicht prominent genug. Wie immer.
Solange man es nicht für Literatur hält, dürfen alle veröffentlichen, was sie wollen, finde ich. Dieses Bedürfnis nach Sinngebung ist aber wirklich ätzend.
Naja, man neigt dazu Texte von Schriftstellern per se für Literatur zu halten. Vielleicht ist das ein Fehler.
Die Gedichte von TR sind biederes Gereime, wie aus längst vergangnen Zeiten, Ludwig Uhland schau oba. Dazu eigenbaute Provokationsautomatik. Zu verbieten ist das nicht, verlegt wird es von ernsthaften Verlegern wohl nur aus Profitinteresse.
Wirklich arg war und ist die die Vernichtungskampagne gegen Woody Allen, einen Künstler, der diese Bezeichnung zweifellos verdient, und der sich nichts zuschulden hat kommen lassen.
Der Unterschied zwischen Allen und Lindemann ist doch der, dass Allen im echten Leben Missbrauch – dazu pädophiler – vorgeworfen wird, während Lindemann sein lyrisches Alter ego von Vergewaltigung nur phantasieren lässt. Sodass mir beides nicht vergleichbar scheint. Das heisst nicht, dass ich die Aktion der Rowohlt-Autoren unterstützen würde, im Gegenteil, ich fand diese Aktion bescheuert und bigott. Lindemann, den ollen Verseschmied: sollte man einfach ignorieren. Das hier inkriminierte Gedicht ist kalkulierte Provokation; wer sich davon moralisch erregen lässt, ist in die Falle getappt. Ein Literaturkritiker sollte sich allenfalls ästhetisch erregen: Was ich von Lindemanns Gedichten aufgeschnappt habe, ist einfach stümperhaft. Das würde doch ohne den Namen Lindemann kein Verleger drucken.
@Christian Backes
Sie haben Recht. Der Vergleich ist nicht ganz treffend. Man sollte eher das Gomringer-Gedicht heranziehen.
Es geht aber – so, wie ich das verstehe – darum, das feuilletonistische Protestvolumen auszuloten: Wann wird »protestiert« und wann nicht. Wann springen die üblichen Protagonisten der »Betreutes-Lesen«-Fraktion an und wann schweigen sie.
Am Rande ist dabei erstaunlich, dass sich besonders viele Literatur»skandale« dieser Art aufgrund von Gedichten ereignen (Grass’ Israel-Gedicht; Gomringer; Böhmermann; Lindemann). Obwohl Lyrik in der Rezeption der Literaturkritik eher eine untergeordnete Rolle spielt. Meine These geht dahin, dass Pöbeleien oder Skandalone sehr gerne als Gedichte apostrophiert werden, um sie gegen Kritik zu immunisieren.
@Gregor Keuschnig
Wie Sie richtig schreiben, wird Lyrik nur noch sehr selten in den grossen Zeitungen und Rundfunkanstalten besprochen. Umso ärgerlicher, wenn der Platz dann für Lindemann vetgeudet wird. Ich wette: Besprechung von Fabjan Hafners Gedichten wird man in den grossen Medien, wenn überhaupt, nur vereinzelt finden.
Und ich stimme zu: Die »Betreutes Lesen«-Fraktion geht höchst selektiv vor. Eine irgendwie konsistente Moral kann ich da nicht ausmachen. Es soll wohl dem »alten weissen Mann« an den Kragen, einer toxischen Männlichkeit. Hat man diese Figur nicht auch bei Gomringer bemüht? Bei Allen hat man’s – wobei Allens Filme ja gerade die Unsicherheit moderner Männlichkeit verhandeln. Während Lindemann wiederum wie einem Freikorps-Text von Klaus Theweleit entsprungen scheint.
Abgesehen davon habe ich den Eindruck, dass moralische Entrüstung auch der Selbstvermarktung und ‑darstellung dient. Dieses Phänomen – moralische Entrüstung auszustellen – ist mir ehrlich gesagt noch nicht ganz erklärlich. Ein Ansatz: Man wähnt sich auf der sicheren Seite. Man muss sich auch nicht näher mit der Sache befassen – ein moralisches Urteil ist schnell zur Hand.
Genazino, der Schriftsteller, sagte mal,seine Figuren (oder auch er selbst?) würden auch das Absurde (und ich finde Corona ist was Absurdes) sehen, aber um davon nicht umgeworfen zu werden oder depressiv zu werden, »schlagen sie zurück« (meine Formulierung) und versuchen, dem Absurden einen Sinn zu geben. Erinnert mich an den angeblich glücklichen Menschen, der den Stein wie auch immer in die Gegenrichtigung bewegt .
Wenn ich mich recht erinnere, wurde vor etlichen Jahren auf einer österreichischen Bühne »Tötet Schüssel« gerufen (damaliger Bundeskanzler). Angeschlossen hat sich ebenfalls eine Diskussion über die Freiheit der Kunst.
@Christian Backes
Zur moralischen Entrüstung gibt es dort eine – tatsächlich nur eine – Nebenbemerkung von mir.